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Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr.

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Heilgymnastik im Altertum.

lockerten: Boden zu marschiren hat ungefähr dieselbe Wirkung. Spazier¬
gänge auf Wiesengrund sind nicht anstrengend und haben etwas Beruhigendes,
aber sie wirken ungünstig auf die Kopfnerven wegen des Blumenduftcs und der
Feuchtigkeit. Aus demselben Grunde ist auch die Bewegung an Flüssen, Binnen¬
seen und auf thaugetränktem Boden nachteilig. Dagegen ist der Aufenthalt am
Meere in jeder Beziehung zu empfehlen. Bewegung in weiten, offnen Ebenen
thut den Atmungswerkzeugen gut, tiefe Thäler oder Schluchten sind wegen der
schlechten Beschaffenheit der Luft zu vermeiden. Spciziergängc auf der Land¬
straße sind zuträglicher als solche in künstlich angelegten Wandelbahnen, zumal
wenn diese so kurz sind, daß der Gehende oft Kehrt machen muß. Am aller-
angenehmsten aber ist die Bewegung auf der Höhe, weil man hier den Aus¬
dünstungen der Erde entzogen ist und vollkommen reine Lust atmet. Der Bau¬
meister Sostratos, derselbe, welcher unter Ptolemäus Lagi den weltberühmten
Leuchtturm auf der Insel Pharos erbaut hat, kam nach dem Zeugnisse des
ältern Plinins auf den Einfall, schwebende Wandelbahnen (xonsilss Mroula-
tionvs) zu errichten. Er legte eine solche in seiner Heimat Knidos an, und
dieses Beispiel fand bald Nachahmung. Nun hatte auch der Bewohner des
Flachlandes Gelegenheit, sich hoch über der Erde im Freien zu ergehen, auch
bei ungünstiger Witterung; denn diese Gerüste werden wohl mit einem Wetter¬
dach versehen gewesen sein. Noch besser aber, sagt Antyllus, ist es, wenn die
Bahn lediglich aus Brettern ohne massiven Unterbau besteht. Denn diese
geben, wenn man darüber hinschreitet, nach, und ihr Schwanken erleichtert den
Kopf und leitet, was bei aller Gymnastik die Hauptsache ist, die Säfte nach
unten. Ähnliche Geräte -- schwebende Brücken könnte man sie nennen -- sieht
man heutzutage wohl in den Militärturnanstalten; nur dient die Benutzung
derselben nicht als Mittel gegen Blutandrang nach dem Kopfe, sondern als
Übung zum Festungskriege. Übrigens ist nicht jedem die Bewegung ans dem
schwankenden Boden behaglich. Endlich durften in einem Buche, das fo sorgsam
ausgeklügelte Anweisungen enthält, wie das des Antyllus, auch der Wind und
die Windrichtungen nicht übergangen werden. Am zuträglichsten ist natürlich
im allgemeinen ruhige Luft und Windstille. Der Nordwind schadet der Brust
und erregt Husten, stärkt jedoch den Magen und kräftigt die Sinne, d. h. er
regt die Nerventhätigkeit an. Der Südwind dagegen erschlafft das Nerven¬
system, macht den Kopf schwer und bewirkt leicht Durchfall. Am wohlthätigsten
von allen Winden wirkt der Westwind, während die Bewegung bei Ostwind
geradezu als schädlich bezeichnet wird. Spaziergänge in der Sonnenhitze, heißt
es weiter, sind vom Übel, besser ist es, sich im Schatten der Bäume zu ergehen,
aber es kommt auf die Art derselben an. Heitere Luft fördert die Bewegung
mehr als bedeckter Himmel. Ein Morgenspaziergang wirkt auf die Verdauung,
macht den Körper frisch und erleichtert das Atmen. Abeudspaziergänge zer¬
streuen die überflüssigen Gase und schaffen eine wohlthätige Ermüdung. Von


Heilgymnastik im Altertum.

