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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Lakchen und Thyrsosträger.

Ring, steckt ihn ein seine eigne Hand und geht wieder fort. Als nun die nächste
Zusammenkunft der Hirten ist, die dem König ihren Bericht erstatte", ist auch
unser Hirt mit dem Ringe dabei, und unabsichtlich dreht er im Gespräch mit
den andern den Ningkasten nach dem Innern der Hand zu. Da bemerkt er zu
seinem Erstaunen, daß die andern Hirten ihn nicht mehr sehen, denn sie blicken
sich um und fragen, wohin er gegangen sein möge. Der Hirt wundert sich, dreht
den Ningkasten wieder und bemerkt, daß er wieder sichtbar geworden ist. So
findet er denn, daß dem Ringe die Kraft innewohnt, den, der ihn trägt, nach
Belieben unsichtbar und wieder sichtbar zu macheu. Als der Hirt Gyges nun
diese Entdeckung gemacht hat, da bringt er es dahin, daß er mit zu denen ge¬
hört, die an den König abgesandt werden, und als er an den Hof kommt, da
verführt er die Königin, stellt mit ihr zusammen dem König nach, ermordet ihn
und bemächtigt sich der Herrschaft. Nun möchte ich wohl zwei solcher Ringe
haben und einen dem Gerechten, den andern dem Ungerechten anstecken. Was
thäten sie wohl? Ich glaube nicht, daß der Gerechte, wenn er wüßte, er könnte
ohne Scheu in jedes Haus, in jedes Zimmer, Kaufgewölbe und an jeden Geld¬
schrank gehen und überhaupt wie ein Gott unter den Menschen wandeln -- ich
glaube nicht, daß er dann von so eiserner Festigkeit bliebe. Ich denke, er würde
es gerade so machen wie der Ungerechte und Geld nehmen, wenn er es nötig
hätte, seinen Freunden gute Dienste erweisen, seinen Feinden Schaden zufügen,
seiner Eitelkeit Genüge thun und überhaupt seinen Neigungen folge", nicht aber
den zehn Geboten. Deshalb, scheint mir auch, heißt die Bitte im Vaterunser:
Führe mich nicht in Versuchung, nichts andres als: Laß mich nicht sehen, wer
ich bin. Auch würde ein Mensch, der mit dem Ringe des Gyges a" der Hemd
kein Unrecht thäte, sonder" sich im Gegenteil alles ebenso gefallen ließe, wie ein
andrer sich gefallen lassen muß


Der Zeiten Spott und Geißel,
Des Mttchtgen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,

-- es würde ein solcher Mensch von allen, die es sähen, für höchst unverständig
und unglücklich gehalten werden, obwohl sie ihn natürlich einander gegenüber
loben und in der Öffentlichkeit als tugendhaft und von echt christlicher Ge-
sinnung preisen würden.

Wollen wir alsdann ein genaues Urteil über das Leben beider, des Guten
und des Bösen, gewinnen, so müssen wir den vollendet Guten dem vollendet
Bösen gegenüberstellen. Es soll nun also der Ungerechte handeln wie ein großer
Meister in seinem Fach, der das in seiner Kunst Mögliche von dem Unmög¬
lichen zu unterscheiden weiß und nur das unternimmt, was er ausführen kau",
der auch kaltes Blut hat, um, wenn er einen Fehler begangen, ihn sogleich wieder


Lakchen und Thyrsosträger.

Ring, steckt ihn ein seine eigne Hand und geht wieder fort. Als nun die nächste
Zusammenkunft der Hirten ist, die dem König ihren Bericht erstatte», ist auch
unser Hirt mit dem Ringe dabei, und unabsichtlich dreht er im Gespräch mit
den andern den Ningkasten nach dem Innern der Hand zu. Da bemerkt er zu
seinem Erstaunen, daß die andern Hirten ihn nicht mehr sehen, denn sie blicken
sich um und fragen, wohin er gegangen sein möge. Der Hirt wundert sich, dreht
den Ningkasten wieder und bemerkt, daß er wieder sichtbar geworden ist. So
findet er denn, daß dem Ringe die Kraft innewohnt, den, der ihn trägt, nach
Belieben unsichtbar und wieder sichtbar zu macheu. Als der Hirt Gyges nun
diese Entdeckung gemacht hat, da bringt er es dahin, daß er mit zu denen ge¬
hört, die an den König abgesandt werden, und als er an den Hof kommt, da
verführt er die Königin, stellt mit ihr zusammen dem König nach, ermordet ihn
und bemächtigt sich der Herrschaft. Nun möchte ich wohl zwei solcher Ringe
haben und einen dem Gerechten, den andern dem Ungerechten anstecken. Was
thäten sie wohl? Ich glaube nicht, daß der Gerechte, wenn er wüßte, er könnte
ohne Scheu in jedes Haus, in jedes Zimmer, Kaufgewölbe und an jeden Geld¬
schrank gehen und überhaupt wie ein Gott unter den Menschen wandeln — ich
glaube nicht, daß er dann von so eiserner Festigkeit bliebe. Ich denke, er würde
es gerade so machen wie der Ungerechte und Geld nehmen, wenn er es nötig
hätte, seinen Freunden gute Dienste erweisen, seinen Feinden Schaden zufügen,
seiner Eitelkeit Genüge thun und überhaupt seinen Neigungen folge», nicht aber
den zehn Geboten. Deshalb, scheint mir auch, heißt die Bitte im Vaterunser:
Führe mich nicht in Versuchung, nichts andres als: Laß mich nicht sehen, wer
ich bin. Auch würde ein Mensch, der mit dem Ringe des Gyges a» der Hemd
kein Unrecht thäte, sonder» sich im Gegenteil alles ebenso gefallen ließe, wie ein
andrer sich gefallen lassen muß


