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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

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Da schrieb er dann die halbe Nacht und nötigte die, die gerade mit ihm zu¬
sammen waren, seine Verse anzuhören. Ein großer Monolog begann: "In
diesem Mantel will ich mich vermummen" (nach "Ans dieser Bank von Stein
will ich mich setzen"). Sogar geraucht wurde in diesen gemütlichen Kranken
stnbeunächten. Einmal hörten wir zu unserm Schrecken kurz vor Mitternacht
jemanden die Treppe heraufkommen. Es war ein Oberer, der sich für den
Abend freigemacht hatte und nnn spät nach Hanse kam -- derselbe, der die
Cäsarkapitel immer nur bis zur dritten Zeile überhörte. Wir bliesen sofort
die Lampe aus, aber er hatte schon von unten das helle Fenster gesehen,
kam an die Thür und klinkte und klopfte. Wir waren mäuschenstill, ich war
-- was gar keinen Zweck hatte, da wir ja doch nicht öffneten -- unter ein
Bett gekrochen! Nachdem er lange vergeblich an der Klinke gedreht hatte,
ging er endlich weg, indem er, den Mund dicht an der Thürspalte, mit nieder¬
schmetternder Bestimmtheit die Worte sprach: "Die Krankenstube ist des
Farinns überwiesen." Welche Folgen sich daran knüpften, ist mir nicht mehr
erinnerlich.

Nur ein einzigesmal zeigte die Krankenstube ein ernstes, wehmütiges
Gesicht: sie wurde ganz unerwartet zum Sterbezimmer. Meinen lieben Partner
im Vierhändigspielen raffte als ersten Präfekten, wenige Monate zuvor, ehe
er zur Universität gehen wollte, eine kurze, heftige Krankheit hinweg. Aber
auch bei ihm war nicht der Chordienst schuld. Er war ein leidenschaftlicher
und feiner Turner und Tänzer. Eines Abends hatte er sich nach der Tanz¬
stunde gefährlich erkältet, aber anstatt sich zu schonen, wollte er sich dadurch
kuriren, daß er sich mit Gewalt in Schweiß turnte. Es folgte eine zweite,
noch weit schlimmere Erkältung, und in drei Tagen war er tot. Ich wachte
die letzte Nacht bei ihm in der Krankenstube mit seiner ältern Schwester, die
auf eine Nachricht ins Elternhaus schleunig herbeigeeilt war, und mit einigen
andern Freunden. Nach Mitternacht weckten wir in unsrer Herzensangst
den Hausmann und schickten noch einmal zum Arzt. Die Hausmannsfrau
kam herauf, und sowie sie die Thür öffnete, sagte sie, noch die Klinke in der
Hand: "Ach Gott, er röchelt ja schon"! Ich begriff den Ernst ihrer Worte
nicht ganz; todmüde, wie ich war, wollte ich gern noch ein paar Stunden
schlafen und ging zu Bett. Als ich früh wieder in die Krankenstube kam, lag
er schon als Leiche da; man hatte ihm ein weißes Tuch ums Gesicht gebunden.
Die Schwester erzählte mir unter Thränen, daß sich vorausgewußt habe:
vor wenigen Tagen habe ihr zu Hause geträn-ut, daß ihr ein Zahn ausfiele;
das bedeute immer einen Todesfall in der Familie. Nach drei Tagen be¬
gleitete ihn der ganze Chor zu Grabe.

Das Beste an den vielen Leichensingeu waren jedenfalls die Einnahmen.
Ach glaube, daß ich allein in meinem Prüfektenjahre mir gegen hundert Thaler
damit verdient habe. Die zwvlfbändige Schillerausgabe, die vierzigbändige


Da schrieb er dann die halbe Nacht und nötigte die, die gerade mit ihm zu¬
sammen waren, seine Verse anzuhören. Ein großer Monolog begann: „In
diesem Mantel will ich mich vermummen" (nach „Ans dieser Bank von Stein
will ich mich setzen"). Sogar geraucht wurde in diesen gemütlichen Kranken
stnbeunächten. Einmal hörten wir zu unserm Schrecken kurz vor Mitternacht
jemanden die Treppe heraufkommen. Es war ein Oberer, der sich für den
Abend freigemacht hatte und nnn spät nach Hanse kam — derselbe, der die
Cäsarkapitel immer nur bis zur dritten Zeile überhörte. Wir bliesen sofort
die Lampe aus, aber er hatte schon von unten das helle Fenster gesehen,
kam an die Thür und klinkte und klopfte. Wir waren mäuschenstill, ich war
— was gar keinen Zweck hatte, da wir ja doch nicht öffneten — unter ein
Bett gekrochen! Nachdem er lange vergeblich an der Klinke gedreht hatte,
ging er endlich weg, indem er, den Mund dicht an der Thürspalte, mit nieder¬
schmetternder Bestimmtheit die Worte sprach: „Die Krankenstube ist des
Farinns überwiesen." Welche Folgen sich daran knüpften, ist mir nicht mehr
erinnerlich.

