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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Woher, wohin?

dauernden Kontrakt gezwungen wird, Arbeiter zu behalten, die er aus irgend
einem Grunde gern los sein möchte, so entsteht daraus ein sehr unerquickliches
Verhältnis. Jedermann, führt Schmoller wiederholt aus, beansprucht heute
die Vorteile der neuen Gesellschaftsformen, will aber die davon unzertrennlichen
Nachteile nicht mit in den Kauf nehmen, pocht auf die neuen Rechte, ohne der
daraus erwachsenden neuen Pflichte" zu gedenken. Wenn Herrschaften fordern,
daß das Gesinde wieder wie in der patriarchalischen Zeit gehorche, so müssen
sie auch ihrerseits das patriarchalische Verhältnis wieder herstellen, die Dienst¬
boten als ihre Kinder behandeln, an ihrem Tische mit essen lassen und ihnen
väterliche Fürsorge zuwenden. Wollen sie das nicht und finden sie die kon¬
traktlich abgemessene Löhnung mit Geld und einer ausbedungenen Nahrungs¬
menge, ohne weitere Verpflichtung, bequemer, so dürfen sie sich auch nicht
wundern, wenn eine zum .Kochen gedungene Magd außerhalb der Küche keine
Hand rührt.

Überwindung des kahlen, öden, kalten Vertragsverhältnisses durch Wiederan¬
knüpfung persönlicher Beziehungen, durch Anerkennung sittlicher Verpflichtungen,
ohne Preisgebung der die Freiheit schützenden persönlichen Rechte, das ist das
nächste Ziel, dem die soziale Bewegung zustrebt, und dessen Erreichung nach
Schmollers Ansicht von der Gesetzgebung möglichst gefördert werden soll, auch
durch Einwirkung auf die Vermögensverteilung. "Nicht direkt, nicht sofort,
aber durch die weise und gerechte Umbildung der volkswirtschaftlichen Insti¬
tutionen können Staatsmänner, Parteiführer und Gesetzgeber die Einkommens¬
und Vermögensverteilung außerordentlich beeinflusse"" (zum Beispiel indem
sie der unrechtmäßigen Bereicherung durch betrügerische Bankerotte, durch Vörseu-
schwindel, durch Ringe von Produzenten oder Händlern einen Riegel vor¬
schieben). Es ist also uicht eigentlich Staatssozialismus, was Schmoller an¬
strebt. Sein Standpunkt ist dem Schüfsles verwandt, der die Besitzer der
gewerblichen Unternehmungen zu Beamten, nicht Staatsbeamten, sondern Be¬
amten von Produktionsgenossenschaften herabsetzen will; nur daß Schmoller
den Fortbestand der individualistischen und kapitalistischen Produktionsweise
wünscht und nur fordert, daß die Besitzer unter der Einwirkung sittlicher Er¬
wägungen und staatlicher Einrichtungen ihre Stellung freiwillig als ein Amt
auffassen lernen. Durch solche Auffassung und durch die Einsicht aller Be¬
teiligten in die Interessengemeinschaft, die sie bindet, werden dann die großen
Werkstätten so hoch gehoben werden, daß sie ebenbürtig neben die alten Kor¬
porationen, neben Kirche und bürgerliche Gemeinde treten können.

Als unbedingt notwendig sür den friedlichen Verlauf dieses Umbildungs-
Prozefses erachtet der Verfasser die Arbeiterausschüsse, und er wendet sich in
einer fehr scharfen Polemik gegen den Freiherrn von Stumm, der dieser Ein¬
richtung abgeneigt ist. Auf dessen Beschwerde, die Arbeiterausschüsse würden
das persönliche Verhältnis, das er zu allen seinen 3200 Arbeiter" habe, zer-


Woher, wohin?

dauernden Kontrakt gezwungen wird, Arbeiter zu behalten, die er aus irgend
einem Grunde gern los sein möchte, so entsteht daraus ein sehr unerquickliches
Verhältnis. Jedermann, führt Schmoller wiederholt aus, beansprucht heute
die Vorteile der neuen Gesellschaftsformen, will aber die davon unzertrennlichen
Nachteile nicht mit in den Kauf nehmen, pocht auf die neuen Rechte, ohne der
daraus erwachsenden neuen Pflichte» zu gedenken. Wenn Herrschaften fordern,
daß das Gesinde wieder wie in der patriarchalischen Zeit gehorche, so müssen
sie auch ihrerseits das patriarchalische Verhältnis wieder herstellen, die Dienst¬
boten als ihre Kinder behandeln, an ihrem Tische mit essen lassen und ihnen
väterliche Fürsorge zuwenden. Wollen sie das nicht und finden sie die kon¬
traktlich abgemessene Löhnung mit Geld und einer ausbedungenen Nahrungs¬
menge, ohne weitere Verpflichtung, bequemer, so dürfen sie sich auch nicht
wundern, wenn eine zum .Kochen gedungene Magd außerhalb der Küche keine
Hand rührt.

