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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Das Zeitalter der Tenoristen

piu späteres Geschlecht wird unsre Zeit leider nicht bloß die
"Aem Bismarck" nennen können. Wir sind überzeugt, wenn
!es nach einer Bezeichnung suchen wird, um den ganzen Gegen¬
satz, in dem ihre (künstlich gezüchtete) künstlerische Versumpfung
jjzu jener Höhenerscheinung des Menschengeistes steht, so wird es
am allerehesten auf die Bezeichnung "Zeitalter der Tenoristen" als die nach
jeder Richtung hin schlagendste verfallen. Als der elende Ludwig XV. und seine
Pompadour der politische Ausdruck der europäischen Kulturmncht war, da gab es
das Zeitalter der Encyklopädisten, das alle Gebiete und Lebenskreise mit seiner
geistigen Rührigkeit erfüllte, und wir, wir Söhne des neuen Deutschen
Reiches, wir befinden uns eben im Zeitalter der Tenoristen. Muß das so
sein? Bedingt etwa die Zusammenfassung der Lebensenergie des "Genius der
Menschheit" in gewaltigen Helden der That die völlige Auszehrung der rein
geistigen Kraft, des "Intellekts," um mit Schopenhauer zu reden, und um¬
gekehrt, wie man von gewisser Seite anzüglich mahnt? Das gerade Gegenteil
beweisen die mit Perikles, Caesar, Karl dem Großen, den Hohenstaufen u. s. f.
lebenden Geschlechter. Ein bedenklicheres Stadium der geistigen Auszehrung
aber, als das, das sich gegenwärtig in dem Symptom der "Tenoristenwut"
ausspricht, wüßten wir uns -- mit Verlaub -- gar nicht zu denken, wenn
wir nicht, wie gesagt, die leise Hoffnung hegten, daß es nur künstlich
erzeugt sei und nnr die Oberfläche beherrsche. Aber die beherrscht es, und
zwar in so beängstigenden Grade, daß es für die gesunden Elemente aller¬
höchste Zeit ist, sich nach dieser Richtung endlich einmal gründlich zu regen,
um dem Organismus seine Lebensfähigkeit zu bezeuge". Wir haben der
von Jahr zu Jahr sich steigernden Tollhäuslerbegeisterling für diese modernen
Kastraten bisher ruhig zugesehen, in der festen Zuversicht, dagegen wenigstens,
als gegen einen zu offenkundiger, geradezu veitstauzähnlichen Masfenirrsiun
werde die "Volksseele" von selbst einmal wnchtig reagiren, indem es die von
der spontanen Hohen-v-Epilepsie befallenen Veifallsbrüller im Theater und
Konzertsanl einfach an die Luft setze, oder die betreffenden Kaffenstürmer und
-stürmerinnen hinter Schloß und Riegel der Familienpvlizei sperre. Aber die
Sache wird mit jedem Tage schlimmer. Den ersten "Götzen" des Publikums,
bei dein die Manie einen gefährlichen Charakter annahm, hat die strafende




