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Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal.

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Bakchen und Th^rsosträger.

wir wohl zu lernen, wenn wir die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Weisheit, die
Tugend kannten? Nein, wir besitzen diese Kenntnis nicht, sondern wir müssen sie
lernen. Dies Lernen aber ist nichts andres als ein Wiedererinnern, weil die Wahr¬
nehmungen durch unsre Sinne uns in die Erinnerung zurückrufen, was wir ehedem
wußten, aber durch das Einkleiden in einen Körper vergessen haben. Und die, welche
recht gründlich vergessen haben, das sind die klugen, praktischen Leute, die sich
von Kindheit an verständig benehmen, es zu Reichtümern und Ehren bringen
und in der Wissenschaft schnell berühmt werden. Wenig Erinnerung an die
himmlische Heimat stört sie in ihrem irdischen Streben, Die aber noch ein
deutliches Bild der göttlichen Schönheit und Weisheit in ihrer Seele tragen
und es nicht vergessen können, daß der Himmel ihre Heimat ist, obwohl sie in
das schwere Fleisch gekleidet sind, die können sich hier unten nicht gut zurecht¬
finden, benehmen sich thöricht und werden nicht verstanden. Das sind die Künstler,
Dichter und Denker, mit einem Worte- das Genie.

Der Professor dachte bei sich, dieser alte Kahlkopf sei ein unangenehmer
Mensch, Mein Bester, sagte er, Sie haben uns die alte platonische Phantasie,
daß die Seele von Ewigkeit zu Ewigkeit lebe, zum Besten gegeben, aber ich sollte
doch meinen, die wissenschaftlichen Forschungen der Neuzeit hätten derartige Hirn-
gespinnste längst beseitigt.

Als Pantagruel auf seiner Seefahrt im Frühling an das Eismeer gelangte,
erwiederte Dr. Stahlhardt, da hörte man in der Luft allerhand Lärm, Rufe und
Worte, ohne jemand zu sehen, der sie gesprochen haben könnte. Und der Steuer¬
mann erklärte, es sei im vergangenen Winter eine große Schlacht zwischen den
Nordlandsvölkern geschlagen worden, die Rufe der Kämpfenden aber und der Lärm
der Schlacht seien bei der strengen Kälte gefroren und würden erst jetzt hörbar, wo
das warme Wetter sie aufthauen lasse. Da meinte Pantagruel, diese Töne glichen
der Lehre Platons, und schon Antiphanes habe gesagt, Platons Lehre sei den
Worten ähnlich, welche in gewissen Gegenden, zu strenger Winterszeit gesprochen,
von der Kälte erstarrten und gefroren, so daß sie nicht gehört würden. Was
Platon den Jungen lehre, werde von diesen erst notdürftig verstanden werden,
wenn sie alt geworden seien.

In diesem Augenblicke machte sich eine Stille bemerklich, die den frohen
Lärm des Festes jäh unterbrach. Die Tanzmusik hörte auf, es war ein Fragen
und Flüstern, das bis in die letzten Zimmer sich fortpflanzte.

Auch der Kreis, welcher das lange Gespräch zwischen dem berühmten Anthro¬
pologen und dem Dr. Stahlhardt so geduldig angehört hatte, erhob sich, und
man ging in den Tanzsaal, um sich nach der Ursache der Störung zu erkundigen.

Da stürzte Frau Klara Stahlhardt ihrem Manne entgegen und rief mit
hochroten Wangen: Amadeus ist mit dem Pferde gestürzt und hat den Hals
gebrochen. -- Dann raunte sie ihm ins Ohr: Wir und Irrwischs sind die nächsten
Erben. (Fortsetzung folgt.)


Bakchen und Th^rsosträger.

wir wohl zu lernen, wenn wir die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Weisheit, die
Tugend kannten? Nein, wir besitzen diese Kenntnis nicht, sondern wir müssen sie
lernen. Dies Lernen aber ist nichts andres als ein Wiedererinnern, weil die Wahr¬
nehmungen durch unsre Sinne uns in die Erinnerung zurückrufen, was wir ehedem
wußten, aber durch das Einkleiden in einen Körper vergessen haben. Und die, welche
recht gründlich vergessen haben, das sind die klugen, praktischen Leute, die sich
von Kindheit an verständig benehmen, es zu Reichtümern und Ehren bringen
und in der Wissenschaft schnell berühmt werden. Wenig Erinnerung an die
himmlische Heimat stört sie in ihrem irdischen Streben, Die aber noch ein
deutliches Bild der göttlichen Schönheit und Weisheit in ihrer Seele tragen
und es nicht vergessen können, daß der Himmel ihre Heimat ist, obwohl sie in
das schwere Fleisch gekleidet sind, die können sich hier unten nicht gut zurecht¬
finden, benehmen sich thöricht und werden nicht verstanden. Das sind die Künstler,
Dichter und Denker, mit einem Worte- das Genie.

Der Professor dachte bei sich, dieser alte Kahlkopf sei ein unangenehmer
Mensch, Mein Bester, sagte er, Sie haben uns die alte platonische Phantasie,
daß die Seele von Ewigkeit zu Ewigkeit lebe, zum Besten gegeben, aber ich sollte
doch meinen, die wissenschaftlichen Forschungen der Neuzeit hätten derartige Hirn-
gespinnste längst beseitigt.

