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Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.

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Das Zeitalter der Tenoristen

Beifall. Da -- im dritten Akt in der berühmten Stretta dringt plötzlich ans
der Brust des kleinen Helden (aha! nicht mehr "Knirps!") rein, mächtig,
glanzvoll -- ein hohes v, so sin "berückend, so berauschend, daß sich der
Anblick des Theaters wie mit einem Schlage ändert. Das Publikum bricht in
"frenetischen Applaus aus" (so!), es jubelt, es lacht und weint (so!), es schreit
Da. oaxo und nach der Wiederholung immer wieder Da vaxo! Ja unser Held
(nicht mehr "kleiner Held"!) hat eine Stimme, aber sie sängt erst an beim 6
und gipfelt im 0. Und diese Stimme, es ist eine Stimme, eine Stimme --!"
Und so fort im Veitstanz.

Lieber Leser, verehrungswürdige Leserin -- denn auf dich rechnet man
ganz besonders bei diesem Anruf des Menschenverstandes und der Menschen¬
würde -- dn weißt, man bindet dir hier keine Fabeln auf, so oder so ähnlich
liesest du es ja jede "Saison" entweder in deiner Zeitung oder -- so du zu
der verständigen Minderheit gehörst, die sogenannte akademisch "langweilige"
oder gar keine Zeitungen hält -- doch jedenfalls im Neklameteil deines Konzert-
vder Theaterzettels. Aber das mit dem Knirps und der brüchigen Stimme,
das ist doch übertrieben! Nein, verehrungswürdige Leserin, das ist nicht über¬
trieben, das ist das Neue an dem bezeichneten Krankheitssymptom, der Punkt,
mit den, uns eben das Stadium des ausgesprochenen Veitstanzes und Massen¬
irrsinns (moros .M. Viti sxiävm.) erreicht zu sein scheint. Die Erscheinung
giebt sich nach diesen Berichten über den neuesten Stern am Gesangshimmel,
die wir schon seit einiger Zeit mit steigender Besorgnis verfolgen und in ihrer
grüßlichen Quintessenz immer übereinstimmend finden, wirklich ganz nackt als
das, wofür wir sie immer gehalten haben, für eine krankhafte Exaltation der
Massen durch gewisse Töne der männlichen Fistelstimme. Vielleicht ist es ver¬
erbt -- man nennt das überspringende Vererbung --, vielleicht schreibt es sich
zurück auf die "exeitirende Wirkung," die einst vor Jahrtausenden die ver¬
zückten Qniektöue eines "stimmlich" hochbegabten Orangs auf die "bessere"
Affengesellschaft der asiatischen Wälder hervorbrachte. Das hat nun so und so
lange ein kleines Jahrhuuderttauseudchen -- geruht, und min "spukt es
wieder," wie unsre modernen darwinistischen Poeten sagen. Die silberne Rüstung,
die Bärenfelle, die Trikots, und was sonst an einem musikalischen Bühnen-
Werk drum und dran häugt, das fällt jetzt alles weg, es bleibt die reine, bloße
Schreipuppe mit der Falsettstimme, der quiekende Knirps, aber -- mit dein
hohen 0. llx<zwM cloosut..

Man sage nicht, daß das doch immer so gewesen sei. Die rein sinnliche,
mit dem Vergnügen des Wohlgeruchs ziemlich auf gleicher Stufe stehende Lust
am bloßen sinnlichen Wohlklange der Menschenstimme hat es immer gegeben,
und sie ist stets für etwas geistig sehr tiefstehendes von allen und gerade den
musikfreundlichen geistig urteilsfähigen gehalten worden. Das Zeitalter der
italienischen Kastraten und Primadonnen liegt ja noch gar nicht so weit hinter


Grenzlwtm 1 1889 30
Das Zeitalter der Tenoristen

Beifall. Da — im dritten Akt in der berühmten Stretta dringt plötzlich ans
der Brust des kleinen Helden (aha! nicht mehr „Knirps!") rein, mächtig,
glanzvoll — ein hohes v, so sin «berückend, so berauschend, daß sich der
Anblick des Theaters wie mit einem Schlage ändert. Das Publikum bricht in
„frenetischen Applaus aus" (so!), es jubelt, es lacht und weint (so!), es schreit
Da. oaxo und nach der Wiederholung immer wieder Da vaxo! Ja unser Held
(nicht mehr „kleiner Held"!) hat eine Stimme, aber sie sängt erst an beim 6
und gipfelt im 0. Und diese Stimme, es ist eine Stimme, eine Stimme —!"
Und so fort im Veitstanz.

