Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Preßtreiben der letzten Zeit

Volkes fand, machte das Geschäft unfruchtbar, und der Degen wurde wieder
in die Scheide gesteckt. Die Regierung ließ sich nichts zu Schulden kommen,
und einige Tage blieb es in den Redaktionen von Köln und München und in
den Kulissen ihrer Hintermänner ruhig. Da verkündete der Reichsanzeiger in
seiner trocknen Weise die Vorlagen, die für deu preußischen Landtag vor¬
bereitet würden. Sofort bemerkte man in Köln und München sehr bissig, daß
bereits Fürst Bismarck eine Steuerreform sowie die Reform der Landgemeinde-
verfasfnng und des Volksschulweseus geplant habe, nud daß die neue Regierung
dieses Verdienst durchaus nicht auf ihre Rechnung stellen dürfe. Die Be¬
ziehungen, die die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung zu den frühern
Regierungskreisen hatten, waren derart, daß ihre Leitung zweifellos die Un¬
richtigkeit dieser Behauptung keimen mußte. Aber was thuts, der Jude wird
verbrannt! Die Bewegungen der sozialdemokratischen Partei angesichts des
Ablaufes des Sozialistengesetzes lassen erkennen, daß in ihr ein Zersetzungs¬
prozeß beginnt, der vorausgesehen wurde, der aber bisher durch das Gesetz
verhindert worden ist. Die radikalen Elemente trennen sich, und es wird
nicht ausbleiben, daß die besonneneren Elemente der deutschen Arbeiterwelt,
die bisher den Führern Heeresfolge geleistet haben, ihnen diese versagen.
Wenn nun das Aufhören des Sozialistengesetzes ein Fehler wäre, so trifft
er, wie offenkundig ist, nicht die gegenwärtige Regierung. Das hindert aber
die Kölnische Zeitung nicht, in einem Alarmnrtikel "Wohin treiben wir?"
der gegenwärtigen Regierung den Vorwurf zu machen, daß es ihr an Ent¬
schiedenheit fehle, und daß sie an einer Überschätzung der erreichbaren Ziele
leide. Was an dieser Äußerung unverständlich war, das glaubte die Münchner
Allgemeine Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar klar machen zu müssen.
Dieser lautet kurz dahin: Der gegenwärtige Reichskanzler ist ein in Staats¬
angelegenheiten gänzlich unerfahrener und unwissender Mann, er kennt weder
Land noch Leute, sonst würde er nicht angesichts des Ablaufs des Sozialisten-
gesetzes, der schwere Gefahren in sich birgt, ruhig sein. Um die Massen des
Bürgertums für sich zu gewinnen, fragt dann das Münchner Blatt in dema¬
gogischer Weise, ob denn gegenüber der mangelnden Geschäftskenntnis der
gegenwärtigen Regierung die Entlassung des Fürsten Bismarck eine Notwendig¬
keit gewesen sei. Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, so kann sie nur den
haben, daß unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck das Sozialistengesetz
verlängert worden wäre. Daß diese Annahme unrichtig ist, darüber können sich
der Artikelschreiber des Münchner Blattes und seine Inspiratoren nicht
zweifelhaft sein. Bekannt ist. daß Fürst Bismarck im letzten Reichstage
das Sozialistengesetz fallen ließ, weil die nationalliberale Partei den Aus¬
weisungsparagraphen streichen wollte. Bekannt sind seine Äußerungen, daß
nicht die Negierung, sondern die bürgerlichen Parteien den Schutz des Gesetzes
nötig hätten und daß dies den letztern nicht besser als durch ein Aufhören des