Überwindung des kahlen, öden, kalten Vertragsverhältnisses durch Wiederan¬
knüpfung persönlicher Beziehungen, durch Anerkennung sittlicher Verpflichtungen,
ohne Preisgebung der die Freiheit schützenden persönlichen Rechte, das ist das
nächste Ziel, dem die soziale Bewegung zustrebt, und dessen Erreichung nach
Schmollers Ansicht von der Gesetzgebung möglichst gefördert werden soll, auch
durch Einwirkung auf die Vermögensverteilung. „Nicht direkt, nicht sofort,
aber durch die weise und gerechte Umbildung der volkswirtschaftlichen Insti¬
tutionen können Staatsmänner, Parteiführer und Gesetzgeber die Einkommens¬
und Vermögensverteilung außerordentlich beeinflusse»" (zum Beispiel indem
sie der unrechtmäßigen Bereicherung durch betrügerische Bankerotte, durch Vörseu-
schwindel, durch Ringe von Produzenten oder Händlern einen Riegel vor¬
schieben). Es ist also uicht eigentlich Staatssozialismus, was Schmoller an¬
strebt. Sein Standpunkt ist dem Schüfsles verwandt, der die Besitzer der
gewerblichen Unternehmungen zu Beamten, nicht Staatsbeamten, sondern Be¬
amten von Produktionsgenossenschaften herabsetzen will; nur daß Schmoller
den Fortbestand der individualistischen und kapitalistischen Produktionsweise
wünscht und nur fordert, daß die Besitzer unter der Einwirkung sittlicher Er¬
wägungen und staatlicher Einrichtungen ihre Stellung freiwillig als ein Amt
auffassen lernen. Durch solche Auffassung und durch die Einsicht aller Be¬
teiligten in die Interessengemeinschaft, die sie bindet, werden dann die großen
Werkstätten so hoch gehoben werden, daß sie ebenbürtig neben die alten Kor¬
porationen, neben Kirche und bürgerliche Gemeinde treten können.

Als unbedingt notwendig sür den friedlichen Verlauf dieses Umbildungs-
Prozefses erachtet der Verfasser die Arbeiterausschüsse, und er wendet sich in
einer fehr scharfen Polemik gegen den Freiherrn von Stumm, der dieser Ein¬
richtung abgeneigt ist. Auf dessen Beschwerde, die Arbeiterausschüsse würden
das persönliche Verhältnis, das er zu allen seinen 3200 Arbeiter» habe, zer-


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[0015] Woher, wohin? dauernden Kontrakt gezwungen wird, Arbeiter zu behalten, die er aus irgend einem Grunde gern los sein möchte, so entsteht daraus ein sehr unerquickliches Verhältnis. Jedermann, führt Schmoller wiederholt aus, beansprucht heute die Vorteile der neuen Gesellschaftsformen, will aber die davon unzertrennlichen Nachteile nicht mit in den Kauf nehmen, pocht auf die neuen Rechte, ohne der daraus erwachsenden neuen Pflichte» zu gedenken. Wenn Herrschaften fordern, daß das Gesinde wieder wie in der patriarchalischen Zeit gehorche, so müssen sie auch ihrerseits das patriarchalische Verhältnis wieder herstellen, die Dienst¬ boten als ihre Kinder behandeln, an ihrem Tische mit essen lassen und ihnen väterliche Fürsorge zuwenden. Wollen sie das nicht und finden sie die kon¬ traktlich abgemessene Löhnung mit Geld und einer ausbedungenen Nahrungs¬ menge, ohne weitere Verpflichtung, bequemer, so dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn eine zum .Kochen gedungene Magd außerhalb der Küche keine Hand rührt. Überwindung des kahlen, öden, kalten Vertragsverhältnisses durch Wiederan¬ knüpfung persönlicher Beziehungen, durch Anerkennung sittlicher Verpflichtungen, ohne Preisgebung der die Freiheit schützenden persönlichen Rechte, das ist das nächste Ziel, dem die soziale Bewegung zustrebt, und dessen Erreichung nach Schmollers Ansicht von der Gesetzgebung möglichst gefördert werden soll, auch durch Einwirkung auf die Vermögensverteilung. „Nicht direkt, nicht sofort, aber durch die weise und gerechte Umbildung der volkswirtschaftlichen Insti¬ tutionen können Staatsmänner, Parteiführer und Gesetzgeber die Einkommens¬ und Vermögensverteilung außerordentlich beeinflusse»" (zum Beispiel indem sie der unrechtmäßigen Bereicherung durch betrügerische Bankerotte, durch Vörseu- schwindel, durch Ringe von Produzenten oder Händlern einen Riegel vor¬ schieben). Es ist also uicht eigentlich Staatssozialismus, was Schmoller an¬ strebt. Sein Standpunkt ist dem Schüfsles verwandt, der die Besitzer der gewerblichen Unternehmungen zu Beamten, nicht Staatsbeamten, sondern Be¬ amten von Produktionsgenossenschaften herabsetzen will; nur daß Schmoller den Fortbestand der individualistischen und kapitalistischen Produktionsweise wünscht und nur fordert, daß die Besitzer unter der Einwirkung sittlicher Er¬ wägungen und staatlicher Einrichtungen ihre Stellung freiwillig als ein Amt auffassen lernen. Durch solche Auffassung und durch die Einsicht aller Be¬ teiligten in die Interessengemeinschaft, die sie bindet, werden dann die großen Werkstätten so hoch gehoben werden, daß sie ebenbürtig neben die alten Kor¬ porationen, neben Kirche und bürgerliche Gemeinde treten können. Als unbedingt notwendig sür den friedlichen Verlauf dieses Umbildungs- Prozefses erachtet der Verfasser die Arbeiterausschüsse, und er wendet sich in einer fehr scharfen Polemik gegen den Freiherrn von Stumm, der dieser Ein¬ richtung abgeneigt ist. Auf dessen Beschwerde, die Arbeiterausschüsse würden das persönliche Verhältnis, das er zu allen seinen 3200 Arbeiter» habe, zer-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/15>, abgerufen am 11.05.2024.