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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Unglücksfälle noch so sehr abnähmen, wir doch von einer größeren Menge der¬
selben hören würden, als unsre Vorfahren zu Zeiten, wo Sicherheit und Für¬
sorge sehr übel bestellt waren und das meiste, was vorging, sich allgemeiner
Kenntnis entzog.

Ganz ebenso ist es mit dem Elend. Es gab eine Zeit -- und sie ist
uicht allzuferne --, wo in Schwaben Mangel und gleichzeitig in Sachsen
Überfluß herrschen konnte, ohne daß man hier oder dort ahnte, daß es drüben
anders stünde. Das Platte Land oder das Gebirge konnte von Blattern oder
Typhus heimgesucht sein, ohne daß man in der Hauptstadt davon Kunde hatte.
Wenn im Frühjahr die Flüsse anschwollen, so suchte sich jeder, so gut er konnte,
zu helfen; wie es aber oben im Gebirge aussah, davon wußte in der Ebene
niemand. Jetzt melden Telegramme den Wasserstand von Stunde zu Stunde,
und wirksame Vorkehrungen werden getroffen. Früher liefen tolle Hunde im
Lande unbeachtet umher; krankes Vieh wurde geschlachtet, es entstanden Seuchen,
die sich niemand zu erkläre" wußte, die Bevölkerung wurde dezimirt, aber
niemand zählte die Toten, und es dauerte lange, bis man die Abnahme der
Volkszahl bemerkte. Niemand kannte das Elend, welches in seinen Höhlen
unbeachtet herrschte, nur wenige wußten von den unerhörten Zuständen in
Gefängnissen und Irrenanstalten -- kurz, es war alles wie mit einem
Schleier zugedeckt, und die wenigen, die etwas sahen, standen vereinzelt, ohne
Zusammenhang, ohne Beziehung zur übrigen Menschheit. Eben darum war
auch das Gemein- und Mitgefühl für die leidenden Nebenmenschen viel weniger
erregt und entwickelt. Ist es nötig, weitläufig zu schildern, wie dies alles
anders geworden ist, seitdem die Presse und der ihr dienende Telegraph alles
und jedes tagtäglich zu allgemeiner Kenntnis bringt, seitdem die entwickelten
Verkehrsmittel, die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen aller Menschen
unter einander jedem einzelnen die Kenntnis der Gesamtzustande vermitteln?
Eben darum, weil wir von allem Kenntnis erhalten, was irgendwo unsre
Mitmenschen an Not und Elend, an Drangsal und Unheil betrifft, ist anch
unser Mitgefühl erregter, unsre Teilnahme thätiger, unser Wunsch, zu helfen,
lebhafter geworden.

Und wenn in dem allen eine Veredlung des menschlichen Gemütes erblickt
werden muß, so verdanken wir sie den materiellen Fortschritten, welche von
kurzsichtigen Sittenlchrcrn oft in so thörichter Weise geschmäht werden.

Also -- ich wiederhole es -- nicht umfangreicher, nur bemerkbarer, sicht¬
barer sind Not und Elend geworden. Schon damit ist eine nicht zu unter¬
schätzende Linderung gegeben. Denn wohin die Kunde der Not dringt, da
öffnen sich die Herzen und hilfreiche Hände. Wir senden Gaben nach Spanien
und Italien, wenn diese Länder durch Wasser, Feuer, durch Erdbeben oder
Seuchen heimgesucht werden, und wir empfangen Gaben selbst von Mitmenschen,
die jenseits des Ozeans leben, wenn wir der Hilfe bedürfen. Wir senden unsre


Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände.

Unglücksfälle noch so sehr abnähmen, wir doch von einer größeren Menge der¬
selben hören würden, als unsre Vorfahren zu Zeiten, wo Sicherheit und Für¬
sorge sehr übel bestellt waren und das meiste, was vorging, sich allgemeiner
Kenntnis entzog.

Ganz ebenso ist es mit dem Elend. Es gab eine Zeit — und sie ist
uicht allzuferne —, wo in Schwaben Mangel und gleichzeitig in Sachsen
Überfluß herrschen konnte, ohne daß man hier oder dort ahnte, daß es drüben
anders stünde. Das Platte Land oder das Gebirge konnte von Blattern oder
Typhus heimgesucht sein, ohne daß man in der Hauptstadt davon Kunde hatte.
Wenn im Frühjahr die Flüsse anschwollen, so suchte sich jeder, so gut er konnte,
zu helfen; wie es aber oben im Gebirge aussah, davon wußte in der Ebene
niemand. Jetzt melden Telegramme den Wasserstand von Stunde zu Stunde,
und wirksame Vorkehrungen werden getroffen. Früher liefen tolle Hunde im
Lande unbeachtet umher; krankes Vieh wurde geschlachtet, es entstanden Seuchen,
die sich niemand zu erkläre» wußte, die Bevölkerung wurde dezimirt, aber
niemand zählte die Toten, und es dauerte lange, bis man die Abnahme der
Volkszahl bemerkte. Niemand kannte das Elend, welches in seinen Höhlen
unbeachtet herrschte, nur wenige wußten von den unerhörten Zuständen in
Gefängnissen und Irrenanstalten — kurz, es war alles wie mit einem
Schleier zugedeckt, und die wenigen, die etwas sahen, standen vereinzelt, ohne
Zusammenhang, ohne Beziehung zur übrigen Menschheit. Eben darum war
auch das Gemein- und Mitgefühl für die leidenden Nebenmenschen viel weniger
erregt und entwickelt. Ist es nötig, weitläufig zu schildern, wie dies alles
anders geworden ist, seitdem die Presse und der ihr dienende Telegraph alles
und jedes tagtäglich zu allgemeiner Kenntnis bringt, seitdem die entwickelten
Verkehrsmittel, die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen aller Menschen
unter einander jedem einzelnen die Kenntnis der Gesamtzustande vermitteln?
Eben darum, weil wir von allem Kenntnis erhalten, was irgendwo unsre
Mitmenschen an Not und Elend, an Drangsal und Unheil betrifft, ist anch
unser Mitgefühl erregter, unsre Teilnahme thätiger, unser Wunsch, zu helfen,
lebhafter geworden.