Lieber Leser, verehrungswürdige Leserin — denn auf dich rechnet man
ganz besonders bei diesem Anruf des Menschenverstandes und der Menschen¬
würde — dn weißt, man bindet dir hier keine Fabeln auf, so oder so ähnlich
liesest du es ja jede „Saison" entweder in deiner Zeitung oder — so du zu
der verständigen Minderheit gehörst, die sogenannte akademisch „langweilige"
oder gar keine Zeitungen hält — doch jedenfalls im Neklameteil deines Konzert-
vder Theaterzettels. Aber das mit dem Knirps und der brüchigen Stimme,
das ist doch übertrieben! Nein, verehrungswürdige Leserin, das ist nicht über¬
trieben, das ist das Neue an dem bezeichneten Krankheitssymptom, der Punkt,
mit den, uns eben das Stadium des ausgesprochenen Veitstanzes und Massen¬
irrsinns (moros .M. Viti sxiävm.) erreicht zu sein scheint. Die Erscheinung
giebt sich nach diesen Berichten über den neuesten Stern am Gesangshimmel,
die wir schon seit einiger Zeit mit steigender Besorgnis verfolgen und in ihrer
grüßlichen Quintessenz immer übereinstimmend finden, wirklich ganz nackt als
das, wofür wir sie immer gehalten haben, für eine krankhafte Exaltation der
Massen durch gewisse Töne der männlichen Fistelstimme. Vielleicht ist es ver¬
erbt — man nennt das überspringende Vererbung —, vielleicht schreibt es sich
zurück auf die „exeitirende Wirkung," die einst vor Jahrtausenden die ver¬
zückten Qniektöue eines „stimmlich" hochbegabten Orangs auf die „bessere"
Affengesellschaft der asiatischen Wälder hervorbrachte. Das hat nun so und so
lange ein kleines Jahrhuuderttauseudchen — geruht, und min „spukt es
wieder," wie unsre modernen darwinistischen Poeten sagen. Die silberne Rüstung,
die Bärenfelle, die Trikots, und was sonst an einem musikalischen Bühnen-
Werk drum und dran häugt, das fällt jetzt alles weg, es bleibt die reine, bloße
Schreipuppe mit der Falsettstimme, der quiekende Knirps, aber — mit dein
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Man sage nicht, daß das doch immer so gewesen sei. Die rein sinnliche,
mit dem Vergnügen des Wohlgeruchs ziemlich auf gleicher Stufe stehende Lust
am bloßen sinnlichen Wohlklange der Menschenstimme hat es immer gegeben,
und sie ist stets für etwas geistig sehr tiefstehendes von allen und gerade den
musikfreundlichen geistig urteilsfähigen gehalten worden. Das Zeitalter der
italienischen Kastraten und Primadonnen liegt ja noch gar nicht so weit hinter


Grenzlwtm 1 1889 30
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[0241] Das Zeitalter der Tenoristen Beifall. Da — im dritten Akt in der berühmten Stretta dringt plötzlich ans der Brust des kleinen Helden (aha! nicht mehr „Knirps!") rein, mächtig, glanzvoll — ein hohes v, so sin «berückend, so berauschend, daß sich der Anblick des Theaters wie mit einem Schlage ändert. Das Publikum bricht in „frenetischen Applaus aus" (so!), es jubelt, es lacht und weint (so!), es schreit Da. oaxo und nach der Wiederholung immer wieder Da vaxo! Ja unser Held (nicht mehr „kleiner Held"!) hat eine Stimme, aber sie sängt erst an beim 6 und gipfelt im 0. Und diese Stimme, es ist eine Stimme, eine Stimme —!" Und so fort im Veitstanz. Lieber Leser, verehrungswürdige Leserin — denn auf dich rechnet man ganz besonders bei diesem Anruf des Menschenverstandes und der Menschen¬ würde — dn weißt, man bindet dir hier keine Fabeln auf, so oder so ähnlich liesest du es ja jede „Saison" entweder in deiner Zeitung oder — so du zu der verständigen Minderheit gehörst, die sogenannte akademisch „langweilige" oder gar keine Zeitungen hält — doch jedenfalls im Neklameteil deines Konzert- vder Theaterzettels. Aber das mit dem Knirps und der brüchigen Stimme, das ist doch übertrieben! Nein, verehrungswürdige Leserin, das ist nicht über¬ trieben, das ist das Neue an dem bezeichneten Krankheitssymptom, der Punkt, mit den, uns eben das Stadium des ausgesprochenen Veitstanzes und Massen¬ irrsinns (moros .M. Viti sxiävm.) erreicht zu sein scheint. Die Erscheinung giebt sich nach diesen Berichten über den neuesten Stern am Gesangshimmel, die wir schon seit einiger Zeit mit steigender Besorgnis verfolgen und in ihrer grüßlichen Quintessenz immer übereinstimmend finden, wirklich ganz nackt als das, wofür wir sie immer gehalten haben, für eine krankhafte Exaltation der Massen durch gewisse Töne der männlichen Fistelstimme. Vielleicht ist es ver¬ erbt — man nennt das überspringende Vererbung —, vielleicht schreibt es sich zurück auf die „exeitirende Wirkung," die einst vor Jahrtausenden die ver¬ zückten Qniektöue eines „stimmlich" hochbegabten Orangs auf die „bessere" Affengesellschaft der asiatischen Wälder hervorbrachte. Das hat nun so und so lange ein kleines Jahrhuuderttauseudchen — geruht, und min „spukt es wieder," wie unsre modernen darwinistischen Poeten sagen. Die silberne Rüstung, die Bärenfelle, die Trikots, und was sonst an einem musikalischen Bühnen- Werk drum und dran häugt, das fällt jetzt alles weg, es bleibt die reine, bloße Schreipuppe mit der Falsettstimme, der quiekende Knirps, aber — mit dein hohen 0. llx<zwM cloosut.. Man sage nicht, daß das doch immer so gewesen sei. Die rein sinnliche, mit dem Vergnügen des Wohlgeruchs ziemlich auf gleicher Stufe stehende Lust am bloßen sinnlichen Wohlklange der Menschenstimme hat es immer gegeben, und sie ist stets für etwas geistig sehr tiefstehendes von allen und gerade den musikfreundlichen geistig urteilsfähigen gehalten worden. Das Zeitalter der italienischen Kastraten und Primadonnen liegt ja noch gar nicht so weit hinter Grenzlwtm 1 1889 30

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341849_204088/241>, abgerufen am 17.06.2024.