Die Grenzboten. Jg. 48, 1889, Erstes Vierteljahr.Das Zeitalter der Tenoristen uns, in dessen Musikbegeisteruug nicht zum geringsten diese rein tierische Lust Aber die Sprünge und "Kickser," die diese Affen mit ihrer Stimme voll¬ Das Zeitalter der Tenoristen uns, in dessen Musikbegeisteruug nicht zum geringsten diese rein tierische Lust Aber die Sprünge und „Kickser," die diese Affen mit ihrer Stimme voll¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0242" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/204331"/> <fw type="header" place="top"> Das Zeitalter der Tenoristen</fw><lb/> <p xml:id="ID_792" prev="#ID_791"> uns, in dessen Musikbegeisteruug nicht zum geringsten diese rein tierische Lust<lb/> am bloßen Tone den Ausschlag gab. Der deutsche Geist, heißt es, hat uns<lb/> davon befreit. Ja wohl, wir sehen es. Der Tempel, den Mozart auf den<lb/> Grundpfeilern von Händel und Gluck baute, war gerade gut genug, daß der<lb/> italienische Kastrat dadurch ein höheres Relief bekam: er wandelte sich in den<lb/> xrimo temorv. Das war der Erfolg davon, daß Mozart mit dem verliebten<lb/> Alt, der unausstehlichsten Hosenrolle, die Glucks „Orpheus" entstellt (und übrigens<lb/> bezeichnend genug in Richard Wagners Adriauo wieder auftaucht), endgiltig<lb/> brach und den „deutschen Jüngling," wie man sich auszudrücken Pflegt, in die<lb/> Opernwelt einführte. Die paar deutscheu Jünglinge Mozarts und Webers<lb/> sind die Ehrenwächter für eine Legion männlicher Schreipnppeu geworden,<lb/> denen der alte Kastrat aus dem Falsett springt. Viel schlimmer ist es dadurch<lb/> geworden. Die hohe Menschenstimme, die Frauenstimme und die Knabenstimme<lb/> haben ja ein hohes Maß künstlerischer Berechtigung ganz für sich allein.<lb/> Es ist zwar immer schöner, wenn sie im Dienste der Kunst stehen, aber sie<lb/> fesseln doch auch dann noch künstlerisch, wenn sie bloß durch sich wirken, da<lb/> oben in ihrer reinen, leichten, beschwingten Höhe sich nach Herzenslust auS-<lb/> tönen, nichts als austönen. Das hängt nicht bloß mit ihrer Stellung in<lb/> diesen höchsten, alles beherrschenden, vergeistigter Regionen des Tonreiches<lb/> zusammen, sondern anch mit ihrer natürlichen, menschlichen Individualität.<lb/> Ein junges Weib und ein kleines Vürschchen, die mögen Triller schlagen,<lb/> Läufer üben, helle Töne herausschmettern ohne Kunst wie ein Vögelchen, das<lb/> stört uns nicht künstlerisch. Aber dem Manne wird schon ein hoher Meister<lb/> seine Passagen und gelegentlich seinen zärtlichen Triller anordnen müssen,<lb/> damit er nicht unnatürlich und darum lächerlich erscheine. Ein bloß trillerndes<lb/> Weib ist unter Umständen ein Engel, ein bloß trillernder Mann ist unter allen<lb/> Umständen ein Affe. . ></p><lb/> <p xml:id="ID_793" next="#ID_794"> Aber die Sprünge und „Kickser," die diese Affen mit ihrer Stimme voll¬<lb/> führen, bilden gegenwärtig den alles aufsaugenden Mittelpunkt des gesamten<lb/> Musik- und Theaterlebens, ja mau kann in gewissem übertragenen Sinne<lb/> sagen, des gesamten Kunsttreibens. Die Süngerinnenschwärmerei früherer<lb/> Zeiten, immer ein gutes Teil natürlicher und ziemlicher, ist völlig in den<lb/> Hintergrund gedrängt von der Tenoristenwut unsrer Tage. In so ausschlie߬<lb/> licher Weise macht sich das Unwesen breit, daß in nicht gerade kunstfeindlichen<lb/> politischen Kreisen bereits die Einführung einer Tenoristensteuer — in erster<lb/> Linie für das Publikum, aber auch für die Krösusse vom hohen L und ihre<lb/> „Jmpressarios" — in ernstliche Erwägung gezogen wird. Den Andrang und<lb/> Kassensturm würde eine solche Steuer nicht vermindern, im Gegenteil verstärken-<lb/> Der verbotene Genuß würde noch reizvoller, noch „feiner" erscheinen. Denn<lb/> die Feinheit, die diese blöde Kunstveraustaltung ganz besonders vor dein ihr<lb/> ganz wesengleichen, andern Musendienst unsrer Zeit, dem Zirkus, voraus hat,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0242]