Grenzboten III 1890 54
Das Preßtreiben der letzten Zeit

Volkes fand, machte das Geschäft unfruchtbar, und der Degen wurde wieder
in die Scheide gesteckt. Die Regierung ließ sich nichts zu Schulden kommen,
und einige Tage blieb es in den Redaktionen von Köln und München und in
den Kulissen ihrer Hintermänner ruhig. Da verkündete der Reichsanzeiger in
seiner trocknen Weise die Vorlagen, die für deu preußischen Landtag vor¬
bereitet würden. Sofort bemerkte man in Köln und München sehr bissig, daß
bereits Fürst Bismarck eine Steuerreform sowie die Reform der Landgemeinde-
verfasfnng und des Volksschulweseus geplant habe, nud daß die neue Regierung
dieses Verdienst durchaus nicht auf ihre Rechnung stellen dürfe. Die Be¬
ziehungen, die die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung zu den frühern
Regierungskreisen hatten, waren derart, daß ihre Leitung zweifellos die Un¬
richtigkeit dieser Behauptung keimen mußte. Aber was thuts, der Jude wird
verbrannt! Die Bewegungen der sozialdemokratischen Partei angesichts des
Ablaufes des Sozialistengesetzes lassen erkennen, daß in ihr ein Zersetzungs¬
prozeß beginnt, der vorausgesehen wurde, der aber bisher durch das Gesetz
verhindert worden ist. Die radikalen Elemente trennen sich, und es wird
nicht ausbleiben, daß die besonneneren Elemente der deutschen Arbeiterwelt,
die bisher den Führern Heeresfolge geleistet haben, ihnen diese versagen.
Wenn nun das Aufhören des Sozialistengesetzes ein Fehler wäre, so trifft
er, wie offenkundig ist, nicht die gegenwärtige Regierung. Das hindert aber
die Kölnische Zeitung nicht, in einem Alarmnrtikel „Wohin treiben wir?"
der gegenwärtigen Regierung den Vorwurf zu machen, daß es ihr an Ent¬
schiedenheit fehle, und daß sie an einer Überschätzung der erreichbaren Ziele
leide. Was an dieser Äußerung unverständlich war, das glaubte die Münchner
Allgemeine Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar klar machen zu müssen.
Dieser lautet kurz dahin: Der gegenwärtige Reichskanzler ist ein in Staats¬
angelegenheiten gänzlich unerfahrener und unwissender Mann, er kennt weder
Land noch Leute, sonst würde er nicht angesichts des Ablaufs des Sozialisten-
gesetzes, der schwere Gefahren in sich birgt, ruhig sein. Um die Massen des
Bürgertums für sich zu gewinnen, fragt dann das Münchner Blatt in dema¬
gogischer Weise, ob denn gegenüber der mangelnden Geschäftskenntnis der
gegenwärtigen Regierung die Entlassung des Fürsten Bismarck eine Notwendig¬
keit gewesen sei. Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, so kann sie nur den
haben, daß unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck das Sozialistengesetz
verlängert worden wäre. Daß diese Annahme unrichtig ist, darüber können sich
der Artikelschreiber des Münchner Blattes und seine Inspiratoren nicht
zweifelhaft sein. Bekannt ist. daß Fürst Bismarck im letzten Reichstage
das Sozialistengesetz fallen ließ, weil die nationalliberale Partei den Aus¬
weisungsparagraphen streichen wollte. Bekannt sind seine Äußerungen, daß
nicht die Negierung, sondern die bürgerlichen Parteien den Schutz des Gesetzes
nötig hätten und daß dies den letztern nicht besser als durch ein Aufhören des


