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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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David Beronski.

Geist tauchte eine Ahnung auf von einer ganz neuen, reinern und höhern
Lebensauffassung, als er sie bisher gekannt hatte.

Kein Einfluß der Welt darf dich abhalten, das Rechte zu thun!

Sprach jemand zu ihm? Nein, er war allein, nur in seinem Geiste hallten
die Worte wieder. Du bist unfrei, ein Knecht deiner Vorurteile, hatte Alexei
noch gesagt. Ein Knecht! Von welcher Gerechtigkeit war denn hier die Rede?
Man konnte darüber ja sehr verschiedne Ansichten haben, und die Edomiter legten
häufig einen ganz andern Sinn in ihre Worte, sie hatten ihre eigne Sprache.

"Was hattet ihr nun zu der Zeit für Fische? Welcher ihr euch jetzt
schämet," las er weiter.

Auch er hatte sich neulich geschämt, vor Alexei über sein Zögern, einem
Armen zu helfen, nicht mit Geld, was jeder andre auch gekonnt hätte, sondern
mit dem, was höher als Geld stand und was ihm hier kein andrer geben
konnte, mit seinem Wissen. Angemessenes Erstaunen, daß diese Worte so auf
ihn paßten, erfaßte ihn.

Ich muß den Zusammenhang erst kennen, murmelte er vor sich hin. Ein¬
zelnes kann richtig und gut klingen, selbst anscheinend den Sieg über das Alt¬
bekannte davon tragen, aber der Zusammenhang verkehrt es oft in das gerade
Gegenteil. Ich muß das ganze Buch lesen, um mir ein Urteil darüber bilden
zu können. Alexei hat Recht, es wäre eine kindische Schwäche, eine thörichte
Beschränktheit, sich davor zu fürchten. Es ist ein Buch wie ein andres auch,
und ich weiß ja, daß es darin von Lügen und Verdächtigungen gegen mein
Volk wimmelt. Die Lehre der Edomiter beruht auf einem Betrüge und ist auf
einem offenkundiger Lügengewebe aufgebaut.

Und David legte sich bequemer auf dem weichen Rasen zurecht und schlug
das erste Blatt des Buches auf; aus Furcht vor Alexeis Spott wollte er kein
Wort darin ungelesen lassen.

In einiger Entfernung kauerte Jeschka, die Arme um den Hals ihrer Ziege
geschlungen, die Augen fest auf David gerichtet.

Wie still war es auf der weiten Steppe! Kein Lufthauch rührte sich, hoch
in der Luft schwebte ein Adler, und wenn Jeschka nach ihm hinauf blickte, so
flimmerte die heiße Luft wie über einer Flamme. Nur vereinzelt ertönte das
Zirpen einer Cikade, das Locken eines Vogels. Die Natur schien zu schlafen,
und Jeschka blinzelte erst von Zeit zu Zeit mit den großen, blauen Augen und
hob dann die langbewimperten Lider immer seltener, immer schläfriger, um nach
David zu sehen, der unbeweglich im Schutze der blühenden Hecke lag.

Plötzlich schrak sie zusammen. David war aufgesprungen. Seine Rechte
hielt das kleine, schwarze Buch, die Linke preßte er auf sein Herz, wie um dessen
Schlag zu hemmen, und die Augen auf den glühenden Sonnenball gerichtet,
sagte er laut und zornig: Es ist alles Lüge, eitel Lüge, muß Lüge sein! Ich
werde nachforschen und es so finden.




David Beronski.

Geist tauchte eine Ahnung auf von einer ganz neuen, reinern und höhern
Lebensauffassung, als er sie bisher gekannt hatte.

Kein Einfluß der Welt darf dich abhalten, das Rechte zu thun!

Sprach jemand zu ihm? Nein, er war allein, nur in seinem Geiste hallten
die Worte wieder. Du bist unfrei, ein Knecht deiner Vorurteile, hatte Alexei
noch gesagt. Ein Knecht! Von welcher Gerechtigkeit war denn hier die Rede?
Man konnte darüber ja sehr verschiedne Ansichten haben, und die Edomiter legten
häufig einen ganz andern Sinn in ihre Worte, sie hatten ihre eigne Sprache.

„Was hattet ihr nun zu der Zeit für Fische? Welcher ihr euch jetzt
schämet," las er weiter.

Auch er hatte sich neulich geschämt, vor Alexei über sein Zögern, einem
Armen zu helfen, nicht mit Geld, was jeder andre auch gekonnt hätte, sondern
mit dem, was höher als Geld stand und was ihm hier kein andrer geben
konnte, mit seinem Wissen. Angemessenes Erstaunen, daß diese Worte so auf
ihn paßten, erfaßte ihn.

Ich muß den Zusammenhang erst kennen, murmelte er vor sich hin. Ein¬
zelnes kann richtig und gut klingen, selbst anscheinend den Sieg über das Alt¬
bekannte davon tragen, aber der Zusammenhang verkehrt es oft in das gerade
Gegenteil. Ich muß das ganze Buch lesen, um mir ein Urteil darüber bilden
zu können. Alexei hat Recht, es wäre eine kindische Schwäche, eine thörichte
Beschränktheit, sich davor zu fürchten. Es ist ein Buch wie ein andres auch,
und ich weiß ja, daß es darin von Lügen und Verdächtigungen gegen mein
Volk wimmelt. Die Lehre der Edomiter beruht auf einem Betrüge und ist auf
einem offenkundiger Lügengewebe aufgebaut.

