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Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr.

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Der Fremde in Rif.

und eine kleine Bucht mit einem schmalen Eingang umschließt. Die Schiffe
liefen hier mit der Flut ein und lagen während der Ebbe im Trocknen. Es
war ein englisches Kauffahrteischiff, wie sie in jener Zeit zu sein pflegten: dick¬
bauchig, mit zwei Masten, die jeder ein paar Raasegcl trugen, mit einem offenen
Raum in der Mitte und hohen verdeckten Räumen vorn und hinten.

Die Isländer waren behilflich, das Fahrzeug so hoch wie möglich aufs
Land zu ziehen, sie wechselten Grüße mit dem Schiffer und seinen Leuten
und machten dann dem Ortsvorsteher Platz, der zuerst an Bord ging. Sein
Amt war kein leichtes. Er mußte, sobald ein fremdes Schiff landete, mit dem
Schiffer die Taxe besprechen, nach welcher die Waaren verkauft werden sollten,
und da bares Geld selten war, so mußte man sich zur Zahlung der ge¬
trockneten Fische bedienen. War man über die Taxe, den sogenannten "Kauf¬
satz," einig geworden, so verkündete sie der Ortsvorsteher lant und deutlich und
forderte alle auf, sich darnach zu richten. Gleichzeitig wurde an der Handels¬
stelle eine Fahne aufgesteckt, zum Zeichen, daß der Friede nicht gebrochen werden
dürfe, und daß der Markt unter dem Schutze des Gesetzes stehe.

Am nächsten Vormittage kam der Prediger von Jugjaldshol, Sira John,
nach Rif hinunter, nicht um Handel zu treiben, sondern um nach Neuigkeiten
zu fragen und mit den Engländern zu sprechen. Er war in Schweden geboren,
hatte mehrere Jahre im Auslande studirt und sich größtenteils in England
aufgehalten, von wo aus er seiner Zeit mit einem der Bischöfe gekommen war,
mit denen dies Land die Insel zu versorgen pflegte. Er war ein gelehrter
Mann, der nicht allein in der klassischen Literatur bewandert war, sondern der
auch eine große Vorliebe für geographische Studien hatte. Nach besten Kräften
verfolgte er die Entdeckungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden. Da ihm
aber bei der Entlegenheit der Insel jeglicher Verkehr mit studirten Männern
fehlte und auch die Erlangung von Büchern zu jenen Zeiten Unüberwindliche
Schwierigkeiten bot, so konnte er im Grunde sein Wissen nur erweitern, indem
er sich mit den Fremden unterhielt, welche die Insel besuchten, und die Mit¬
teilungen, die er durch diese erhielt, waren oft im wahren Sinne des Wortes
"Schiffergeschichten." So waren im Laufe der Zeit seine geographischen Be¬
griffe zu einem wirren Gemisch von wirklicher Gelehrsamkeit und dichterischen
Phantasien geworden.

Er betrachtete seinen Aufenthalt auf Island -- wo er bereits zehn Jahre
war -- als eine Art Verbannung und die Eingebornen als Barbaren. Dies
verhinderte ihn aber nicht, seine Gemeinde mit großer Liebe zu umfassen Und
sein Amt mit treuer Sorgfalt zu üben. Die natürliche Folge davon wär, daß
die Gemeinde den "englischen Prediger," wie er allgemein hieß, sehr gern hatte
und seine Absonderlichkeiten, sowie seine Ungewandtheit in der Sprache der
Insel mit Nachsicht behandelte.

Als Sira John an jenem Vormittage zu dem Schiffe hinabkam, das jetzt


Der Fremde in Rif.

und eine kleine Bucht mit einem schmalen Eingang umschließt. Die Schiffe
liefen hier mit der Flut ein und lagen während der Ebbe im Trocknen. Es
war ein englisches Kauffahrteischiff, wie sie in jener Zeit zu sein pflegten: dick¬
bauchig, mit zwei Masten, die jeder ein paar Raasegcl trugen, mit einem offenen
Raum in der Mitte und hohen verdeckten Räumen vorn und hinten.

Die Isländer waren behilflich, das Fahrzeug so hoch wie möglich aufs
Land zu ziehen, sie wechselten Grüße mit dem Schiffer und seinen Leuten
und machten dann dem Ortsvorsteher Platz, der zuerst an Bord ging. Sein
Amt war kein leichtes. Er mußte, sobald ein fremdes Schiff landete, mit dem
Schiffer die Taxe besprechen, nach welcher die Waaren verkauft werden sollten,
und da bares Geld selten war, so mußte man sich zur Zahlung der ge¬
trockneten Fische bedienen. War man über die Taxe, den sogenannten „Kauf¬
satz," einig geworden, so verkündete sie der Ortsvorsteher lant und deutlich und
forderte alle auf, sich darnach zu richten. Gleichzeitig wurde an der Handels¬
stelle eine Fahne aufgesteckt, zum Zeichen, daß der Friede nicht gebrochen werden
dürfe, und daß der Markt unter dem Schutze des Gesetzes stehe.

