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Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal.

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Friedrich Hebbels Tagebnchor.

lächerlichen Anspruch, sein Können der strengsten Prüfung zu unterwerfen,
gewesen sei.

Freilich auch diese strengste Prüfung konnte zunächst einer Seele keine
völlige Befreiung bringen, die so schwer an den Rätseln des Daseins trug wie
Hebbel. Wenn wir unterm 7. Oktober 1842 in seinen "Tagebüchern" lesen:
"Was einer werden kaun, das ist er schon, zum wenigsten vor Gott! Diese
fürchterliche Wahrheit ist dnrch das Ausstreichen aus der Geuvveva keineswegs
abgethan. Derjenige, der einen Mord verübte, und derjenige, der ihn des
Mordes wegen zum Tode verdammt, worin sind sie unterschieden, wenn Gott,
der mit der wirtlichen zugleich alle möglichen Welten überschaut, erkennt, daß
jener bei eiuer andern Verkettung der Umstände der Richter nud dieser der
Mörder hätte sein können. Wenn man die Gemalt der Äußerlichkeiten wohl
erwägt, so möchte man an aller Wesenheit der menschlichen Natur und jeder
Natur verzweifeln." Mit dem landläufigen Pessimismus, der meist nur der
Widerschein eiues aristippisch-epikureischen Eudämonismus ist, hat diese düstre
Erkenntnis und verzweifelnde Stimmung nichts zu schaffen; daß sie bis zu einem
gewissen Punkte überwunden werden mußte, nur den Dichter auf die Höhe zu
führen, auf der wir ihn später erblicken, ist klar genug. Fast alle Seiten der
"Tagebücher" enthalten eiuen tiefen und schönen Gedanken, der rastlos arbeitende
Geist Hebbels bewegt sich nach den verschiedensten Seite" hin, weniger um sich
der ganzen Breite des Lebens zu bemächtigen, als um in jede Tiefe desselben
hinabzusteigen. Es fehlt unserm Dichter weder an Verständnis noch an der
gebührenden Anerkennung für völlig anders geartete Talente als das seine,
gleichwohl ist ihm echte Poesie ohne eine gewisse psychologische Tiefe, ohne
starke, überwallende Leidenschaften und ein letztes individuelles Element, das er
bei Uhland findet, bei Scott vermißt, doch undenkbar. Über Walter Scott
lesen wir unterm 4. März 1839: "Ich habe in der letzten Zeit mehrere
Romane von Scott gelesen. Scott unstreitig ein außerordentliches Talent und
dennoch kein Dichter. Warum nicht? Ich weiß mir hierauf nicht befriedigend
zu antworten, obgleich mein Gefühl entschieden ist. Zum Teil zeigt er seine
undichterische Natur dadurch, daß er immer nur das Äußere des Lebensprozesses,
das Handgreifliche und in die Augen fallende desselben darstellt; überhaupt nur
das Enwickelte, niemals das Werdende. Es ist freilich das höchste, Secleu-
creiguisse und Geistesrevolutioueu ohne Zergliederung und Beschwütznng un¬
mittelbar durch das Thun und Leiden des Menschen zu zeichnen, wie es Goethe
in seiner Ottilie, Kleist in seinen Novellen gethan hat; doch bei Scott geht
innerlich garnichts ^ vor, seine Personen siud und bleibe", was sie sind, sie
gewinnen oder verlieren wohl an Glück und Unglück, aber das Schicksal greift
nie den Keim ihres eignen Wesens an. Daher kommt auch die Monotonie,
welche die fortgesetzte Lektüre dieser Romane, trotz des frischen Wechsels von
Situationen und Charakteren, auf die Läuge unangenehm macht. Die Verhält-


Friedrich Hebbels Tagebnchor.

lächerlichen Anspruch, sein Können der strengsten Prüfung zu unterwerfen,
gewesen sei.

