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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Vakchen und Thyrsosträger.
August Niemann ( Roman von Gotha).

Das Recht der Übersetzung borde-
Nachdruck "erboten.
(Forest'tzunq.)

hristns sagt, fuhr der Jüngling fort, daß es besser sei, Unrecht
zu leiden als Unrecht zu thun, und die Leute Plappern es zwar
nach, aber sind ganz anderer Meinung. Ein Jeder will lieber
den Nächsten übervorteilen als sich von ihm übervorteilen lassen,
nur sieht mau el", daß das Unrechtleidcn ein noch größeres
Übel ist als das Unrcchtthuu el" Gut ist. Denn im Naturzustande freilich thun
die Menschen einander Unrecht, und erleiden es von einander, die Kultur aber
besteht darin, daß man einsieht, es sei vorteilhafter sich dahin zu vertragen, daß
man weder Unrecht thue noch leide. So entstanden die Gesetze, und nun nennt
man das vom Gesetz gebotene das Gerechte. So hält also die Gerechtigkeit die
Mitte zwischen dem größtem Guten, nämlich dem straflosen Unrechtthun, und
dem größtem Übel, nämlich der Unfähigkeit, sich vor Unrecht zu schützen, aber
beliebt ist die Gerechtigkeit nur bei denen, die zum Unrechtthun zu schwach siud.
Denn wer es vermag, sich über die Gesetze hinwegzusetzen und seinen Willen zum
Gesetz zu machen, der thut es und ist, wie Onkel Balduin richtig sagt, ein großer
und gefeierter Mann. Daß aber auch diejenige!? Menschen, welche wirklich tugend¬
haft leben, es gegen ihre Neigung thun, das kann mau leicht einsehen. Denke
dir nur, d" nahmest einen Gerechten und einen Ungerechten und schicktest beide
in die Welt, ausgestattet mit aller Freiheit und Macht, zu thun, was sie wollten.
Da würdest du bald den Gerechten ertappen, wie er es gerade so macht wie
der Ungerechte, nämlich alles nach seinem Vorteil lenkt. Erinnerst dn dich der
Geschichte vom Ringe, des Gyges? Ein Hirt im Dienste des Herrschers
von Lydien entdeckt, wie er seine Heerde weidet, einen Riß in der Erde, der
durch Erdbeben und Wolkenbruch entstanden ist. Neugierig steigt er hinein und
sieht viel Wunderbares und darunter auch ein großes ehernes Roß, mit Thüren
versehen. Er guckt hinein und sieht einen Leichnam darin sitzen, von übermensch¬
licher Größe, der einen goldnen Ring am Finger hat. Der Hirt nimmt den




Vakchen und Thyrsosträger.
August Niemann ( Roman von Gotha).

Das Recht der Übersetzung borde-
Nachdruck »erboten.
(Forest'tzunq.)

