Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

Bild:
<< vorherige Seite
Johannes Brahms.

des Pianoforte (aä libiwin). Dieser Gruppe darf man vielleicht auch noch die
Duette in ox. 20 und 28 und die Quartette des ox. 35 hinzufügen.

Zwischen der Veröffentlichung von ox. 9 (Klaviervariationen) und der
ersten Orchesterserenade (ox. 17) liegt ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren.
Es erschien dazwischen nur das eine Heft der Klavierballaden (ox. 10). Wenn
ein Künstler, der seinen Reichtum so glänzend bewiesen, der Welt auf einmal
solange den Rücken kehrt, so müssen besondre Gründe vorliegen. Glücklicher¬
weise beruhten sie nicht auf unfreundlichen Eingriffen des äußern Schicksals.
Brahms zog sich aus eigner Entschließung zurück. Mendelssohn klagte einmal
gegen Moscheles, daß ihm die Adagios so schwer fielen, und letzterer gab ihm
darauf irgendeinen gutgemeinten technischen Rat. So erkennt mancher Künstler
seine Mängel, aber nur wenige besitzen die Klarheit, die Selbstverleugnung und
die Energie, um von Grund aus abzuhelfen. Eine einseitige Richtung der
Phantasie, die fast schon zur Leidenschaft geworden ist, verlangt eine strenge,
innere Einkehr, wie sie Brahms in jenen Jahren der Zurückgezogenheit ersichtlich
gehalten. Ihre einzelnen Stationen entziehen sich der Beobachtung -- ihre
Tendenz läßt sich ungefähr und ihre Resultate bestimmt ersehen. Beethoven
ist vermutlich in den Hintergrund gestellt worden, an seinen Platz traten
friedlichere Meister: Haydn und Mozart; ja Brahms studierte sich noch viel
weiter in die Vergangenheit der Tonkunst zurück, er lebte sich in die Werke
des reinen s, oaxxöllÄ-Stils hinein, und namentlich das altdeutsche Volkslied
kam seinem Herzen sehr nahe. Als der bald Dreißigjährige wieder vor die
Öffentlichkeit trat, erschien er wie in einer Art von Umwandlung: mit einem
freundlichen, lebensfroh schwärmerischen Grundzüge, vielseitiger und in der Form
strenger und straffer.

Das erste Werk der neuen Periode, die Orchesterserenade in v-aur, ist eine
der herrlichsten Jnstrumentalidyllen großen Stiles, welche wir besitzen. Nur ein
gewisser Überschwang der Phantasie, ein zuviel kleiner reizender Zwischengedauken
verrät den Zusammenhang mit der frühern Zeit. In dem nächsten größern
Werke der neuen Periode: in dem v-moll-Konzert (ox. 15), zeigt sich dieser in
dem Charakter des ersten Satzes. Die Dämonen der neunten Symphonie Hausen
darin. Es wurde von Brahms, ehe ox. 11 im Druck erschien, schon öffentlich
vorgetragen, und es ist möglich, daß seine Hauptideen schon in einer früheren
Zeit entstanden sind. Als der erste völlig reine und reife Ausdruck des neuen
Charakters und Stils erscheint uns die zweite Orchesterserenade (ox. 16.) In
ihr und in den ihr folgenden großen Kompositionen für Kammermusik steht der
fertige Meister vor uns mit reicher und bestimmter Individualität. Man kann ihn
erkennen an den langsm strömenden Melodien, die in die Zeit der Mosaikarbeit
wie Fremdlinge hineintreten, an den kräftigen Harmonien, an der ungesuchten
Neuheit der bald schmiegsamen, bald kecken Modulationen, an den charaktervoller
Rhythmen, an den sinnigen, nie vorher erhörten Schlüssen. Es ist alles wirkliche


Johannes Brahms.

des Pianoforte (aä libiwin). Dieser Gruppe darf man vielleicht auch noch die
Duette in ox. 20 und 28 und die Quartette des ox. 35 hinzufügen.