Freilich auch diese strengste Prüfung konnte zunächst einer Seele keine
völlige Befreiung bringen, die so schwer an den Rätseln des Daseins trug wie
Hebbel. Wenn wir unterm 7. Oktober 1842 in seinen „Tagebüchern" lesen:
„Was einer werden kaun, das ist er schon, zum wenigsten vor Gott! Diese
fürchterliche Wahrheit ist dnrch das Ausstreichen aus der Geuvveva keineswegs
abgethan. Derjenige, der einen Mord verübte, und derjenige, der ihn des
Mordes wegen zum Tode verdammt, worin sind sie unterschieden, wenn Gott,
der mit der wirtlichen zugleich alle möglichen Welten überschaut, erkennt, daß
jener bei eiuer andern Verkettung der Umstände der Richter nud dieser der
Mörder hätte sein können. Wenn man die Gemalt der Äußerlichkeiten wohl
erwägt, so möchte man an aller Wesenheit der menschlichen Natur und jeder
Natur verzweifeln." Mit dem landläufigen Pessimismus, der meist nur der
Widerschein eiues aristippisch-epikureischen Eudämonismus ist, hat diese düstre
Erkenntnis und verzweifelnde Stimmung nichts zu schaffen; daß sie bis zu einem
gewissen Punkte überwunden werden mußte, nur den Dichter auf die Höhe zu
führen, auf der wir ihn später erblicken, ist klar genug. Fast alle Seiten der
„Tagebücher" enthalten eiuen tiefen und schönen Gedanken, der rastlos arbeitende
Geist Hebbels bewegt sich nach den verschiedensten Seite» hin, weniger um sich
der ganzen Breite des Lebens zu bemächtigen, als um in jede Tiefe desselben
hinabzusteigen. Es fehlt unserm Dichter weder an Verständnis noch an der
gebührenden Anerkennung für völlig anders geartete Talente als das seine,
gleichwohl ist ihm echte Poesie ohne eine gewisse psychologische Tiefe, ohne
starke, überwallende Leidenschaften und ein letztes individuelles Element, das er
bei Uhland findet, bei Scott vermißt, doch undenkbar. Über Walter Scott
lesen wir unterm 4. März 1839: „Ich habe in der letzten Zeit mehrere
Romane von Scott gelesen. Scott unstreitig ein außerordentliches Talent und
dennoch kein Dichter. Warum nicht? Ich weiß mir hierauf nicht befriedigend
zu antworten, obgleich mein Gefühl entschieden ist. Zum Teil zeigt er seine
undichterische Natur dadurch, daß er immer nur das Äußere des Lebensprozesses,
das Handgreifliche und in die Augen fallende desselben darstellt; überhaupt nur
das Enwickelte, niemals das Werdende. Es ist freilich das höchste, Secleu-
creiguisse und Geistesrevolutioueu ohne Zergliederung und Beschwütznng un¬
mittelbar durch das Thun und Leiden des Menschen zu zeichnen, wie es Goethe
in seiner Ottilie, Kleist in seinen Novellen gethan hat; doch bei Scott geht
innerlich garnichts ^ vor, seine Personen siud und bleibe», was sie sind, sie
gewinnen oder verlieren wohl an Glück und Unglück, aber das Schicksal greift
nie den Keim ihres eignen Wesens an. Daher kommt auch die Monotonie,
welche die fortgesetzte Lektüre dieser Romane, trotz des frischen Wechsels von
Situationen und Charakteren, auf die Läuge unangenehm macht. Die Verhält-


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[0044] Friedrich Hebbels Tagebnchor. lächerlichen Anspruch, sein Können der strengsten Prüfung zu unterwerfen, gewesen sei. Freilich auch diese strengste Prüfung konnte zunächst einer Seele keine völlige Befreiung bringen, die so schwer an den Rätseln des Daseins trug wie Hebbel. Wenn wir unterm 7. Oktober 1842 in seinen „Tagebüchern" lesen: „Was einer werden kaun, das ist er schon, zum wenigsten vor Gott! Diese fürchterliche Wahrheit ist dnrch das Ausstreichen aus der Geuvveva keineswegs abgethan. Derjenige, der einen Mord verübte, und derjenige, der ihn des Mordes wegen zum Tode verdammt, worin sind sie unterschieden, wenn Gott, der mit der wirtlichen zugleich alle möglichen Welten überschaut, erkennt, daß jener bei eiuer andern Verkettung der Umstände der Richter nud dieser der Mörder hätte sein können. Wenn man die Gemalt der Äußerlichkeiten wohl erwägt, so möchte man an aller Wesenheit der menschlichen Natur und jeder Natur verzweifeln." Mit dem landläufigen Pessimismus, der meist nur der Widerschein eiues aristippisch-epikureischen Eudämonismus ist, hat diese düstre Erkenntnis und verzweifelnde Stimmung nichts zu schaffen; daß sie bis zu einem gewissen Punkte überwunden werden mußte, nur den Dichter auf die Höhe zu führen, auf der wir ihn später erblicken, ist klar genug. Fast alle Seiten der „Tagebücher" enthalten eiuen tiefen und schönen Gedanken, der rastlos arbeitende Geist Hebbels bewegt sich nach den verschiedensten Seite» hin, weniger um sich der ganzen Breite des Lebens zu bemächtigen, als um in jede Tiefe desselben hinabzusteigen. Es fehlt unserm Dichter weder an Verständnis noch an der gebührenden Anerkennung für völlig anders geartete Talente als das seine, gleichwohl ist ihm echte Poesie ohne eine gewisse psychologische Tiefe, ohne starke, überwallende Leidenschaften und ein letztes individuelles Element, das er bei Uhland findet, bei Scott vermißt, doch undenkbar. Über Walter Scott lesen wir unterm 4. März 1839: „Ich habe in der letzten Zeit mehrere Romane von Scott gelesen. Scott unstreitig ein außerordentliches Talent und dennoch kein Dichter. Warum nicht? Ich weiß mir hierauf nicht befriedigend zu antworten, obgleich mein Gefühl entschieden ist. Zum Teil zeigt er seine undichterische Natur dadurch, daß er immer nur das Äußere des Lebensprozesses, das Handgreifliche und in die Augen fallende desselben darstellt; überhaupt nur das Enwickelte, niemals das Werdende. Es ist freilich das höchste, Secleu- creiguisse und Geistesrevolutioueu ohne Zergliederung und Beschwütznng un¬ mittelbar durch das Thun und Leiden des Menschen zu zeichnen, wie es Goethe in seiner Ottilie, Kleist in seinen Novellen gethan hat; doch bei Scott geht innerlich garnichts ^ vor, seine Personen siud und bleibe», was sie sind, sie gewinnen oder verlieren wohl an Glück und Unglück, aber das Schicksal greift nie den Keim ihres eignen Wesens an. Daher kommt auch die Monotonie, welche die fortgesetzte Lektüre dieser Romane, trotz des frischen Wechsels von Situationen und Charakteren, auf die Läuge unangenehm macht. Die Verhält-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 44, 1885, Erstes Quartal, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341841_194675/44>, abgerufen am 22.05.2024.