hristns sagt, fuhr der Jüngling fort, daß es besser sei, Unrecht
zu leiden als Unrecht zu thun, und die Leute Plappern es zwar
nach, aber sind ganz anderer Meinung. Ein Jeder will lieber
den Nächsten übervorteilen als sich von ihm übervorteilen lassen,
nur sieht mau el», daß das Unrechtleidcn ein noch größeres
Übel ist als das Unrcchtthuu el» Gut ist. Denn im Naturzustande freilich thun
die Menschen einander Unrecht, und erleiden es von einander, die Kultur aber
besteht darin, daß man einsieht, es sei vorteilhafter sich dahin zu vertragen, daß
man weder Unrecht thue noch leide. So entstanden die Gesetze, und nun nennt
man das vom Gesetz gebotene das Gerechte. So hält also die Gerechtigkeit die
Mitte zwischen dem größtem Guten, nämlich dem straflosen Unrechtthun, und
dem größtem Übel, nämlich der Unfähigkeit, sich vor Unrecht zu schützen, aber
beliebt ist die Gerechtigkeit nur bei denen, die zum Unrechtthun zu schwach siud.
Denn wer es vermag, sich über die Gesetze hinwegzusetzen und seinen Willen zum
Gesetz zu machen, der thut es und ist, wie Onkel Balduin richtig sagt, ein großer
und gefeierter Mann. Daß aber auch diejenige!? Menschen, welche wirklich tugend¬
haft leben, es gegen ihre Neigung thun, das kann mau leicht einsehen. Denke
dir nur, d» nahmest einen Gerechten und einen Ungerechten und schicktest beide
in die Welt, ausgestattet mit aller Freiheit und Macht, zu thun, was sie wollten.
Da würdest du bald den Gerechten ertappen, wie er es gerade so macht wie
der Ungerechte, nämlich alles nach seinem Vorteil lenkt. Erinnerst dn dich der
Geschichte vom Ringe, des Gyges? Ein Hirt im Dienste des Herrschers
von Lydien entdeckt, wie er seine Heerde weidet, einen Riß in der Erde, der
durch Erdbeben und Wolkenbruch entstanden ist. Neugierig steigt er hinein und
sieht viel Wunderbares und darunter auch ein großes ehernes Roß, mit Thüren
versehen. Er guckt hinein und sieht einen Leichnam darin sitzen, von übermensch¬
licher Größe, der einen goldnen Ring am Finger hat. Der Hirt nimmt den


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[0195] [Abbildung] Vakchen und Thyrsosträger. August Niemann ( Roman von Gotha). Das Recht der Übersetzung borde- Nachdruck »erboten. (Forest'tzunq.) hristns sagt, fuhr der Jüngling fort, daß es besser sei, Unrecht zu leiden als Unrecht zu thun, und die Leute Plappern es zwar nach, aber sind ganz anderer Meinung. Ein Jeder will lieber den Nächsten übervorteilen als sich von ihm übervorteilen lassen, nur sieht mau el», daß das Unrechtleidcn ein noch größeres Übel ist als das Unrcchtthuu el» Gut ist. Denn im Naturzustande freilich thun die Menschen einander Unrecht, und erleiden es von einander, die Kultur aber besteht darin, daß man einsieht, es sei vorteilhafter sich dahin zu vertragen, daß man weder Unrecht thue noch leide. So entstanden die Gesetze, und nun nennt man das vom Gesetz gebotene das Gerechte. So hält also die Gerechtigkeit die Mitte zwischen dem größtem Guten, nämlich dem straflosen Unrechtthun, und dem größtem Übel, nämlich der Unfähigkeit, sich vor Unrecht zu schützen, aber beliebt ist die Gerechtigkeit nur bei denen, die zum Unrechtthun zu schwach siud. Denn wer es vermag, sich über die Gesetze hinwegzusetzen und seinen Willen zum Gesetz zu machen, der thut es und ist, wie Onkel Balduin richtig sagt, ein großer und gefeierter Mann. Daß aber auch diejenige!? Menschen, welche wirklich tugend¬ haft leben, es gegen ihre Neigung thun, das kann mau leicht einsehen. Denke dir nur, d» nahmest einen Gerechten und einen Ungerechten und schicktest beide in die Welt, ausgestattet mit aller Freiheit und Macht, zu thun, was sie wollten. Da würdest du bald den Gerechten ertappen, wie er es gerade so macht wie der Ungerechte, nämlich alles nach seinem Vorteil lenkt. Erinnerst dn dich der Geschichte vom Ringe, des Gyges? Ein Hirt im Dienste des Herrschers von Lydien entdeckt, wie er seine Heerde weidet, einen Riß in der Erde, der durch Erdbeben und Wolkenbruch entstanden ist. Neugierig steigt er hinein und sieht viel Wunderbares und darunter auch ein großes ehernes Roß, mit Thüren versehen. Er guckt hinein und sieht einen Leichnam darin sitzen, von übermensch¬ licher Größe, der einen goldnen Ring am Finger hat. Der Hirt nimmt den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/195>, abgerufen am 17.06.2024.