Und David legte sich bequemer auf dem weichen Rasen zurecht und schlug
das erste Blatt des Buches auf; aus Furcht vor Alexeis Spott wollte er kein
Wort darin ungelesen lassen.

In einiger Entfernung kauerte Jeschka, die Arme um den Hals ihrer Ziege
geschlungen, die Augen fest auf David gerichtet.

Wie still war es auf der weiten Steppe! Kein Lufthauch rührte sich, hoch
in der Luft schwebte ein Adler, und wenn Jeschka nach ihm hinauf blickte, so
flimmerte die heiße Luft wie über einer Flamme. Nur vereinzelt ertönte das
Zirpen einer Cikade, das Locken eines Vogels. Die Natur schien zu schlafen,
und Jeschka blinzelte erst von Zeit zu Zeit mit den großen, blauen Augen und
hob dann die langbewimperten Lider immer seltener, immer schläfriger, um nach
David zu sehen, der unbeweglich im Schutze der blühenden Hecke lag.

Plötzlich schrak sie zusammen. David war aufgesprungen. Seine Rechte
hielt das kleine, schwarze Buch, die Linke preßte er auf sein Herz, wie um dessen
Schlag zu hemmen, und die Augen auf den glühenden Sonnenball gerichtet,
sagte er laut und zornig: Es ist alles Lüge, eitel Lüge, muß Lüge sein! Ich
werde nachforschen und es so finden.




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[0156] David Beronski. Geist tauchte eine Ahnung auf von einer ganz neuen, reinern und höhern Lebensauffassung, als er sie bisher gekannt hatte. Kein Einfluß der Welt darf dich abhalten, das Rechte zu thun! Sprach jemand zu ihm? Nein, er war allein, nur in seinem Geiste hallten die Worte wieder. Du bist unfrei, ein Knecht deiner Vorurteile, hatte Alexei noch gesagt. Ein Knecht! Von welcher Gerechtigkeit war denn hier die Rede? Man konnte darüber ja sehr verschiedne Ansichten haben, und die Edomiter legten häufig einen ganz andern Sinn in ihre Worte, sie hatten ihre eigne Sprache. „Was hattet ihr nun zu der Zeit für Fische? Welcher ihr euch jetzt schämet," las er weiter. Auch er hatte sich neulich geschämt, vor Alexei über sein Zögern, einem Armen zu helfen, nicht mit Geld, was jeder andre auch gekonnt hätte, sondern mit dem, was höher als Geld stand und was ihm hier kein andrer geben konnte, mit seinem Wissen. Angemessenes Erstaunen, daß diese Worte so auf ihn paßten, erfaßte ihn. Ich muß den Zusammenhang erst kennen, murmelte er vor sich hin. Ein¬ zelnes kann richtig und gut klingen, selbst anscheinend den Sieg über das Alt¬ bekannte davon tragen, aber der Zusammenhang verkehrt es oft in das gerade Gegenteil. Ich muß das ganze Buch lesen, um mir ein Urteil darüber bilden zu können. Alexei hat Recht, es wäre eine kindische Schwäche, eine thörichte Beschränktheit, sich davor zu fürchten. Es ist ein Buch wie ein andres auch, und ich weiß ja, daß es darin von Lügen und Verdächtigungen gegen mein Volk wimmelt. Die Lehre der Edomiter beruht auf einem Betrüge und ist auf einem offenkundiger Lügengewebe aufgebaut. Und David legte sich bequemer auf dem weichen Rasen zurecht und schlug das erste Blatt des Buches auf; aus Furcht vor Alexeis Spott wollte er kein Wort darin ungelesen lassen. In einiger Entfernung kauerte Jeschka, die Arme um den Hals ihrer Ziege geschlungen, die Augen fest auf David gerichtet. Wie still war es auf der weiten Steppe! Kein Lufthauch rührte sich, hoch in der Luft schwebte ein Adler, und wenn Jeschka nach ihm hinauf blickte, so flimmerte die heiße Luft wie über einer Flamme. Nur vereinzelt ertönte das Zirpen einer Cikade, das Locken eines Vogels. Die Natur schien zu schlafen, und Jeschka blinzelte erst von Zeit zu Zeit mit den großen, blauen Augen und hob dann die langbewimperten Lider immer seltener, immer schläfriger, um nach David zu sehen, der unbeweglich im Schutze der blühenden Hecke lag. Plötzlich schrak sie zusammen. David war aufgesprungen. Seine Rechte hielt das kleine, schwarze Buch, die Linke preßte er auf sein Herz, wie um dessen Schlag zu hemmen, und die Augen auf den glühenden Sonnenball gerichtet, sagte er laut und zornig: Es ist alles Lüge, eitel Lüge, muß Lüge sein! Ich werde nachforschen und es so finden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/156>, abgerufen am 15.06.2024.