Am nächsten Vormittage kam der Prediger von Jugjaldshol, Sira John,
nach Rif hinunter, nicht um Handel zu treiben, sondern um nach Neuigkeiten
zu fragen und mit den Engländern zu sprechen. Er war in Schweden geboren,
hatte mehrere Jahre im Auslande studirt und sich größtenteils in England
aufgehalten, von wo aus er seiner Zeit mit einem der Bischöfe gekommen war,
mit denen dies Land die Insel zu versorgen pflegte. Er war ein gelehrter
Mann, der nicht allein in der klassischen Literatur bewandert war, sondern der
auch eine große Vorliebe für geographische Studien hatte. Nach besten Kräften
verfolgte er die Entdeckungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden. Da ihm
aber bei der Entlegenheit der Insel jeglicher Verkehr mit studirten Männern
fehlte und auch die Erlangung von Büchern zu jenen Zeiten Unüberwindliche
Schwierigkeiten bot, so konnte er im Grunde sein Wissen nur erweitern, indem
er sich mit den Fremden unterhielt, welche die Insel besuchten, und die Mit¬
teilungen, die er durch diese erhielt, waren oft im wahren Sinne des Wortes
„Schiffergeschichten." So waren im Laufe der Zeit seine geographischen Be¬
griffe zu einem wirren Gemisch von wirklicher Gelehrsamkeit und dichterischen
Phantasien geworden.

Er betrachtete seinen Aufenthalt auf Island — wo er bereits zehn Jahre
war — als eine Art Verbannung und die Eingebornen als Barbaren. Dies
verhinderte ihn aber nicht, seine Gemeinde mit großer Liebe zu umfassen Und
sein Amt mit treuer Sorgfalt zu üben. Die natürliche Folge davon wär, daß
die Gemeinde den „englischen Prediger," wie er allgemein hieß, sehr gern hatte
und seine Absonderlichkeiten, sowie seine Ungewandtheit in der Sprache der
Insel mit Nachsicht behandelte.

Als Sira John an jenem Vormittage zu dem Schiffe hinabkam, das jetzt


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[0058] Der Fremde in Rif. und eine kleine Bucht mit einem schmalen Eingang umschließt. Die Schiffe liefen hier mit der Flut ein und lagen während der Ebbe im Trocknen. Es war ein englisches Kauffahrteischiff, wie sie in jener Zeit zu sein pflegten: dick¬ bauchig, mit zwei Masten, die jeder ein paar Raasegcl trugen, mit einem offenen Raum in der Mitte und hohen verdeckten Räumen vorn und hinten. Die Isländer waren behilflich, das Fahrzeug so hoch wie möglich aufs Land zu ziehen, sie wechselten Grüße mit dem Schiffer und seinen Leuten und machten dann dem Ortsvorsteher Platz, der zuerst an Bord ging. Sein Amt war kein leichtes. Er mußte, sobald ein fremdes Schiff landete, mit dem Schiffer die Taxe besprechen, nach welcher die Waaren verkauft werden sollten, und da bares Geld selten war, so mußte man sich zur Zahlung der ge¬ trockneten Fische bedienen. War man über die Taxe, den sogenannten „Kauf¬ satz," einig geworden, so verkündete sie der Ortsvorsteher lant und deutlich und forderte alle auf, sich darnach zu richten. Gleichzeitig wurde an der Handels¬ stelle eine Fahne aufgesteckt, zum Zeichen, daß der Friede nicht gebrochen werden dürfe, und daß der Markt unter dem Schutze des Gesetzes stehe. Am nächsten Vormittage kam der Prediger von Jugjaldshol, Sira John, nach Rif hinunter, nicht um Handel zu treiben, sondern um nach Neuigkeiten zu fragen und mit den Engländern zu sprechen. Er war in Schweden geboren, hatte mehrere Jahre im Auslande studirt und sich größtenteils in England aufgehalten, von wo aus er seiner Zeit mit einem der Bischöfe gekommen war, mit denen dies Land die Insel zu versorgen pflegte. Er war ein gelehrter Mann, der nicht allein in der klassischen Literatur bewandert war, sondern der auch eine große Vorliebe für geographische Studien hatte. Nach besten Kräften verfolgte er die Entdeckungen, die auf diesem Gebiete gemacht wurden. Da ihm aber bei der Entlegenheit der Insel jeglicher Verkehr mit studirten Männern fehlte und auch die Erlangung von Büchern zu jenen Zeiten Unüberwindliche Schwierigkeiten bot, so konnte er im Grunde sein Wissen nur erweitern, indem er sich mit den Fremden unterhielt, welche die Insel besuchten, und die Mit¬ teilungen, die er durch diese erhielt, waren oft im wahren Sinne des Wortes „Schiffergeschichten." So waren im Laufe der Zeit seine geographischen Be¬ griffe zu einem wirren Gemisch von wirklicher Gelehrsamkeit und dichterischen Phantasien geworden. Er betrachtete seinen Aufenthalt auf Island — wo er bereits zehn Jahre war — als eine Art Verbannung und die Eingebornen als Barbaren. Dies verhinderte ihn aber nicht, seine Gemeinde mit großer Liebe zu umfassen Und sein Amt mit treuer Sorgfalt zu üben. Die natürliche Folge davon wär, daß die Gemeinde den „englischen Prediger," wie er allgemein hieß, sehr gern hatte und seine Absonderlichkeiten, sowie seine Ungewandtheit in der Sprache der Insel mit Nachsicht behandelte. Als Sira John an jenem Vormittage zu dem Schiffe hinabkam, das jetzt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 46, 1887, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341845_200778/58>, abgerufen am 28.05.2024.