Grenzboten III 1890 54
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0433" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/208370"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Preßtreiben der letzten Zeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1333" prev="#ID_1332" next="#ID_1334"> Volkes fand, machte das Geschäft unfruchtbar, und der Degen wurde wieder<lb/>
in die Scheide gesteckt. Die Regierung ließ sich nichts zu Schulden kommen,<lb/>
und einige Tage blieb es in den Redaktionen von Köln und München und in<lb/>
den Kulissen ihrer Hintermänner ruhig. Da verkündete der Reichsanzeiger in<lb/>
seiner trocknen Weise die Vorlagen, die für deu preußischen Landtag vor¬<lb/>
bereitet würden. Sofort bemerkte man in Köln und München sehr bissig, daß<lb/>
bereits Fürst Bismarck eine Steuerreform sowie die Reform der Landgemeinde-<lb/>
verfasfnng und des Volksschulweseus geplant habe, nud daß die neue Regierung<lb/>
dieses Verdienst durchaus nicht auf ihre Rechnung stellen dürfe. Die Be¬<lb/>
ziehungen, die die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung zu den frühern<lb/>
Regierungskreisen hatten, waren derart, daß ihre Leitung zweifellos die Un¬<lb/>
richtigkeit dieser Behauptung keimen mußte. Aber was thuts, der Jude wird<lb/>
verbrannt! Die Bewegungen der sozialdemokratischen Partei angesichts des<lb/>
Ablaufes des Sozialistengesetzes lassen erkennen, daß in ihr ein Zersetzungs¬<lb/>
prozeß beginnt, der vorausgesehen wurde, der aber bisher durch das Gesetz<lb/>
verhindert worden ist. Die radikalen Elemente trennen sich, und es wird<lb/>
nicht ausbleiben, daß die besonneneren Elemente der deutschen Arbeiterwelt,<lb/>
die bisher den Führern Heeresfolge geleistet haben, ihnen diese versagen.<lb/>
Wenn nun das Aufhören des Sozialistengesetzes ein Fehler wäre, so trifft<lb/>
er, wie offenkundig ist, nicht die gegenwärtige Regierung. Das hindert aber<lb/>
die Kölnische Zeitung nicht, in einem Alarmnrtikel &#x201E;Wohin treiben wir?"<lb/>
der gegenwärtigen Regierung den Vorwurf zu machen, daß es ihr an Ent¬<lb/>
schiedenheit fehle, und daß sie an einer Überschätzung der erreichbaren Ziele<lb/>
leide. Was an dieser Äußerung unverständlich war, das glaubte die Münchner<lb/>
Allgemeine Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar klar machen zu müssen.<lb/>
Dieser lautet kurz dahin: Der gegenwärtige Reichskanzler ist ein in Staats¬<lb/>
angelegenheiten gänzlich unerfahrener und unwissender Mann, er kennt weder<lb/>
Land noch Leute, sonst würde er nicht angesichts des Ablaufs des Sozialisten-<lb/>
gesetzes, der schwere Gefahren in sich birgt, ruhig sein. Um die Massen des<lb/>
Bürgertums für sich zu gewinnen, fragt dann das Münchner Blatt in dema¬<lb/>
gogischer Weise, ob denn gegenüber der mangelnden Geschäftskenntnis der<lb/>
gegenwärtigen Regierung die Entlassung des Fürsten Bismarck eine Notwendig¬<lb/>
keit gewesen sei. Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, so kann sie nur den<lb/>
haben, daß unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck das Sozialistengesetz<lb/>
verlängert worden wäre. Daß diese Annahme unrichtig ist, darüber können sich<lb/>
der Artikelschreiber des Münchner Blattes und seine Inspiratoren nicht<lb/>
zweifelhaft sein. Bekannt ist. daß Fürst Bismarck im letzten Reichstage<lb/>
das Sozialistengesetz fallen ließ, weil die nationalliberale Partei den Aus¬<lb/>
weisungsparagraphen streichen wollte. Bekannt sind seine Äußerungen, daß<lb/>
nicht die Negierung, sondern die bürgerlichen Parteien den Schutz des Gesetzes<lb/>
nötig hätten und daß dies den letztern nicht besser als durch ein Aufhören des</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten III 1890 54</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0433] Das Preßtreiben der letzten Zeit Volkes fand, machte das Geschäft unfruchtbar, und der Degen wurde wieder in die Scheide gesteckt. Die Regierung ließ sich nichts zu Schulden kommen, und einige Tage blieb es in den Redaktionen von Köln und München und in den Kulissen ihrer Hintermänner ruhig. Da verkündete der Reichsanzeiger in seiner trocknen Weise die Vorlagen, die für deu preußischen Landtag vor¬ bereitet würden. Sofort bemerkte man in Köln und München sehr bissig, daß bereits Fürst Bismarck eine Steuerreform sowie die Reform der Landgemeinde- verfasfnng und des Volksschulweseus geplant habe, nud daß die neue Regierung dieses Verdienst durchaus nicht auf ihre Rechnung stellen dürfe. Die Be¬ ziehungen, die die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung zu den frühern Regierungskreisen hatten, waren derart, daß ihre Leitung zweifellos die Un¬ richtigkeit dieser Behauptung keimen mußte. Aber was thuts, der Jude wird verbrannt! Die Bewegungen der sozialdemokratischen Partei angesichts des Ablaufes des Sozialistengesetzes lassen erkennen, daß in ihr ein Zersetzungs¬ prozeß beginnt, der vorausgesehen wurde, der aber bisher durch das Gesetz verhindert worden ist. Die radikalen Elemente trennen sich, und es wird nicht ausbleiben, daß die besonneneren Elemente der deutschen Arbeiterwelt, die bisher den Führern Heeresfolge geleistet haben, ihnen diese versagen. Wenn nun das Aufhören des Sozialistengesetzes ein Fehler wäre, so trifft er, wie offenkundig ist, nicht die gegenwärtige Regierung. Das hindert aber die Kölnische Zeitung nicht, in einem Alarmnrtikel „Wohin treiben wir?" der gegenwärtigen Regierung den Vorwurf zu machen, daß es ihr an Ent¬ schiedenheit fehle, und daß sie an einer Überschätzung der erreichbaren Ziele leide. Was an dieser Äußerung unverständlich war, das glaubte die Münchner Allgemeine Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar klar machen zu müssen. Dieser lautet kurz dahin: Der gegenwärtige Reichskanzler ist ein in Staats¬ angelegenheiten gänzlich unerfahrener und unwissender Mann, er kennt weder Land noch Leute, sonst würde er nicht angesichts des Ablaufs des Sozialisten- gesetzes, der schwere Gefahren in sich birgt, ruhig sein. Um die Massen des Bürgertums für sich zu gewinnen, fragt dann das Münchner Blatt in dema¬ gogischer Weise, ob denn gegenüber der mangelnden Geschäftskenntnis der gegenwärtigen Regierung die Entlassung des Fürsten Bismarck eine Notwendig¬ keit gewesen sei. Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, so kann sie nur den haben, daß unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck das Sozialistengesetz verlängert worden wäre. Daß diese Annahme unrichtig ist, darüber können sich der Artikelschreiber des Münchner Blattes und seine Inspiratoren nicht zweifelhaft sein. Bekannt ist. daß Fürst Bismarck im letzten Reichstage das Sozialistengesetz fallen ließ, weil die nationalliberale Partei den Aus¬ weisungsparagraphen streichen wollte. Bekannt sind seine Äußerungen, daß nicht die Negierung, sondern die bürgerlichen Parteien den Schutz des Gesetzes nötig hätten und daß dies den letztern nicht besser als durch ein Aufhören des Grenzboten III 1890 54

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/433
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207936/433>, abgerufen am 27.05.2024.