lockerten: Boden zu marschiren hat ungefähr dieselbe Wirkung. Spazier¬
gänge auf Wiesengrund sind nicht anstrengend und haben etwas Beruhigendes,
aber sie wirken ungünstig auf die Kopfnerven wegen des Blumenduftcs und der
Feuchtigkeit. Aus demselben Grunde ist auch die Bewegung an Flüssen, Binnen¬
seen und auf thaugetränktem Boden nachteilig. Dagegen ist der Aufenthalt am
Meere in jeder Beziehung zu empfehlen. Bewegung in weiten, offnen Ebenen
thut den Atmungswerkzeugen gut, tiefe Thäler oder Schluchten sind wegen der
schlechten Beschaffenheit der Luft zu vermeiden. Spciziergängc auf der Land¬
straße sind zuträglicher als solche in künstlich angelegten Wandelbahnen, zumal
wenn diese so kurz sind, daß der Gehende oft Kehrt machen muß. Am aller-
angenehmsten aber ist die Bewegung auf der Höhe, weil man hier den Aus¬
dünstungen der Erde entzogen ist und vollkommen reine Lust atmet. Der Bau¬
meister Sostratos, derselbe, welcher unter Ptolemäus Lagi den weltberühmten
Leuchtturm auf der Insel Pharos erbaut hat, kam nach dem Zeugnisse des
ältern Plinins auf den Einfall, schwebende Wandelbahnen (xonsilss Mroula-
tionvs) zu errichten. Er legte eine solche in seiner Heimat Knidos an, und
dieses Beispiel fand bald Nachahmung. Nun hatte auch der Bewohner des
Flachlandes Gelegenheit, sich hoch über der Erde im Freien zu ergehen, auch
bei ungünstiger Witterung; denn diese Gerüste werden wohl mit einem Wetter¬
dach versehen gewesen sein. Noch besser aber, sagt Antyllus, ist es, wenn die
Bahn lediglich aus Brettern ohne massiven Unterbau besteht. Denn diese
geben, wenn man darüber hinschreitet, nach, und ihr Schwanken erleichtert den
Kopf und leitet, was bei aller Gymnastik die Hauptsache ist, die Säfte nach
unten. Ähnliche Geräte — schwebende Brücken könnte man sie nennen — sieht
man heutzutage wohl in den Militärturnanstalten; nur dient die Benutzung
derselben nicht als Mittel gegen Blutandrang nach dem Kopfe, sondern als
Übung zum Festungskriege. Übrigens ist nicht jedem die Bewegung ans dem
schwankenden Boden behaglich. Endlich durften in einem Buche, das fo sorgsam
ausgeklügelte Anweisungen enthält, wie das des Antyllus, auch der Wind und
die Windrichtungen nicht übergangen werden. Am zuträglichsten ist natürlich
im allgemeinen ruhige Luft und Windstille. Der Nordwind schadet der Brust
und erregt Husten, stärkt jedoch den Magen und kräftigt die Sinne, d. h. er
regt die Nerventhätigkeit an. Der Südwind dagegen erschlafft das Nerven¬
system, macht den Kopf schwer und bewirkt leicht Durchfall. Am wohlthätigsten
von allen Winden wirkt der Westwind, während die Bewegung bei Ostwind
geradezu als schädlich bezeichnet wird. Spaziergänge in der Sonnenhitze, heißt
es weiter, sind vom Übel, besser ist es, sich im Schatten der Bäume zu ergehen,
aber es kommt auf die Art derselben an. Heitere Luft fördert die Bewegung
mehr als bedeckter Himmel. Ein Morgenspaziergang wirkt auf die Verdauung,
macht den Körper frisch und erleichtert das Atmen. Abeudspaziergänge zer¬
streuen die überflüssigen Gase und schaffen eine wohlthätige Ermüdung. Von


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[0179] Heilgymnastik im Altertum. lockerten: Boden zu marschiren hat ungefähr dieselbe Wirkung. Spazier¬ gänge auf Wiesengrund sind nicht anstrengend und haben etwas Beruhigendes, aber sie wirken ungünstig auf die Kopfnerven wegen des Blumenduftcs und der Feuchtigkeit. Aus demselben Grunde ist auch die Bewegung an Flüssen, Binnen¬ seen und auf thaugetränktem Boden nachteilig. Dagegen ist der Aufenthalt am Meere in jeder Beziehung zu empfehlen. Bewegung in weiten, offnen Ebenen thut den Atmungswerkzeugen gut, tiefe Thäler oder Schluchten sind wegen der schlechten Beschaffenheit der Luft zu vermeiden. Spciziergängc auf der Land¬ straße sind zuträglicher als solche in künstlich angelegten Wandelbahnen, zumal wenn diese so kurz sind, daß der Gehende oft Kehrt machen muß. Am aller- angenehmsten aber ist die Bewegung auf der Höhe, weil man hier den Aus¬ dünstungen der Erde entzogen ist und vollkommen reine Lust atmet. Der Bau¬ meister Sostratos, derselbe, welcher unter Ptolemäus Lagi den weltberühmten Leuchtturm auf der Insel Pharos erbaut hat, kam nach dem Zeugnisse des ältern Plinins auf den Einfall, schwebende Wandelbahnen (xonsilss Mroula- tionvs) zu errichten. Er legte eine solche in seiner Heimat Knidos an, und dieses Beispiel fand bald Nachahmung. Nun hatte auch der Bewohner des Flachlandes Gelegenheit, sich hoch über der Erde im Freien zu ergehen, auch bei ungünstiger Witterung; denn diese Gerüste werden wohl mit einem Wetter¬ dach versehen gewesen sein. Noch besser aber, sagt Antyllus, ist es, wenn die Bahn lediglich aus Brettern ohne massiven Unterbau besteht. Denn diese geben, wenn man darüber hinschreitet, nach, und ihr Schwanken erleichtert den Kopf und leitet, was bei aller Gymnastik die Hauptsache ist, die Säfte nach unten. Ähnliche Geräte — schwebende Brücken könnte man sie nennen — sieht man heutzutage wohl in den Militärturnanstalten; nur dient die Benutzung derselben nicht als Mittel gegen Blutandrang nach dem Kopfe, sondern als Übung zum Festungskriege. Übrigens ist nicht jedem die Bewegung ans dem schwankenden Boden behaglich. Endlich durften in einem Buche, das fo sorgsam ausgeklügelte Anweisungen enthält, wie das des Antyllus, auch der Wind und die Windrichtungen nicht übergangen werden. Am zuträglichsten ist natürlich im allgemeinen ruhige Luft und Windstille. Der Nordwind schadet der Brust und erregt Husten, stärkt jedoch den Magen und kräftigt die Sinne, d. h. er regt die Nerventhätigkeit an. Der Südwind dagegen erschlafft das Nerven¬ system, macht den Kopf schwer und bewirkt leicht Durchfall. Am wohlthätigsten von allen Winden wirkt der Westwind, während die Bewegung bei Ostwind geradezu als schädlich bezeichnet wird. Spaziergänge in der Sonnenhitze, heißt es weiter, sind vom Übel, besser ist es, sich im Schatten der Bäume zu ergehen, aber es kommt auf die Art derselben an. Heitere Luft fördert die Bewegung mehr als bedeckter Himmel. Ein Morgenspaziergang wirkt auf die Verdauung, macht den Körper frisch und erleichtert das Atmen. Abeudspaziergänge zer¬ streuen die überflüssigen Gase und schaffen eine wohlthätige Ermüdung. Von

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 47, 1888, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341847_202098/179>, abgerufen am 15.06.2024.