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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Thyrsosträger.

Nun gut, ich muß den Begriff der Gleichheit erfaßt haben, ehe ich Dinge
hinsichtlich ihrer Gleichheit prüfe. Ich muß ihn eben auch gelernt haben. Was
weiter?

Wann fangen wir nun an, die Dinge hinsichtlich ihrer Gleichheit zu prüfen?
fragte I)r. Stahlhardt.

Nun, sehr früh, sobald sich der Verstand entwickelt.

Ich glaube auch, es geschieht schon sehr früh, sagte der Alte. Wenn ich
nicht irre, fängt es in dein Augenblicke unsrer Geburt ein. Wir müssen also
den Begriff der Gleichheit schon vorher bekommen haben. .

Vor unsrer Geburt?

Vor unsrer Geburt, sagte der Alte ruhig.

Das ist extravagant, sagte der Professor. Ich werde nie zugeben, daß
wir irgendwelche Kenntnisse vor unsrer Geburt hatten.

Sie sagten aber doch, erwiederte Dr. Stahlhardt, daß wir den Begriff der
Gleichheit erfaßt haben müßten, ehe wir Vergleichungen anstellten.

Das habe ich zugegeben, aber von der Geburt an werden auch nicht Be¬
gleichungen angestellt. Das erste Schreien, das erste Verlangen nach Nahrung,
die erste Unterscheidung von Licht und Dunkel sind animale, instinktive Regungen.

Das ist einerlei, sagte Dr. Stahlhardt. Nennen sie es, wie Sie wollen.
Denn Sie selbst sagten vorhin, daß wir von unsrer Geburt an lernten, wiesen
auf den Sonnenstrahl und den Ton hin, der in der Seele des Kindes bestimmte
Fähigkeiten weckte. Und das ist ja auch gewiß, daß die Sinne der einzige Weg
sind, auf dem uns die Begriffe zum Bewußtsein kommen. Aber welchen Zeit¬
punkt wir auch als denjenigen annehmen wollen, zu welchem wir zuerst etwas
Schönes sahen, etwas Gleiches oder Ungleiches beobachteten oder eine gute That
bemerkten, einmal muß doch das erste Mal gewesen sein, mag es nun am ersten
oder zweiten Tage oder im ersten oder zweiten Jahre des kindlichen Lebens ge¬
wesen sein. Notwendig muß aber dieser ersten Wahrnehmung die Kenntnis der
Schönheit oder der Gleichheit oder der Gerechtigkeit vorhergegangen sein, sonst
könnte das Bewußtwerden nicht eintreten. Darum ist dieses selbst nichts andres
als eben eine Erinnerung. Denn so wenig wie Sie die Ähnlichkeit des Bildes
beurteilen konnten, ohne sich des Originals zu erinnern, ebensowenig können
Sie etwas schön finden, ohne sich der Schönheit, oder etwas gerecht finden,
ohne sich der Gerechtigkeit, oder etwas gleich finden, ohne sich der Gleichheit
zu erinnern, die Sie vor Ihrer Geburt kennen gelernt haben.

Das heißt, Sie rechnen alle abstrakten Begriffe zu den aprioriftischcu. Wie
aber, wenn ich sage, diese Begriffe bekommen wir im Augenblicke der Geburt?

Dann frage ich Sie: Wann haben wir sie denn verloren?

Wann wir sie verloren haben?

Ja, denn Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß wir sie besäßen.
Wenn wir sie besäßen, brauchten wir ja nicht zu lernen. Denn was hätten


Bakchen und Thyrsosträger.

Nun gut, ich muß den Begriff der Gleichheit erfaßt haben, ehe ich Dinge
hinsichtlich ihrer Gleichheit prüfe. Ich muß ihn eben auch gelernt haben. Was
weiter?

Wann fangen wir nun an, die Dinge hinsichtlich ihrer Gleichheit zu prüfen?
fragte I)r. Stahlhardt.

Nun, sehr früh, sobald sich der Verstand entwickelt.

Ich glaube auch, es geschieht schon sehr früh, sagte der Alte. Wenn ich
nicht irre, fängt es in dein Augenblicke unsrer Geburt ein. Wir müssen also
den Begriff der Gleichheit schon vorher bekommen haben. .

Vor unsrer Geburt?

Vor unsrer Geburt, sagte der Alte ruhig.

Das ist extravagant, sagte der Professor. Ich werde nie zugeben, daß
wir irgendwelche Kenntnisse vor unsrer Geburt hatten.

Sie sagten aber doch, erwiederte Dr. Stahlhardt, daß wir den Begriff der
Gleichheit erfaßt haben müßten, ehe wir Vergleichungen anstellten.

Das habe ich zugegeben, aber von der Geburt an werden auch nicht Be¬
gleichungen angestellt. Das erste Schreien, das erste Verlangen nach Nahrung,
die erste Unterscheidung von Licht und Dunkel sind animale, instinktive Regungen.