Zwischen der Veröffentlichung von ox. 9 (Klaviervariationen) und der
ersten Orchesterserenade (ox. 17) liegt ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren.
Es erschien dazwischen nur das eine Heft der Klavierballaden (ox. 10). Wenn
ein Künstler, der seinen Reichtum so glänzend bewiesen, der Welt auf einmal
solange den Rücken kehrt, so müssen besondre Gründe vorliegen. Glücklicher¬
weise beruhten sie nicht auf unfreundlichen Eingriffen des äußern Schicksals.
Brahms zog sich aus eigner Entschließung zurück. Mendelssohn klagte einmal
gegen Moscheles, daß ihm die Adagios so schwer fielen, und letzterer gab ihm
darauf irgendeinen gutgemeinten technischen Rat. So erkennt mancher Künstler
seine Mängel, aber nur wenige besitzen die Klarheit, die Selbstverleugnung und
die Energie, um von Grund aus abzuhelfen. Eine einseitige Richtung der
Phantasie, die fast schon zur Leidenschaft geworden ist, verlangt eine strenge,
innere Einkehr, wie sie Brahms in jenen Jahren der Zurückgezogenheit ersichtlich
gehalten. Ihre einzelnen Stationen entziehen sich der Beobachtung — ihre
Tendenz läßt sich ungefähr und ihre Resultate bestimmt ersehen. Beethoven
ist vermutlich in den Hintergrund gestellt worden, an seinen Platz traten
friedlichere Meister: Haydn und Mozart; ja Brahms studierte sich noch viel
weiter in die Vergangenheit der Tonkunst zurück, er lebte sich in die Werke
des reinen s, oaxxöllÄ-Stils hinein, und namentlich das altdeutsche Volkslied
kam seinem Herzen sehr nahe. Als der bald Dreißigjährige wieder vor die
Öffentlichkeit trat, erschien er wie in einer Art von Umwandlung: mit einem
freundlichen, lebensfroh schwärmerischen Grundzüge, vielseitiger und in der Form
strenger und straffer.

Das erste Werk der neuen Periode, die Orchesterserenade in v-aur, ist eine
der herrlichsten Jnstrumentalidyllen großen Stiles, welche wir besitzen. Nur ein
gewisser Überschwang der Phantasie, ein zuviel kleiner reizender Zwischengedauken
verrät den Zusammenhang mit der frühern Zeit. In dem nächsten größern
Werke der neuen Periode: in dem v-moll-Konzert (ox. 15), zeigt sich dieser in
dem Charakter des ersten Satzes. Die Dämonen der neunten Symphonie Hausen
darin. Es wurde von Brahms, ehe ox. 11 im Druck erschien, schon öffentlich
vorgetragen, und es ist möglich, daß seine Hauptideen schon in einer früheren
Zeit entstanden sind. Als der erste völlig reine und reife Ausdruck des neuen
Charakters und Stils erscheint uns die zweite Orchesterserenade (ox. 16.) In
ihr und in den ihr folgenden großen Kompositionen für Kammermusik steht der
fertige Meister vor uns mit reicher und bestimmter Individualität. Man kann ihn
erkennen an den langsm strömenden Melodien, die in die Zeit der Mosaikarbeit
wie Fremdlinge hineintreten, an den kräftigen Harmonien, an der ungesuchten
Neuheit der bald schmiegsamen, bald kecken Modulationen, an den charaktervoller
Rhythmen, an den sinnigen, nie vorher erhörten Schlüssen. Es ist alles wirkliche


