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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

Volle, zuweilen freilich etwas schwere Musik, poetisch empfundene und echt be¬
freiende und beglückende Kunst! Im allgemeinen find diese prächtigen Werke
zur Zeit ihrer Entstehung durchaus nicht so geschätzt worden, wie sie es verdienen,
und auch heute noch nicht so bekannt, wie diejenigen wünschen müssen, die sich
mit ihnen vertraut gemacht haben, Ihre Zeit kommt aber näher und näher
heran. Die größte Popularität besitzt das S-moll-Quartett! am meisten ver¬
nachlässigt wird unsrer Beobachtung nach die Cello-Sonate.

Die Jnstrumentalkompositionen der zweiten Periode bewegen sich auf dem
Gebiete der großen Form. Eine Ausnahme macht das Heft vierhändiger Walzer
(ox. 39), das in den Kriegslärm des Jahres 1866 wie fremd hineinfiel. Es
bot vielen eine liebenswürdige und verblüffende Überraschung und störte abermals
die vorgefaßten Begriffe über das nach damaliger Meinung angeblich herbe
Wesen des Komponisten.

Ein Teil der in die zweite Periode gehörenden Kompositionen trägt offen
und äußerlich ersichtlich den Charakter der Studien. Es sind dies die Chor¬
kompositionen von ox. 12, 13, 17, 22, das ^vo Narig., der Begräbnisgesang,
die Frauenchöre mit Harfe und die Marienlieder. Mit ihnen gab Brahms
seinen Arbeiten und Studien im alten Stile einen positiven und fruchtbaren
Abschluß. Größere Leistungen auf dem Gebiete des Chorgescmgcs haben wir
in den zwei Motetten ox. 29 und dem fünfstimmigen Liede ox. 30 zu erblicken.

Die volle Besitzergreifung der über die Massen von Chor und Orchester
gebietenden Abteilungen der Tonkunst bildet das Charakteristikum der dritten
Periode. Es war die Frucht Weiser und wcitgesponnener Vorbereitungen, daß
Brahms mit dem ersten großen Schritte in der Chormusik auch sofort zum un¬
bedingten Herrscher in dieser Gattung wurde. Das "Deutsche Requiem," nach
unsrer Meinung ein Markstein in der Musikgeschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, ist dies unbestritten auch in der Biographie seines Schöpfers, der von
jetzt ub aus seiner bescheidnen Zurückhaltung allen erkennbar in seiner vollen
Größe dasteht und bestimmend in die Entwicklung seiner Kunst eingreift. Das
eine "Requiem" würde genügen, den Namen seines Meisters unsterblich zu machen,
und wo sich die Kunstgeschichte in Zukunft kurz auszudrücken hat, wird sie ihn
als den Schöpfer dieses Werkes nennen. An Umfang und Größe kommt diesem
Meisterwerk am nächsten das "Triumphlied" (ox. 56), in bezug auf innere Verwandt¬
schaft des "Schicksalslied" (ox. 54). Alle die andern hierher gehörenden Werke:
die Rhapsodie (ox. 53), "Rinaldo" (ox. 50), Schillers "Rauie" (ox. 82) und der
"Gesang der Parzen" (ox. 89) sind jedes von eigentümlichem Werte. Die tiefe
Originalität im Geiste des Künstlers, welche in der vorhergehenden Periode
den innern Teil des musikalischen Ausdrucks ausbildete und beherrschte, be¬
mächtigt sich jetzt mehr und mehr des großen Entwurfs und der Gestaltung
der Form. Um ein triviales Bild zu benutzen: Wir erblicken ab und zu neue
Gefäße! Die dritte Periode zeigt eine Verbindung von Logik und Freiheit, der


Johannes Brahms.

Volle, zuweilen freilich etwas schwere Musik, poetisch empfundene und echt be¬
freiende und beglückende Kunst! Im allgemeinen find diese prächtigen Werke
zur Zeit ihrer Entstehung durchaus nicht so geschätzt worden, wie sie es verdienen,
und auch heute noch nicht so bekannt, wie diejenigen wünschen müssen, die sich
mit ihnen vertraut gemacht haben, Ihre Zeit kommt aber näher und näher
heran. Die größte Popularität besitzt das S-moll-Quartett! am meisten ver¬
nachlässigt wird unsrer Beobachtung nach die Cello-Sonate.

Die Jnstrumentalkompositionen der zweiten Periode bewegen sich auf dem
Gebiete der großen Form. Eine Ausnahme macht das Heft vierhändiger Walzer
(ox. 39), das in den Kriegslärm des Jahres 1866 wie fremd hineinfiel. Es
bot vielen eine liebenswürdige und verblüffende Überraschung und störte abermals
die vorgefaßten Begriffe über das nach damaliger Meinung angeblich herbe
Wesen des Komponisten.

Ein Teil der in die zweite Periode gehörenden Kompositionen trägt offen
und äußerlich ersichtlich den Charakter der Studien. Es sind dies die Chor¬
kompositionen von ox. 12, 13, 17, 22, das ^vo Narig., der Begräbnisgesang,
die Frauenchöre mit Harfe und die Marienlieder. Mit ihnen gab Brahms
seinen Arbeiten und Studien im alten Stile einen positiven und fruchtbaren
Abschluß. Größere Leistungen auf dem Gebiete des Chorgescmgcs haben wir
in den zwei Motetten ox. 29 und dem fünfstimmigen Liede ox. 30 zu erblicken.