Das ist einerlei, sagte Dr. Stahlhardt. Nennen sie es, wie Sie wollen.
Denn Sie selbst sagten vorhin, daß wir von unsrer Geburt an lernten, wiesen
auf den Sonnenstrahl und den Ton hin, der in der Seele des Kindes bestimmte
Fähigkeiten weckte. Und das ist ja auch gewiß, daß die Sinne der einzige Weg
sind, auf dem uns die Begriffe zum Bewußtsein kommen. Aber welchen Zeit¬
punkt wir auch als denjenigen annehmen wollen, zu welchem wir zuerst etwas
Schönes sahen, etwas Gleiches oder Ungleiches beobachteten oder eine gute That
bemerkten, einmal muß doch das erste Mal gewesen sein, mag es nun am ersten
oder zweiten Tage oder im ersten oder zweiten Jahre des kindlichen Lebens ge¬
wesen sein. Notwendig muß aber dieser ersten Wahrnehmung die Kenntnis der
Schönheit oder der Gleichheit oder der Gerechtigkeit vorhergegangen sein, sonst
könnte das Bewußtwerden nicht eintreten. Darum ist dieses selbst nichts andres
als eben eine Erinnerung. Denn so wenig wie Sie die Ähnlichkeit des Bildes
beurteilen konnten, ohne sich des Originals zu erinnern, ebensowenig können
Sie etwas schön finden, ohne sich der Schönheit, oder etwas gerecht finden,
ohne sich der Gerechtigkeit, oder etwas gleich finden, ohne sich der Gleichheit
zu erinnern, die Sie vor Ihrer Geburt kennen gelernt haben.

Das heißt, Sie rechnen alle abstrakten Begriffe zu den aprioriftischcu. Wie
aber, wenn ich sage, diese Begriffe bekommen wir im Augenblicke der Geburt?

Dann frage ich Sie: Wann haben wir sie denn verloren?

Wann wir sie verloren haben?

Ja, denn Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß wir sie besäßen.
Wenn wir sie besäßen, brauchten wir ja nicht zu lernen. Denn was hätten


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[0678] Bakchen und Thyrsosträger. Nun gut, ich muß den Begriff der Gleichheit erfaßt haben, ehe ich Dinge hinsichtlich ihrer Gleichheit prüfe. Ich muß ihn eben auch gelernt haben. Was weiter? Wann fangen wir nun an, die Dinge hinsichtlich ihrer Gleichheit zu prüfen? fragte I)r. Stahlhardt. Nun, sehr früh, sobald sich der Verstand entwickelt. Ich glaube auch, es geschieht schon sehr früh, sagte der Alte. Wenn ich nicht irre, fängt es in dein Augenblicke unsrer Geburt ein. Wir müssen also den Begriff der Gleichheit schon vorher bekommen haben. . Vor unsrer Geburt? Vor unsrer Geburt, sagte der Alte ruhig. Das ist extravagant, sagte der Professor. Ich werde nie zugeben, daß wir irgendwelche Kenntnisse vor unsrer Geburt hatten. Sie sagten aber doch, erwiederte Dr. Stahlhardt, daß wir den Begriff der Gleichheit erfaßt haben müßten, ehe wir Vergleichungen anstellten. Das habe ich zugegeben, aber von der Geburt an werden auch nicht Be¬ gleichungen angestellt. Das erste Schreien, das erste Verlangen nach Nahrung, die erste Unterscheidung von Licht und Dunkel sind animale, instinktive Regungen. Das ist einerlei, sagte Dr. Stahlhardt. Nennen sie es, wie Sie wollen. Denn Sie selbst sagten vorhin, daß wir von unsrer Geburt an lernten, wiesen auf den Sonnenstrahl und den Ton hin, der in der Seele des Kindes bestimmte Fähigkeiten weckte. Und das ist ja auch gewiß, daß die Sinne der einzige Weg sind, auf dem uns die Begriffe zum Bewußtsein kommen. Aber welchen Zeit¬ punkt wir auch als denjenigen annehmen wollen, zu welchem wir zuerst etwas Schönes sahen, etwas Gleiches oder Ungleiches beobachteten oder eine gute That bemerkten, einmal muß doch das erste Mal gewesen sein, mag es nun am ersten oder zweiten Tage oder im ersten oder zweiten Jahre des kindlichen Lebens ge¬ wesen sein. Notwendig muß aber dieser ersten Wahrnehmung die Kenntnis der Schönheit oder der Gleichheit oder der Gerechtigkeit vorhergegangen sein, sonst könnte das Bewußtwerden nicht eintreten. Darum ist dieses selbst nichts andres als eben eine Erinnerung. Denn so wenig wie Sie die Ähnlichkeit des Bildes beurteilen konnten, ohne sich des Originals zu erinnern, ebensowenig können Sie etwas schön finden, ohne sich der Schönheit, oder etwas gerecht finden, ohne sich der Gerechtigkeit, oder etwas gleich finden, ohne sich der Gleichheit zu erinnern, die Sie vor Ihrer Geburt kennen gelernt haben. Das heißt, Sie rechnen alle abstrakten Begriffe zu den aprioriftischcu. Wie aber, wenn ich sage, diese Begriffe bekommen wir im Augenblicke der Geburt? Dann frage ich Sie: Wann haben wir sie denn verloren? Wann wir sie verloren haben? Ja, denn Sie wollen doch wohl nicht behaupten, daß wir sie besäßen. Wenn wir sie besäßen, brauchten wir ja nicht zu lernen. Denn was hätten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/678>, abgerufen am 17.06.2024.