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0138" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/156409"/>
          <fw type="header" place="top"> Johannes Brahms.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_498" prev="#ID_497"> des Pianoforte (aä libiwin). Dieser Gruppe darf man vielleicht auch noch die<lb/>
Duette in ox. 20 und 28 und die Quartette des ox. 35 hinzufügen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_499"> Zwischen der Veröffentlichung von ox. 9 (Klaviervariationen) und der<lb/>
ersten Orchesterserenade (ox. 17) liegt ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren.<lb/>
Es erschien dazwischen nur das eine Heft der Klavierballaden (ox. 10). Wenn<lb/>
ein Künstler, der seinen Reichtum so glänzend bewiesen, der Welt auf einmal<lb/>
solange den Rücken kehrt, so müssen besondre Gründe vorliegen. Glücklicher¬<lb/>
weise beruhten sie nicht auf unfreundlichen Eingriffen des äußern Schicksals.<lb/>
Brahms zog sich aus eigner Entschließung zurück. Mendelssohn klagte einmal<lb/>
gegen Moscheles, daß ihm die Adagios so schwer fielen, und letzterer gab ihm<lb/>
darauf irgendeinen gutgemeinten technischen Rat. So erkennt mancher Künstler<lb/>
seine Mängel, aber nur wenige besitzen die Klarheit, die Selbstverleugnung und<lb/>
die Energie, um von Grund aus abzuhelfen. Eine einseitige Richtung der<lb/>
Phantasie, die fast schon zur Leidenschaft geworden ist, verlangt eine strenge,<lb/>
innere Einkehr, wie sie Brahms in jenen Jahren der Zurückgezogenheit ersichtlich<lb/>
gehalten. Ihre einzelnen Stationen entziehen sich der Beobachtung &#x2014; ihre<lb/>
Tendenz läßt sich ungefähr und ihre Resultate bestimmt ersehen. Beethoven<lb/>
ist vermutlich in den Hintergrund gestellt worden, an seinen Platz traten<lb/>
friedlichere Meister: Haydn und Mozart; ja Brahms studierte sich noch viel<lb/>
weiter in die Vergangenheit der Tonkunst zurück, er lebte sich in die Werke<lb/>
des reinen s, oaxxöllÄ-Stils hinein, und namentlich das altdeutsche Volkslied<lb/>
kam seinem Herzen sehr nahe. Als der bald Dreißigjährige wieder vor die<lb/>
Öffentlichkeit trat, erschien er wie in einer Art von Umwandlung: mit einem<lb/>
freundlichen, lebensfroh schwärmerischen Grundzüge, vielseitiger und in der Form<lb/>
strenger und straffer.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_500" next="#ID_501"> Das erste Werk der neuen Periode, die Orchesterserenade in v-aur, ist eine<lb/>
der herrlichsten Jnstrumentalidyllen großen Stiles, welche wir besitzen. Nur ein<lb/>
gewisser Überschwang der Phantasie, ein zuviel kleiner reizender Zwischengedauken<lb/>
verrät den Zusammenhang mit der frühern Zeit. In dem nächsten größern<lb/>
Werke der neuen Periode: in dem v-moll-Konzert (ox. 15), zeigt sich dieser in<lb/>
dem Charakter des ersten Satzes. Die Dämonen der neunten Symphonie Hausen<lb/>
darin. Es wurde von Brahms, ehe ox. 11 im Druck erschien, schon öffentlich<lb/>
vorgetragen, und es ist möglich, daß seine Hauptideen schon in einer früheren<lb/>
Zeit entstanden sind. Als der erste völlig reine und reife Ausdruck des neuen<lb/>
Charakters und Stils erscheint uns die zweite Orchesterserenade (ox. 16.) In<lb/>
ihr und in den ihr folgenden großen Kompositionen für Kammermusik steht der<lb/>
fertige Meister vor uns mit reicher und bestimmter Individualität. Man kann ihn<lb/>
erkennen an den langsm strömenden Melodien, die in die Zeit der Mosaikarbeit<lb/>
wie Fremdlinge hineintreten, an den kräftigen Harmonien, an der ungesuchten<lb/>
