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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Die Geschichte von dem kranken Aönigssolnie

gerecht sei. Der Entschluß des Seleukos wird endlich von dem Berichterstatter
als eine That gefeiert, die alle seine Siege weit überstrahle.

Etwas kürzer ist die Erzählung, die Lukian in der Abhandlung "Über
die Göttin der Syrier" giebt. Aber die Übereinstimmung mit Plutnrch ist
auch hier augenfällig, und der abweichenden Züge giebt es nur wenige. Un¬
erheblich ist es, wenn die Selbstmordgedanken des Prinzen verschwiegen werden,
wenn die Personen des Hofes nicht zufällig, sondern aus Anordnung des Arztes,
dessen Name übrigens nicht genannt wird, der Reihe nach ins Zimmer treten,
wichtiger, wie wir sehen werden, daß der Arzt, um die seelische Erregung des
kranken festzustellen, die Hand ans dessen Herz gelegt hat, und während die
Schonen eintreten und vorübergehen, den Schlag des Herzens beobachtet. Da¬
gegen stimmt die Unterredung des Arztes mit dein König wieder Zug sür Zug
mit dem Plutarch. Auch hier der kluge Einfall des Arztes, die eigne Gattin
vorzuschieben, um die Gesinnung des Königs zu prüfen. Aber wesentlich kürzer
ist der Schluß, dem die Erwähnung der Volksversammlung und die königliche
Ansprache fehlt, während der Verzicht auf die Herrschaft auf das ganze Reich
des Selenkos ausgedehnt ist.

Noch größere Besonderheit zeigt der kurze Bericht, der sich im fünften
Buche der Denkwürdigkeiten des Valerius Maximus findet und von allen uns
erhaltenen der älteste ist. Antivchos -- heißt er dort -- sucht seine unerlaubte
Liebe zu seiner Stiefmutter durch die Selbstüberwindung eines pflichttreuen
Sohnes zu verbergen. Infolgedessen erkrankt er und liegt darnieder, einem
Sterbenden gleich. Der Retter ist der Mathematiker Leptines oder, ut quia^in
alcun, der Arzt Erasitratos. Dieser bemerkt, indem er am Bette des Kranken
sitzt, wie das Gesicht des Jünglings beim Eintritt der Stratvnite plötzlich
von heißer Röte übergössen wird und der Atem schneller zu gehen beginnt
mis sonst, daß aber die Blässe und die gewöhnliche Atmung zurückkehrt,
sobald die schöne Stiefmutter das Zimmer verlassen hat. Das bringt den
Arzt auf die richtige Spur. Er faßt, so oft Stratouike ins Zimmer tritt,
verstohlen den Arm des Kranken und befühlt den Puls. Aus dem Wechsel
desselben erkennt er die Natur der Krankheit und ihre Ursache. Als¬
bald teilt er das Ergebnis seiner Beobachtung dem. Seleukos mit, worauf
dieser kein Bedenken trägt, dem geliebten Sohne die geliebte Gattin zu
überlassen.

Man sieht, daß zur Zeit des Valerius, also im ersten Jahrhundert unsrer
Zeitrechnung, ja vielleicht noch bedeutend früher, die Überlieferung in Betreff
der Persönlichkeit des Arztes bereits ins Schwanken geraten war, ferner daß
die Untersuchung des Pulsschlages als das Mittel, das zur richtigen Diagnose
führt, besonders betont wird. Dagegen fehlt in dem kurzen Berichte die inehr-
Mvn'hüte List des Arztes, sein eignes Weib zu nennen, und das sich daran
knüpfende Gespräch mit dem König, ferner die Angabe, daß der König samt


Gveuzboteu I 1889 23
Die Geschichte von dem kranken Aönigssolnie

gerecht sei. Der Entschluß des Seleukos wird endlich von dem Berichterstatter
als eine That gefeiert, die alle seine Siege weit überstrahle.

Etwas kürzer ist die Erzählung, die Lukian in der Abhandlung „Über
die Göttin der Syrier" giebt. Aber die Übereinstimmung mit Plutnrch ist
auch hier augenfällig, und der abweichenden Züge giebt es nur wenige. Un¬
erheblich ist es, wenn die Selbstmordgedanken des Prinzen verschwiegen werden,
wenn die Personen des Hofes nicht zufällig, sondern aus Anordnung des Arztes,
dessen Name übrigens nicht genannt wird, der Reihe nach ins Zimmer treten,
wichtiger, wie wir sehen werden, daß der Arzt, um die seelische Erregung des
kranken festzustellen, die Hand ans dessen Herz gelegt hat, und während die
Schonen eintreten und vorübergehen, den Schlag des Herzens beobachtet. Da¬
gegen stimmt die Unterredung des Arztes mit dein König wieder Zug sür Zug
mit dem Plutarch. Auch hier der kluge Einfall des Arztes, die eigne Gattin
vorzuschieben, um die Gesinnung des Königs zu prüfen. Aber wesentlich kürzer
ist der Schluß, dem die Erwähnung der Volksversammlung und die königliche
Ansprache fehlt, während der Verzicht auf die Herrschaft auf das ganze Reich
des Selenkos ausgedehnt ist.

Noch größere Besonderheit zeigt der kurze Bericht, der sich im fünften
Buche der Denkwürdigkeiten des Valerius Maximus findet und von allen uns
erhaltenen der älteste ist. Antivchos — heißt er dort — sucht seine unerlaubte
Liebe zu seiner Stiefmutter durch die Selbstüberwindung eines pflichttreuen
Sohnes zu verbergen. Infolgedessen erkrankt er und liegt darnieder, einem
Sterbenden gleich. Der Retter ist der Mathematiker Leptines oder, ut quia^in
alcun, der Arzt Erasitratos. Dieser bemerkt, indem er am Bette des Kranken
sitzt, wie das Gesicht des Jünglings beim Eintritt der Stratvnite plötzlich
von heißer Röte übergössen wird und der Atem schneller zu gehen beginnt
mis sonst, daß aber die Blässe und die gewöhnliche Atmung zurückkehrt,
sobald die schöne Stiefmutter das Zimmer verlassen hat. Das bringt den
Arzt auf die richtige Spur. Er faßt, so oft Stratouike ins Zimmer tritt,
verstohlen den Arm des Kranken und befühlt den Puls. Aus dem Wechsel
desselben erkennt er die Natur der Krankheit und ihre Ursache. Als¬
bald teilt er das Ergebnis seiner Beobachtung dem. Seleukos mit, worauf
dieser kein Bedenken trägt, dem geliebten Sohne die geliebte Gattin zu
überlassen.

Man sieht, daß zur Zeit des Valerius, also im ersten Jahrhundert unsrer
Zeitrechnung, ja vielleicht noch bedeutend früher, die Überlieferung in Betreff
der Persönlichkeit des Arztes bereits ins Schwanken geraten war, ferner daß
die Untersuchung des Pulsschlages als das Mittel, das zur richtigen Diagnose
führt, besonders betont wird. Dagegen fehlt in dem kurzen Berichte die inehr-
Mvn'hüte List des Arztes, sein eignes Weib zu nennen, und das sich daran
knüpfende Gespräch mit dem König, ferner die Angabe, daß der König samt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/225>, abgerufen am 17.06.2024.