Das Zeitalter der Tenoristen

piu späteres Geschlecht wird unsre Zeit leider nicht bloß die
„Aem Bismarck" nennen können. Wir sind überzeugt, wenn
!es nach einer Bezeichnung suchen wird, um den ganzen Gegen¬
satz, in dem ihre (künstlich gezüchtete) künstlerische Versumpfung
jjzu jener Höhenerscheinung des Menschengeistes steht, so wird es
am allerehesten auf die Bezeichnung „Zeitalter der Tenoristen" als die nach
jeder Richtung hin schlagendste verfallen. Als der elende Ludwig XV. und seine
Pompadour der politische Ausdruck der europäischen Kulturmncht war, da gab es
das Zeitalter der Encyklopädisten, das alle Gebiete und Lebenskreise mit seiner
geistigen Rührigkeit erfüllte, und wir, wir Söhne des neuen Deutschen
Reiches, wir befinden uns eben im Zeitalter der Tenoristen. Muß das so
sein? Bedingt etwa die Zusammenfassung der Lebensenergie des „Genius der
Menschheit" in gewaltigen Helden der That die völlige Auszehrung der rein
geistigen Kraft, des „Intellekts," um mit Schopenhauer zu reden, und um¬
gekehrt, wie man von gewisser Seite anzüglich mahnt? Das gerade Gegenteil
beweisen die mit Perikles, Caesar, Karl dem Großen, den Hohenstaufen u. s. f.
lebenden Geschlechter. Ein bedenklicheres Stadium der geistigen Auszehrung
aber, als das, das sich gegenwärtig in dem Symptom der „Tenoristenwut"
ausspricht, wüßten wir uns — mit Verlaub — gar nicht zu denken, wenn
wir nicht, wie gesagt, die leise Hoffnung hegten, daß es nur künstlich
erzeugt sei und nnr die Oberfläche beherrsche. Aber die beherrscht es, und
zwar in so beängstigenden Grade, daß es für die gesunden Elemente aller¬
höchste Zeit ist, sich nach dieser Richtung endlich einmal gründlich zu regen,
um dem Organismus seine Lebensfähigkeit zu bezeuge». Wir haben der
von Jahr zu Jahr sich steigernden Tollhäuslerbegeisterling für diese modernen
Kastraten bisher ruhig zugesehen, in der festen Zuversicht, dagegen wenigstens,
als gegen einen zu offenkundiger, geradezu veitstauzähnlichen Masfenirrsiun
werde die „Volksseele" von selbst einmal wnchtig reagiren, indem es die von
der spontanen Hohen-v-Epilepsie befallenen Veifallsbrüller im Theater und
Konzertsanl einfach an die Luft setze, oder die betreffenden Kaffenstürmer und
-stürmerinnen hinter Schloß und Riegel der Familienpvlizei sperre. Aber die
Sache wird mit jedem Tage schlimmer. Den ersten „Götzen" des Publikums,
bei dein die Manie einen gefährlichen Charakter annahm, hat die strafende


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[0239] [Abbildung] Das Zeitalter der Tenoristen piu späteres Geschlecht wird unsre Zeit leider nicht bloß die „Aem Bismarck" nennen können. Wir sind überzeugt, wenn !es nach einer Bezeichnung suchen wird, um den ganzen Gegen¬ satz, in dem ihre (künstlich gezüchtete) künstlerische Versumpfung jjzu jener Höhenerscheinung des Menschengeistes steht, so wird es am allerehesten auf die Bezeichnung „Zeitalter der Tenoristen" als die nach jeder Richtung hin schlagendste verfallen. Als der elende Ludwig XV. und seine Pompadour der politische Ausdruck der europäischen Kulturmncht war, da gab es das Zeitalter der Encyklopädisten, das alle Gebiete und Lebenskreise mit seiner geistigen Rührigkeit erfüllte, und wir, wir Söhne des neuen Deutschen Reiches, wir befinden uns eben im Zeitalter der Tenoristen. Muß das so sein? Bedingt etwa die Zusammenfassung der Lebensenergie des „Genius der Menschheit" in gewaltigen Helden der That die völlige Auszehrung der rein geistigen Kraft, des „Intellekts," um mit Schopenhauer zu reden, und um¬ gekehrt, wie man von gewisser Seite anzüglich mahnt? Das gerade Gegenteil beweisen die mit Perikles, Caesar, Karl dem Großen, den Hohenstaufen u. s. f. lebenden Geschlechter. Ein bedenklicheres Stadium der geistigen Auszehrung aber, als das, das sich gegenwärtig in dem Symptom der „Tenoristenwut" ausspricht, wüßten wir uns — mit Verlaub — gar nicht zu denken, wenn wir nicht, wie gesagt, die leise Hoffnung hegten, daß es nur künstlich erzeugt sei und nnr die Oberfläche beherrsche. Aber die beherrscht es, und zwar in so beängstigenden Grade, daß es für die gesunden Elemente aller¬ höchste Zeit ist, sich nach dieser Richtung endlich einmal gründlich zu regen, um dem Organismus seine Lebensfähigkeit zu bezeuge». Wir haben der von Jahr zu Jahr sich steigernden Tollhäuslerbegeisterling für diese modernen Kastraten bisher ruhig zugesehen, in der festen Zuversicht, dagegen wenigstens, als gegen einen zu offenkundiger, geradezu veitstauzähnlichen Masfenirrsiun werde die „Volksseele" von selbst einmal wnchtig reagiren, indem es die von der spontanen Hohen-v-Epilepsie befallenen Veifallsbrüller im Theater und Konzertsanl einfach an die Luft setze, oder die betreffenden Kaffenstürmer und -stürmerinnen hinter Schloß und Riegel der Familienpvlizei sperre. Aber die Sache wird mit jedem Tage schlimmer. Den ersten „Götzen" des Publikums, bei dein die Manie einen gefährlichen Charakter annahm, hat die strafende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/239>, abgerufen am 17.06.2024.