Neuheit der bald schmiegsamen, bald kecken Modulationen, an den charaktervoller<lb/>
Rhythmen, an den sinnigen, nie vorher erhörten Schlüssen. Es ist alles wirkliche</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0138] Johannes Brahms. des Pianoforte (aä libiwin). Dieser Gruppe darf man vielleicht auch noch die Duette in ox. 20 und 28 und die Quartette des ox. 35 hinzufügen. Zwischen der Veröffentlichung von ox. 9 (Klaviervariationen) und der ersten Orchesterserenade (ox. 17) liegt ein Zeitraum von mehr als sechs Jahren. Es erschien dazwischen nur das eine Heft der Klavierballaden (ox. 10). Wenn ein Künstler, der seinen Reichtum so glänzend bewiesen, der Welt auf einmal solange den Rücken kehrt, so müssen besondre Gründe vorliegen. Glücklicher¬ weise beruhten sie nicht auf unfreundlichen Eingriffen des äußern Schicksals. Brahms zog sich aus eigner Entschließung zurück. Mendelssohn klagte einmal gegen Moscheles, daß ihm die Adagios so schwer fielen, und letzterer gab ihm darauf irgendeinen gutgemeinten technischen Rat. So erkennt mancher Künstler seine Mängel, aber nur wenige besitzen die Klarheit, die Selbstverleugnung und die Energie, um von Grund aus abzuhelfen. Eine einseitige Richtung der Phantasie, die fast schon zur Leidenschaft geworden ist, verlangt eine strenge, innere Einkehr, wie sie Brahms in jenen Jahren der Zurückgezogenheit ersichtlich gehalten. Ihre einzelnen Stationen entziehen sich der Beobachtung — ihre Tendenz läßt sich ungefähr und ihre Resultate bestimmt ersehen. Beethoven ist vermutlich in den Hintergrund gestellt worden, an seinen Platz traten friedlichere Meister: Haydn und Mozart; ja Brahms studierte sich noch viel weiter in die Vergangenheit der Tonkunst zurück, er lebte sich in die Werke des reinen s, oaxxöllÄ-Stils hinein, und namentlich das altdeutsche Volkslied kam seinem Herzen sehr nahe. Als der bald Dreißigjährige wieder vor die Öffentlichkeit trat, erschien er wie in einer Art von Umwandlung: mit einem freundlichen, lebensfroh schwärmerischen Grundzüge, vielseitiger und in der Form strenger und straffer. Das erste Werk der neuen Periode, die Orchesterserenade in v-aur, ist eine der herrlichsten Jnstrumentalidyllen großen Stiles, welche wir besitzen. Nur ein gewisser Überschwang der Phantasie, ein zuviel kleiner reizender Zwischengedauken verrät den Zusammenhang mit der frühern Zeit. In dem nächsten größern Werke der neuen Periode: in dem v-moll-Konzert (ox. 15), zeigt sich dieser in dem Charakter des ersten Satzes. Die Dämonen der neunten Symphonie Hausen darin. Es wurde von Brahms, ehe ox. 11 im Druck erschien, schon öffentlich vorgetragen, und es ist möglich, daß seine Hauptideen schon in einer früheren Zeit entstanden sind. Als der erste völlig reine und reife Ausdruck des neuen Charakters und Stils erscheint uns die zweite Orchesterserenade (ox. 16.) In ihr und in den ihr folgenden großen Kompositionen für Kammermusik steht der fertige Meister vor uns mit reicher und bestimmter Individualität. Man kann ihn erkennen an den langsm strömenden Melodien, die in die Zeit der Mosaikarbeit wie Fremdlinge hineintreten, an den kräftigen Harmonien, an der ungesuchten Neuheit der bald schmiegsamen, bald kecken Modulationen, an den charaktervoller Rhythmen, an den sinnigen, nie vorher erhörten Schlüssen. Es ist alles wirkliche

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/138
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/138>, abgerufen am 15.06.2024.