Das Zeitalter der Tenoristen
uns, in dessen Musikbegeisteruug nicht zum geringsten diese rein tierische Lust
am bloßen Tone den Ausschlag gab. Der deutsche Geist, heißt es, hat uns
davon befreit. Ja wohl, wir sehen es. Der Tempel, den Mozart auf den
Grundpfeilern von Händel und Gluck baute, war gerade gut genug, daß der
italienische Kastrat dadurch ein höheres Relief bekam: er wandelte sich in den
xrimo temorv. Das war der Erfolg davon, daß Mozart mit dem verliebten
Alt, der unausstehlichsten Hosenrolle, die Glucks „Orpheus" entstellt (und übrigens
bezeichnend genug in Richard Wagners Adriauo wieder auftaucht), endgiltig
brach und den „deutschen Jüngling," wie man sich auszudrücken Pflegt, in die
Opernwelt einführte. Die paar deutscheu Jünglinge Mozarts und Webers
sind die Ehrenwächter für eine Legion männlicher Schreipnppeu geworden,
denen der alte Kastrat aus dem Falsett springt. Viel schlimmer ist es dadurch
geworden. Die hohe Menschenstimme, die Frauenstimme und die Knabenstimme
haben ja ein hohes Maß künstlerischer Berechtigung ganz für sich allein.
Es ist zwar immer schöner, wenn sie im Dienste der Kunst stehen, aber sie
fesseln doch auch dann noch künstlerisch, wenn sie bloß durch sich wirken, da
oben in ihrer reinen, leichten, beschwingten Höhe sich nach Herzenslust auS-
tönen, nichts als austönen. Das hängt nicht bloß mit ihrer Stellung in
diesen höchsten, alles beherrschenden, vergeistigter Regionen des Tonreiches
zusammen, sondern anch mit ihrer natürlichen, menschlichen Individualität.
Ein junges Weib und ein kleines Vürschchen, die mögen Triller schlagen,
Läufer üben, helle Töne herausschmettern ohne Kunst wie ein Vögelchen, das
stört uns nicht künstlerisch. Aber dem Manne wird schon ein hoher Meister
seine Passagen und gelegentlich seinen zärtlichen Triller anordnen müssen,
damit er nicht unnatürlich und darum lächerlich erscheine. Ein bloß trillerndes
Weib ist unter Umständen ein Engel, ein bloß trillernder Mann ist unter allen
Umständen ein Affe. . >
Aber die Sprünge und „Kickser," die diese Affen mit ihrer Stimme voll¬
führen, bilden gegenwärtig den alles aufsaugenden Mittelpunkt des gesamten
Musik- und Theaterlebens, ja mau kann in gewissem übertragenen Sinne
sagen, des gesamten Kunsttreibens. Die Süngerinnenschwärmerei früherer
Zeiten, immer ein gutes Teil natürlicher und ziemlicher, ist völlig in den
Hintergrund gedrängt von der Tenoristenwut unsrer Tage. In so ausschlie߬
licher Weise macht sich das Unwesen breit, daß in nicht gerade kunstfeindlichen
politischen Kreisen bereits die Einführung einer Tenoristensteuer — in erster
Linie für das Publikum, aber auch für die Krösusse vom hohen L und ihre
„Jmpressarios" — in ernstliche Erwägung gezogen wird. Den Andrang und
Kassensturm würde eine solche Steuer nicht vermindern, im Gegenteil verstärken-
Der verbotene Genuß würde noch reizvoller, noch „feiner" erscheinen. Denn
die Feinheit, die diese blöde Kunstveraustaltung ganz besonders vor dein ihr
ganz wesengleichen, andern Musendienst unsrer Zeit, dem Zirkus, voraus hat,
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