Nur ein einzigesmal zeigte die Krankenstube ein ernstes, wehmütiges
Gesicht: sie wurde ganz unerwartet zum Sterbezimmer. Meinen lieben Partner
im Vierhändigspielen raffte als ersten Präfekten, wenige Monate zuvor, ehe
er zur Universität gehen wollte, eine kurze, heftige Krankheit hinweg. Aber
auch bei ihm war nicht der Chordienst schuld. Er war ein leidenschaftlicher
und feiner Turner und Tänzer. Eines Abends hatte er sich nach der Tanz¬
stunde gefährlich erkältet, aber anstatt sich zu schonen, wollte er sich dadurch
kuriren, daß er sich mit Gewalt in Schweiß turnte. Es folgte eine zweite,
noch weit schlimmere Erkältung, und in drei Tagen war er tot. Ich wachte
die letzte Nacht bei ihm in der Krankenstube mit seiner ältern Schwester, die
auf eine Nachricht ins Elternhaus schleunig herbeigeeilt war, und mit einigen
andern Freunden. Nach Mitternacht weckten wir in unsrer Herzensangst
den Hausmann und schickten noch einmal zum Arzt. Die Hausmannsfrau
kam herauf, und sowie sie die Thür öffnete, sagte sie, noch die Klinke in der
Hand: „Ach Gott, er röchelt ja schon"! Ich begriff den Ernst ihrer Worte
nicht ganz; todmüde, wie ich war, wollte ich gern noch ein paar Stunden
schlafen und ging zu Bett. Als ich früh wieder in die Krankenstube kam, lag
er schon als Leiche da; man hatte ihm ein weißes Tuch ums Gesicht gebunden.
Die Schwester erzählte mir unter Thränen, daß sich vorausgewußt habe:
vor wenigen Tagen habe ihr zu Hause geträn-ut, daß ihr ein Zahn ausfiele;
das bedeute immer einen Todesfall in der Familie. Nach drei Tagen be¬
gleitete ihn der ganze Chor zu Grabe.

Das Beste an den vielen Leichensingeu waren jedenfalls die Einnahmen.
Ach glaube, daß ich allein in meinem Prüfektenjahre mir gegen hundert Thaler
damit verdient habe. Die zwvlfbändige Schillerausgabe, die vierzigbändige


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[0191] Da schrieb er dann die halbe Nacht und nötigte die, die gerade mit ihm zu¬ sammen waren, seine Verse anzuhören. Ein großer Monolog begann: „In diesem Mantel will ich mich vermummen" (nach „Ans dieser Bank von Stein will ich mich setzen"). Sogar geraucht wurde in diesen gemütlichen Kranken stnbeunächten. Einmal hörten wir zu unserm Schrecken kurz vor Mitternacht jemanden die Treppe heraufkommen. Es war ein Oberer, der sich für den Abend freigemacht hatte und nnn spät nach Hanse kam — derselbe, der die Cäsarkapitel immer nur bis zur dritten Zeile überhörte. Wir bliesen sofort die Lampe aus, aber er hatte schon von unten das helle Fenster gesehen, kam an die Thür und klinkte und klopfte. Wir waren mäuschenstill, ich war — was gar keinen Zweck hatte, da wir ja doch nicht öffneten — unter ein Bett gekrochen! Nachdem er lange vergeblich an der Klinke gedreht hatte, ging er endlich weg, indem er, den Mund dicht an der Thürspalte, mit nieder¬ schmetternder Bestimmtheit die Worte sprach: „Die Krankenstube ist des Farinns überwiesen." Welche Folgen sich daran knüpften, ist mir nicht mehr erinnerlich. Nur ein einzigesmal zeigte die Krankenstube ein ernstes, wehmütiges Gesicht: sie wurde ganz unerwartet zum Sterbezimmer. Meinen lieben Partner im Vierhändigspielen raffte als ersten Präfekten, wenige Monate zuvor, ehe er zur Universität gehen wollte, eine kurze, heftige Krankheit hinweg. Aber auch bei ihm war nicht der Chordienst schuld. Er war ein leidenschaftlicher und feiner Turner und Tänzer. Eines Abends hatte er sich nach der Tanz¬ stunde gefährlich erkältet, aber anstatt sich zu schonen, wollte er sich dadurch kuriren, daß er sich mit Gewalt in Schweiß turnte. Es folgte eine zweite, noch weit schlimmere Erkältung, und in drei Tagen war er tot. Ich wachte die letzte Nacht bei ihm in der Krankenstube mit seiner ältern Schwester, die auf eine Nachricht ins Elternhaus schleunig herbeigeeilt war, und mit einigen andern Freunden. Nach Mitternacht weckten wir in unsrer Herzensangst den Hausmann und schickten noch einmal zum Arzt. Die Hausmannsfrau kam herauf, und sowie sie die Thür öffnete, sagte sie, noch die Klinke in der Hand: „Ach Gott, er röchelt ja schon"! Ich begriff den Ernst ihrer Worte nicht ganz; todmüde, wie ich war, wollte ich gern noch ein paar Stunden schlafen und ging zu Bett. Als ich früh wieder in die Krankenstube kam, lag er schon als Leiche da; man hatte ihm ein weißes Tuch ums Gesicht gebunden. Die Schwester erzählte mir unter Thränen, daß sich vorausgewußt habe: vor wenigen Tagen habe ihr zu Hause geträn-ut, daß ihr ein Zahn ausfiele; das bedeute immer einen Todesfall in der Familie. Nach drei Tagen be¬ gleitete ihn der ganze Chor zu Grabe. Das Beste an den vielen Leichensingeu waren jedenfalls die Einnahmen. Ach glaube, daß ich allein in meinem Prüfektenjahre mir gegen hundert Thaler damit verdient habe. Die zwvlfbändige Schillerausgabe, die vierzigbändige

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/191>, abgerufen am 17.06.2024.