Die volle Besitzergreifung der über die Massen von Chor und Orchester
gebietenden Abteilungen der Tonkunst bildet das Charakteristikum der dritten
Periode. Es war die Frucht Weiser und wcitgesponnener Vorbereitungen, daß
Brahms mit dem ersten großen Schritte in der Chormusik auch sofort zum un¬
bedingten Herrscher in dieser Gattung wurde. Das „Deutsche Requiem," nach
unsrer Meinung ein Markstein in der Musikgeschichte des neunzehnten Jahr¬
hunderts, ist dies unbestritten auch in der Biographie seines Schöpfers, der von
jetzt ub aus seiner bescheidnen Zurückhaltung allen erkennbar in seiner vollen
Größe dasteht und bestimmend in die Entwicklung seiner Kunst eingreift. Das
eine „Requiem" würde genügen, den Namen seines Meisters unsterblich zu machen,
und wo sich die Kunstgeschichte in Zukunft kurz auszudrücken hat, wird sie ihn
als den Schöpfer dieses Werkes nennen. An Umfang und Größe kommt diesem
Meisterwerk am nächsten das „Triumphlied" (ox. 56), in bezug auf innere Verwandt¬
schaft des „Schicksalslied" (ox. 54). Alle die andern hierher gehörenden Werke:
die Rhapsodie (ox. 53), „Rinaldo" (ox. 50), Schillers „Rauie" (ox. 82) und der
»Gesang der Parzen" (ox. 89) sind jedes von eigentümlichem Werte. Die tiefe
Originalität im Geiste des Künstlers, welche in der vorhergehenden Periode
den innern Teil des musikalischen Ausdrucks ausbildete und beherrschte, be¬
mächtigt sich jetzt mehr und mehr des großen Entwurfs und der Gestaltung
der Form. Um ein triviales Bild zu benutzen: Wir erblicken ab und zu neue
Gefäße! Die dritte Periode zeigt eine Verbindung von Logik und Freiheit, der


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[0139] Johannes Brahms. Volle, zuweilen freilich etwas schwere Musik, poetisch empfundene und echt be¬ freiende und beglückende Kunst! Im allgemeinen find diese prächtigen Werke zur Zeit ihrer Entstehung durchaus nicht so geschätzt worden, wie sie es verdienen, und auch heute noch nicht so bekannt, wie diejenigen wünschen müssen, die sich mit ihnen vertraut gemacht haben, Ihre Zeit kommt aber näher und näher heran. Die größte Popularität besitzt das S-moll-Quartett! am meisten ver¬ nachlässigt wird unsrer Beobachtung nach die Cello-Sonate. Die Jnstrumentalkompositionen der zweiten Periode bewegen sich auf dem Gebiete der großen Form. Eine Ausnahme macht das Heft vierhändiger Walzer (ox. 39), das in den Kriegslärm des Jahres 1866 wie fremd hineinfiel. Es bot vielen eine liebenswürdige und verblüffende Überraschung und störte abermals die vorgefaßten Begriffe über das nach damaliger Meinung angeblich herbe Wesen des Komponisten. Ein Teil der in die zweite Periode gehörenden Kompositionen trägt offen und äußerlich ersichtlich den Charakter der Studien. Es sind dies die Chor¬ kompositionen von ox. 12, 13, 17, 22, das ^vo Narig., der Begräbnisgesang, die Frauenchöre mit Harfe und die Marienlieder. Mit ihnen gab Brahms seinen Arbeiten und Studien im alten Stile einen positiven und fruchtbaren Abschluß. Größere Leistungen auf dem Gebiete des Chorgescmgcs haben wir in den zwei Motetten ox. 29 und dem fünfstimmigen Liede ox. 30 zu erblicken. Die volle Besitzergreifung der über die Massen von Chor und Orchester gebietenden Abteilungen der Tonkunst bildet das Charakteristikum der dritten Periode. Es war die Frucht Weiser und wcitgesponnener Vorbereitungen, daß Brahms mit dem ersten großen Schritte in der Chormusik auch sofort zum un¬ bedingten Herrscher in dieser Gattung wurde. Das „Deutsche Requiem," nach unsrer Meinung ein Markstein in der Musikgeschichte des neunzehnten Jahr¬ hunderts, ist dies unbestritten auch in der Biographie seines Schöpfers, der von jetzt ub aus seiner bescheidnen Zurückhaltung allen erkennbar in seiner vollen Größe dasteht und bestimmend in die Entwicklung seiner Kunst eingreift. Das eine „Requiem" würde genügen, den Namen seines Meisters unsterblich zu machen, und wo sich die Kunstgeschichte in Zukunft kurz auszudrücken hat, wird sie ihn als den Schöpfer dieses Werkes nennen. An Umfang und Größe kommt diesem Meisterwerk am nächsten das „Triumphlied" (ox. 56), in bezug auf innere Verwandt¬ schaft des „Schicksalslied" (ox. 54). Alle die andern hierher gehörenden Werke: die Rhapsodie (ox. 53), „Rinaldo" (ox. 50), Schillers „Rauie" (ox. 82) und der »Gesang der Parzen" (ox. 89) sind jedes von eigentümlichem Werte. Die tiefe Originalität im Geiste des Künstlers, welche in der vorhergehenden Periode den innern Teil des musikalischen Ausdrucks ausbildete und beherrschte, be¬ mächtigt sich jetzt mehr und mehr des großen Entwurfs und der Gestaltung der Form. Um ein triviales Bild zu benutzen: Wir erblicken ab und zu neue Gefäße! Die dritte Periode zeigt eine Verbindung von Logik und Freiheit, der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/139>, abgerufen am 16.06.2024.