Und wenn in dem allen eine Veredlung des menschlichen Gemütes erblickt
werden muß, so verdanken wir sie den materiellen Fortschritten, welche von
kurzsichtigen Sittenlchrcrn oft in so thörichter Weise geschmäht werden.

Also — ich wiederhole es — nicht umfangreicher, nur bemerkbarer, sicht¬
barer sind Not und Elend geworden. Schon damit ist eine nicht zu unter¬
schätzende Linderung gegeben. Denn wohin die Kunde der Not dringt, da
öffnen sich die Herzen und hilfreiche Hände. Wir senden Gaben nach Spanien
und Italien, wenn diese Länder durch Wasser, Feuer, durch Erdbeben oder
Seuchen heimgesucht werden, und wir empfangen Gaben selbst von Mitmenschen,
die jenseits des Ozeans leben, wenn wir der Hilfe bedürfen. Wir senden unsre


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[0021] Die Kehrseiten unsrer wirtschaftlichen Zustände. Unglücksfälle noch so sehr abnähmen, wir doch von einer größeren Menge der¬ selben hören würden, als unsre Vorfahren zu Zeiten, wo Sicherheit und Für¬ sorge sehr übel bestellt waren und das meiste, was vorging, sich allgemeiner Kenntnis entzog. Ganz ebenso ist es mit dem Elend. Es gab eine Zeit — und sie ist uicht allzuferne —, wo in Schwaben Mangel und gleichzeitig in Sachsen Überfluß herrschen konnte, ohne daß man hier oder dort ahnte, daß es drüben anders stünde. Das Platte Land oder das Gebirge konnte von Blattern oder Typhus heimgesucht sein, ohne daß man in der Hauptstadt davon Kunde hatte. Wenn im Frühjahr die Flüsse anschwollen, so suchte sich jeder, so gut er konnte, zu helfen; wie es aber oben im Gebirge aussah, davon wußte in der Ebene niemand. Jetzt melden Telegramme den Wasserstand von Stunde zu Stunde, und wirksame Vorkehrungen werden getroffen. Früher liefen tolle Hunde im Lande unbeachtet umher; krankes Vieh wurde geschlachtet, es entstanden Seuchen, die sich niemand zu erkläre» wußte, die Bevölkerung wurde dezimirt, aber niemand zählte die Toten, und es dauerte lange, bis man die Abnahme der Volkszahl bemerkte. Niemand kannte das Elend, welches in seinen Höhlen unbeachtet herrschte, nur wenige wußten von den unerhörten Zuständen in Gefängnissen und Irrenanstalten — kurz, es war alles wie mit einem Schleier zugedeckt, und die wenigen, die etwas sahen, standen vereinzelt, ohne Zusammenhang, ohne Beziehung zur übrigen Menschheit. Eben darum war auch das Gemein- und Mitgefühl für die leidenden Nebenmenschen viel weniger erregt und entwickelt. Ist es nötig, weitläufig zu schildern, wie dies alles anders geworden ist, seitdem die Presse und der ihr dienende Telegraph alles und jedes tagtäglich zu allgemeiner Kenntnis bringt, seitdem die entwickelten Verkehrsmittel, die mündlichen und schriftlichen Mitteilungen aller Menschen unter einander jedem einzelnen die Kenntnis der Gesamtzustande vermitteln? Eben darum, weil wir von allem Kenntnis erhalten, was irgendwo unsre Mitmenschen an Not und Elend, an Drangsal und Unheil betrifft, ist anch unser Mitgefühl erregter, unsre Teilnahme thätiger, unser Wunsch, zu helfen, lebhafter geworden. Und wenn in dem allen eine Veredlung des menschlichen Gemütes erblickt werden muß, so verdanken wir sie den materiellen Fortschritten, welche von kurzsichtigen Sittenlchrcrn oft in so thörichter Weise geschmäht werden. Also — ich wiederhole es — nicht umfangreicher, nur bemerkbarer, sicht¬ barer sind Not und Elend geworden. Schon damit ist eine nicht zu unter¬ schätzende Linderung gegeben. Denn wohin die Kunde der Not dringt, da öffnen sich die Herzen und hilfreiche Hände. Wir senden Gaben nach Spanien und Italien, wenn diese Länder durch Wasser, Feuer, durch Erdbeben oder Seuchen heimgesucht werden, und wir empfangen Gaben selbst von Mitmenschen, die jenseits des Ozeans leben, wenn wir der Hilfe bedürfen. Wir senden unsre

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/21>, abgerufen am 14.05.2024.