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Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal.

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Johannes Brahms.

ox. 71, "Sommerabend" und dessen Supplement "Mondschein" aus ox. 85.
Wir möchten dieses Register gern noch weiter ausdehnen -- schon bei dem ersten
Liedwerke des Künstlers (ox. 3) erscheint es als Härte, neben dem einen bevor¬
zugten Liede alle die andern frischen und schönen Dokumente der jugendlich
leidenschaftlichen Empfindung zu unterdrücken. Indes trösten wir uns mit der
Überzeugung, daß wir diejenigen Gesänge ausgewählt haben, welche die Indi¬
vidualität des Komponisten am stärksten und auch für den ersten Blick unver¬
kennbar reprüsentiren. Wer zum erstenmale -- unbekannt mit dem Verfasser --
Gesänge wie die Mageloueu-Romanzen, wie das "Lied vom Herrn von Falken-
stein," "Von ewiger Liebe," "Feldeinsamkeit" hört -- der wird unwillkürlich
fragen: Wer ist dieser Komponist? Denn für jedermann, sofern er überhaupt
Kunstgefühl und einige Kunsterfahrung besitzt, macht sich in Geist und Form
dieser Werke eine vollständig eigne und große Erscheinung geltend. Diese Ge-
sänge ragen in die Literatur des modernen Liedes herein wie die Granitblöcke,
die ehrwürdigen Reste einer versunkenen Nicsenwelt in die zierliche Pracht der
neuen Gärten. Wenn unsre Kritiker glauben, Brahms als "Liederkomponist"
an Robert Schumann und Robert Franz messen zu müssen, so sind sie sehr im
Irrtum. Mit R. Schumann hat Brahms auf diesem Gebiete im wesentlichen
nur wenig, mit R. Franz so gut wie garnichts gemein. Vielfache Verwandt¬
schaft verknüpft ihn dagegen mit Franz Schubert. Für unsern Zweck sind hier
zunächst die sogenannten großen Gesänge dieses Komponisten, sein "Wandrer," die
ersten Gesänge des Harfners, die Gruppe aus dem "Tartarus," die"Allmacht," "Pro¬
metheus," "Suleika" und ähnliche in Betracht zu ziehen. Es paßt ferner der Ver¬
gleich des Liederkompvnisten Brahms mit Beethoven als dem Komponisten der
"Adelaide," des "Liederkreises an die entfernte Geliebte," oder mit Mozart, wenn
wir an dessen "Abendcmpfindung" denken. Über Wien geht die Straße nach
Italien. Unbewußt knüpften die Wiener Meister in den zitirtcn Werken an
ein italienisches Vorbild an, welches in der Zeit ihrer Jugend noch in rüstigem
Leben stand: die italienische Kammerkantate. Diese bestand aus mehreren Ab-
teilungen, drei, vier und mehr Sätzen wechselnden Charakters mit Nezitativen
dazwischen und erlaubte dem Komponisten wie dem Sänger eine größere Ent¬
faltung seiner Kunst. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts bildete sie das
Fundament des Sologesanges im Saal und Halts von London ab bis hinunter
nach Neapel. Erst von da an drängte sich das Lied vor und gelangte schließlich
zu einer Art Alleinherrschaft, die niemand von denen für unbedenklich halten
kann, welche an dem kleinen Genre nicht bloß die unbestreitbaren Reize, sondern
auch die natürliche Beschränkung zu erkennen vermögen. solange in der Kunst
noch Leben ist, hilft sie sich gewöhnlich selbst. So auch hier. Heute erscheint
es uns schon wieder als gewiß, daß das Lied auf die Dauer den ganzen Solo¬
gesang nicht verschlingen wird, und die Jüngeren unter uns werden es vielleicht
noch erleben, daß in unsern Konzertsälen dann und wann auch eine der Herr-


Johannes Brahms.

ox. 71, „Sommerabend" und dessen Supplement „Mondschein" aus ox. 85.
Wir möchten dieses Register gern noch weiter ausdehnen — schon bei dem ersten
Liedwerke des Künstlers (ox. 3) erscheint es als Härte, neben dem einen bevor¬
zugten Liede alle die andern frischen und schönen Dokumente der jugendlich
leidenschaftlichen Empfindung zu unterdrücken. Indes trösten wir uns mit der
Überzeugung, daß wir diejenigen Gesänge ausgewählt haben, welche die Indi¬
vidualität des Komponisten am stärksten und auch für den ersten Blick unver¬
kennbar reprüsentiren. Wer zum erstenmale — unbekannt mit dem Verfasser —
Gesänge wie die Mageloueu-Romanzen, wie das „Lied vom Herrn von Falken-
stein," „Von ewiger Liebe," „Feldeinsamkeit" hört — der wird unwillkürlich
fragen: Wer ist dieser Komponist? Denn für jedermann, sofern er überhaupt
Kunstgefühl und einige Kunsterfahrung besitzt, macht sich in Geist und Form
dieser Werke eine vollständig eigne und große Erscheinung geltend. Diese Ge-
sänge ragen in die Literatur des modernen Liedes herein wie die Granitblöcke,
die ehrwürdigen Reste einer versunkenen Nicsenwelt in die zierliche Pracht der
neuen Gärten. Wenn unsre Kritiker glauben, Brahms als „Liederkomponist"
an Robert Schumann und Robert Franz messen zu müssen, so sind sie sehr im
Irrtum. Mit R. Schumann hat Brahms auf diesem Gebiete im wesentlichen
nur wenig, mit R. Franz so gut wie garnichts gemein. Vielfache Verwandt¬
schaft verknüpft ihn dagegen mit Franz Schubert. Für unsern Zweck sind hier
zunächst die sogenannten großen Gesänge dieses Komponisten, sein „Wandrer," die
ersten Gesänge des Harfners, die Gruppe aus dem „Tartarus," die„Allmacht," „Pro¬
metheus," „Suleika" und ähnliche in Betracht zu ziehen. Es paßt ferner der Ver¬
gleich des Liederkompvnisten Brahms mit Beethoven als dem Komponisten der
„Adelaide," des „Liederkreises an die entfernte Geliebte," oder mit Mozart, wenn
wir an dessen „Abendcmpfindung" denken. Über Wien geht die Straße nach
Italien. Unbewußt knüpften die Wiener Meister in den zitirtcn Werken an
ein italienisches Vorbild an, welches in der Zeit ihrer Jugend noch in rüstigem
Leben stand: die italienische Kammerkantate. Diese bestand aus mehreren Ab-
teilungen, drei, vier und mehr Sätzen wechselnden Charakters mit Nezitativen
dazwischen und erlaubte dem Komponisten wie dem Sänger eine größere Ent¬
faltung seiner Kunst. Noch am Ende des vorigen Jahrhunderts bildete sie das
Fundament des Sologesanges im Saal und Halts von London ab bis hinunter
nach Neapel. Erst von da an drängte sich das Lied vor und gelangte schließlich
zu einer Art Alleinherrschaft, die niemand von denen für unbedenklich halten
kann, welche an dem kleinen Genre nicht bloß die unbestreitbaren Reize, sondern
auch die natürliche Beschränkung zu erkennen vermögen. solange in der Kunst
noch Leben ist, hilft sie sich gewöhnlich selbst. So auch hier. Heute erscheint
es uns schon wieder als gewiß, daß das Lied auf die Dauer den ganzen Solo¬
gesang nicht verschlingen wird, und die Jüngeren unter uns werden es vielleicht
noch erleben, daß in unsern Konzertsälen dann und wann auch eine der Herr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 43, 1884, Drittes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341839_156270/183>, abgerufen am 15.06.2024.