Als Pantagruel auf seiner Seefahrt im Frühling an das Eismeer gelangte,
erwiederte Dr. Stahlhardt, da hörte man in der Luft allerhand Lärm, Rufe und
Worte, ohne jemand zu sehen, der sie gesprochen haben könnte. Und der Steuer¬
mann erklärte, es sei im vergangenen Winter eine große Schlacht zwischen den
Nordlandsvölkern geschlagen worden, die Rufe der Kämpfenden aber und der Lärm
der Schlacht seien bei der strengen Kälte gefroren und würden erst jetzt hörbar, wo
das warme Wetter sie aufthauen lasse. Da meinte Pantagruel, diese Töne glichen
der Lehre Platons, und schon Antiphanes habe gesagt, Platons Lehre sei den
Worten ähnlich, welche in gewissen Gegenden, zu strenger Winterszeit gesprochen,
von der Kälte erstarrten und gefroren, so daß sie nicht gehört würden. Was
Platon den Jungen lehre, werde von diesen erst notdürftig verstanden werden,
wenn sie alt geworden seien.

In diesem Augenblicke machte sich eine Stille bemerklich, die den frohen
Lärm des Festes jäh unterbrach. Die Tanzmusik hörte auf, es war ein Fragen
und Flüstern, das bis in die letzten Zimmer sich fortpflanzte.

Auch der Kreis, welcher das lange Gespräch zwischen dem berühmten Anthro¬
pologen und dem Dr. Stahlhardt so geduldig angehört hatte, erhob sich, und
man ging in den Tanzsaal, um sich nach der Ursache der Störung zu erkundigen.

Da stürzte Frau Klara Stahlhardt ihrem Manne entgegen und rief mit
hochroten Wangen: Amadeus ist mit dem Pferde gestürzt und hat den Hals
gebrochen. — Dann raunte sie ihm ins Ohr: Wir und Irrwischs sind die nächsten
Erben. (Fortsetzung folgt.)


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[0679] Bakchen und Th^rsosträger. wir wohl zu lernen, wenn wir die Gerechtigkeit, die Wahrheit, die Weisheit, die Tugend kannten? Nein, wir besitzen diese Kenntnis nicht, sondern wir müssen sie lernen. Dies Lernen aber ist nichts andres als ein Wiedererinnern, weil die Wahr¬ nehmungen durch unsre Sinne uns in die Erinnerung zurückrufen, was wir ehedem wußten, aber durch das Einkleiden in einen Körper vergessen haben. Und die, welche recht gründlich vergessen haben, das sind die klugen, praktischen Leute, die sich von Kindheit an verständig benehmen, es zu Reichtümern und Ehren bringen und in der Wissenschaft schnell berühmt werden. Wenig Erinnerung an die himmlische Heimat stört sie in ihrem irdischen Streben, Die aber noch ein deutliches Bild der göttlichen Schönheit und Weisheit in ihrer Seele tragen und es nicht vergessen können, daß der Himmel ihre Heimat ist, obwohl sie in das schwere Fleisch gekleidet sind, die können sich hier unten nicht gut zurecht¬ finden, benehmen sich thöricht und werden nicht verstanden. Das sind die Künstler, Dichter und Denker, mit einem Worte- das Genie. Der Professor dachte bei sich, dieser alte Kahlkopf sei ein unangenehmer Mensch, Mein Bester, sagte er, Sie haben uns die alte platonische Phantasie, daß die Seele von Ewigkeit zu Ewigkeit lebe, zum Besten gegeben, aber ich sollte doch meinen, die wissenschaftlichen Forschungen der Neuzeit hätten derartige Hirn- gespinnste längst beseitigt. Als Pantagruel auf seiner Seefahrt im Frühling an das Eismeer gelangte, erwiederte Dr. Stahlhardt, da hörte man in der Luft allerhand Lärm, Rufe und Worte, ohne jemand zu sehen, der sie gesprochen haben könnte. Und der Steuer¬ mann erklärte, es sei im vergangenen Winter eine große Schlacht zwischen den Nordlandsvölkern geschlagen worden, die Rufe der Kämpfenden aber und der Lärm der Schlacht seien bei der strengen Kälte gefroren und würden erst jetzt hörbar, wo das warme Wetter sie aufthauen lasse. Da meinte Pantagruel, diese Töne glichen der Lehre Platons, und schon Antiphanes habe gesagt, Platons Lehre sei den Worten ähnlich, welche in gewissen Gegenden, zu strenger Winterszeit gesprochen, von der Kälte erstarrten und gefroren, so daß sie nicht gehört würden. Was Platon den Jungen lehre, werde von diesen erst notdürftig verstanden werden, wenn sie alt geworden seien. In diesem Augenblicke machte sich eine Stille bemerklich, die den frohen Lärm des Festes jäh unterbrach. Die Tanzmusik hörte auf, es war ein Fragen und Flüstern, das bis in die letzten Zimmer sich fortpflanzte. Auch der Kreis, welcher das lange Gespräch zwischen dem berühmten Anthro¬ pologen und dem Dr. Stahlhardt so geduldig angehört hatte, erhob sich, und man ging in den Tanzsaal, um sich nach der Ursache der Störung zu erkundigen. Da stürzte Frau Klara Stahlhardt ihrem Manne entgegen und rief mit hochroten Wangen: Amadeus ist mit dem Pferde gestürzt und hat den Hals gebrochen. — Dann raunte sie ihm ins Ohr: Wir und Irrwischs sind die nächsten Erben. (Fortsetzung folgt.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 41, 1882, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341835_89804/679>, abgerufen am 17.06.2024.