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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Lothar Buchers englische Erfahrungen

spottet über die "neue Mur (der "Nichtsalsfreihändler"), daß der Staat
abgeschafft und durch eine auf Freiwilligkeit gegründete Gesellschaft ersetzt
werde" soll." Über die englische" Zeitungen und ihr Lesepublikum, das beides
er zur Genüge hatte kemien lernen, meint er im Anfange des Jahres 1855,
wenn man die Geschichte der ersteren schreiben könnte, so würde ein großer
Teil des Publikums ebenso über ein solches Werk ergrimmen, wie der süd-
französische Bauer, wenn ihm das Kunststück gezeigt würde, mit dem der Herr
Pfarrer das Heiligenbild blinzeln läßt. Denn das englische Publikum habe
das Bedürfnis, ein solches Ruinen zu haben, wie eine Zeitung, von der die
Leser weder Eigentümer, noch Redakteur, noch Mitarbeiter kennten. Es steht
also bei den Engländern gerade so, nur noch etwas in verstärktem Maße, wie
bei jedem andern zeituugslesendeu Publikum, das meist in der Zeitung sein
Ruinen sieht. Indessen, und das erkennt mau gerade auch aus Buchers
Darstellungen, der Engländer hat vor andern Völkern darin fürs Geschäft
vieles voraus, daß er zu dieser seiner Zeitungsgottheit keine mystische Stellung
einnimmt, in der er sich andachtsvoll versenkt, sondern er fragt darnach, ob
die Gottheit auch für seinen Vorteil sorgt; denn jeder Durchschnittsengländer
hat etwas von den Quäkern, von denen Bucher sagt: ,,Jn der Woche hauen sie
den Nachbar übers Ohr, und Sonntags danken sie Gott, daß er ihre aus¬
gezeichnete Frömmigkeit so ausgezeichnet segnet." Dieser quükerische Charakter
kommt dein englischen Volke aber auf dem politischen Felde insofern zu gute,
als er zu Kompromissen geneigt macht, aus denen sowohl die englische Staats¬
verfassung, als anch die Kirchenverfassung besteht. Für die Logik mag ein
solcher aus Kompromissen bestehender Zustand nicht annehmbar sein, für das
Gedeihen eines Landes aber ist ers. Es war eine wichtige Einsicht, die Bücher
in England gelernt hatte, wenn er bereits im Jahre 1353 schrieb: "Ein be¬
friedigender Zustand erfordert Kompromisse, Vergleiche. Ich weiß, daß das
in den Augen der Entschiednen eine große Ketzerei ist, aber ich weiß auch,
daß nichts bequemer ist, als solche Entschiedenheit. Das Einzelwesen muß
fortwährend Kompromisse machen zwischen dem Geist, der stets thätig sein,
und dem Körper, der stets faulenzen möchte. Wie kann es im Gemeinwesen
anders sein? Die englische Geschichte ist eine Reihe von Kompromissen."
Was für die Logik der bloße Unverstand ist, ist darum für das Leben eines
Volkes oft das Richtigste, weil es das ist, wobei die Freiheit und die Wohl¬
fahrt des Gemeinwesens gedeiht. Am sprechendsten zeigt das der englische
Protestantismus, von dem Bucher sehr richtig urteilt, daß er eine Mischung
vou Offenbarung, Parlamcntsakten und Kabiuetsordren sei. "Aber diese
Widersinnigkeit ist sein Vorzug; sie bürgt dafür, daß die Kritik nie ausgehen
kann, und seine Feindschaft mit Rom erhält die Wunde eines Konflikts zwischen
zwei Autoritäten offen. Wenn diese Fontanelle sich je schließen könnte, so
müßte die Kultur sterben." Auch hier also, auf dem kirchlichen Gebiete, lernte


Lothar Buchers englische Erfahrungen

spottet über die „neue Mur (der »Nichtsalsfreihändler«), daß der Staat
abgeschafft und durch eine auf Freiwilligkeit gegründete Gesellschaft ersetzt
werde» soll." Über die englische» Zeitungen und ihr Lesepublikum, das beides
er zur Genüge hatte kemien lernen, meint er im Anfange des Jahres 1855,
wenn man die Geschichte der ersteren schreiben könnte, so würde ein großer
Teil des Publikums ebenso über ein solches Werk ergrimmen, wie der süd-
französische Bauer, wenn ihm das Kunststück gezeigt würde, mit dem der Herr
Pfarrer das Heiligenbild blinzeln läßt. Denn das englische Publikum habe
das Bedürfnis, ein solches Ruinen zu haben, wie eine Zeitung, von der die
Leser weder Eigentümer, noch Redakteur, noch Mitarbeiter kennten. Es steht
also bei den Engländern gerade so, nur noch etwas in verstärktem Maße, wie
bei jedem andern zeituugslesendeu Publikum, das meist in der Zeitung sein
Ruinen sieht. Indessen, und das erkennt mau gerade auch aus Buchers
Darstellungen, der Engländer hat vor andern Völkern darin fürs Geschäft
vieles voraus, daß er zu dieser seiner Zeitungsgottheit keine mystische Stellung
einnimmt, in der er sich andachtsvoll versenkt, sondern er fragt darnach, ob
die Gottheit auch für seinen Vorteil sorgt; denn jeder Durchschnittsengländer
hat etwas von den Quäkern, von denen Bucher sagt: ,,Jn der Woche hauen sie
den Nachbar übers Ohr, und Sonntags danken sie Gott, daß er ihre aus¬
gezeichnete Frömmigkeit so ausgezeichnet segnet." Dieser quükerische Charakter
kommt dein englischen Volke aber auf dem politischen Felde insofern zu gute,
als er zu Kompromissen geneigt macht, aus denen sowohl die englische Staats¬
verfassung, als anch die Kirchenverfassung besteht. Für die Logik mag ein
solcher aus Kompromissen bestehender Zustand nicht annehmbar sein, für das
Gedeihen eines Landes aber ist ers. Es war eine wichtige Einsicht, die Bücher
in England gelernt hatte, wenn er bereits im Jahre 1353 schrieb: „Ein be¬
friedigender Zustand erfordert Kompromisse, Vergleiche. Ich weiß, daß das
in den Augen der Entschiednen eine große Ketzerei ist, aber ich weiß auch,
daß nichts bequemer ist, als solche Entschiedenheit. Das Einzelwesen muß
fortwährend Kompromisse machen zwischen dem Geist, der stets thätig sein,
und dem Körper, der stets faulenzen möchte. Wie kann es im Gemeinwesen
anders sein? Die englische Geschichte ist eine Reihe von Kompromissen."
Was für die Logik der bloße Unverstand ist, ist darum für das Leben eines
Volkes oft das Richtigste, weil es das ist, wobei die Freiheit und die Wohl¬
fahrt des Gemeinwesens gedeiht. Am sprechendsten zeigt das der englische
Protestantismus, von dem Bucher sehr richtig urteilt, daß er eine Mischung
vou Offenbarung, Parlamcntsakten und Kabiuetsordren sei. „Aber diese
Widersinnigkeit ist sein Vorzug; sie bürgt dafür, daß die Kritik nie ausgehen
kann, und seine Feindschaft mit Rom erhält die Wunde eines Konflikts zwischen
zwei Autoritäten offen. Wenn diese Fontanelle sich je schließen könnte, so
müßte die Kultur sterben." Auch hier also, auf dem kirchlichen Gebiete, lernte


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/227>, abgerufen am 06.06.2024.