Der Zeiten Spott und Geißel,
Des Mttchtgen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,

— es würde ein solcher Mensch von allen, die es sähen, für höchst unverständig
und unglücklich gehalten werden, obwohl sie ihn natürlich einander gegenüber
loben und in der Öffentlichkeit als tugendhaft und von echt christlicher Ge-
sinnung preisen würden.

Wollen wir alsdann ein genaues Urteil über das Leben beider, des Guten
und des Bösen, gewinnen, so müssen wir den vollendet Guten dem vollendet
Bösen gegenüberstellen. Es soll nun also der Ungerechte handeln wie ein großer
Meister in seinem Fach, der das in seiner Kunst Mögliche von dem Unmög¬
lichen zu unterscheiden weiß und nur das unternimmt, was er ausführen kau»,
der auch kaltes Blut hat, um, wenn er einen Fehler begangen, ihn sogleich wieder


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[0196] Lakchen und Thyrsosträger. Ring, steckt ihn ein seine eigne Hand und geht wieder fort. Als nun die nächste Zusammenkunft der Hirten ist, die dem König ihren Bericht erstatte», ist auch unser Hirt mit dem Ringe dabei, und unabsichtlich dreht er im Gespräch mit den andern den Ningkasten nach dem Innern der Hand zu. Da bemerkt er zu seinem Erstaunen, daß die andern Hirten ihn nicht mehr sehen, denn sie blicken sich um und fragen, wohin er gegangen sein möge. Der Hirt wundert sich, dreht den Ningkasten wieder und bemerkt, daß er wieder sichtbar geworden ist. So findet er denn, daß dem Ringe die Kraft innewohnt, den, der ihn trägt, nach Belieben unsichtbar und wieder sichtbar zu macheu. Als der Hirt Gyges nun diese Entdeckung gemacht hat, da bringt er es dahin, daß er mit zu denen ge¬ hört, die an den König abgesandt werden, und als er an den Hof kommt, da verführt er die Königin, stellt mit ihr zusammen dem König nach, ermordet ihn und bemächtigt sich der Herrschaft. Nun möchte ich wohl zwei solcher Ringe haben und einen dem Gerechten, den andern dem Ungerechten anstecken. Was thäten sie wohl? Ich glaube nicht, daß der Gerechte, wenn er wüßte, er könnte ohne Scheu in jedes Haus, in jedes Zimmer, Kaufgewölbe und an jeden Geld¬ schrank gehen und überhaupt wie ein Gott unter den Menschen wandeln — ich glaube nicht, daß er dann von so eiserner Festigkeit bliebe. Ich denke, er würde es gerade so machen wie der Ungerechte und Geld nehmen, wenn er es nötig hätte, seinen Freunden gute Dienste erweisen, seinen Feinden Schaden zufügen, seiner Eitelkeit Genüge thun und überhaupt seinen Neigungen folge», nicht aber den zehn Geboten. Deshalb, scheint mir auch, heißt die Bitte im Vaterunser: Führe mich nicht in Versuchung, nichts andres als: Laß mich nicht sehen, wer ich bin. Auch würde ein Mensch, der mit dem Ringe des Gyges a» der Hemd kein Unrecht thäte, sonder» sich im Gegenteil alles ebenso gefallen ließe, wie ein andrer sich gefallen lassen muß Der Zeiten Spott und Geißel, Des Mttchtgen Druck, des Stolzen Mißhandlungen, Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub, Den Übermut der Ämter und die Schmach, Die Unwert schweigendem Verdienst erweist, — es würde ein solcher Mensch von allen, die es sähen, für höchst unverständig und unglücklich gehalten werden, obwohl sie ihn natürlich einander gegenüber loben und in der Öffentlichkeit als tugendhaft und von echt christlicher Ge- sinnung preisen würden. Wollen wir alsdann ein genaues Urteil über das Leben beider, des Guten und des Bösen, gewinnen, so müssen wir den vollendet Guten dem vollendet Bösen gegenüberstellen. Es soll nun also der Ungerechte handeln wie ein großer Meister in seinem Fach, der das in seiner Kunst Mögliche von dem Unmög¬ lichen zu unterscheiden weiß und nur das unternimmt, was er ausführen kau», der auch kaltes Blut hat, um, wenn er einen Fehler begangen, ihn sogleich wieder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/196>, abgerufen am 17.06.2024.