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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Bücher in England das, was er später, als er Bismarck seine Kraft widmete,
so heilsam verwerten konnte, und was besonders Bismarcks innere Politik selbst
so heilsam machte, den Weg des Kompromisses. Bucher hebt aber ausdrücklich
hervor, was die Voraussetzung für jeden Kompromiß sein muß, deu ein Staats¬
mann eingehen darf; denn nicht, daß mit jeder knlturschädlichen Einrichtung
ein Vergleich einzugehen sei, sondern ,,die Legitimation muß zuerst geprüft, das
Forum von allen Gespenstern, Narren und Übelthätern geräumt und nur mit
berechtigten Parteien verhandelt werden."

Und zu dieser stnatsmünnischen Einsicht lernte Bücher bei seinein unfrei¬
willigen Aufenthalt in England noch etwas weiteres, daß nämlich ein Staats¬
mann in der auswärtigen Politik schlechterdings auf nichts andres zu sehen
hat, als auf den Vorteil seines Staates, und nicht auf sogenannte solidarische
Interessen oder auf das vermeintliche Recht, was andern Staaten für die Be¬
folgung ihrer Politik zustehe, und was dergleichen Verwirrungen sind. "Eng¬
lands auswärtige Politik wird von nichts anderen diktirt, sagt Bucher, als
von dem Vorteil und von dein, was die Regierung sür ihren Vorteil hält.
Und das ist vollkommen in der Ordnung; die Politiker, die von Uneigennützig-
keit, Weltbeglückung und dergleichen reden, sind entweder konfuse Köpfe oder
Heuchler." Bucher lernte jetzt aus nächster Nähe kennen, wie England selbst
am wenigsten nach dem Rechte der andern fragt, und konnte nur englische Un¬
verschämtheit in der Verschiebung geschichtlicher Thatsachen sehen, wenn Cobden
im Unterhause sagte, es gebe kein Beispiel von einem Kriege zwischen zwei
großen Völkern ohne vorherige Kriegserklärung. "Gerade England, sagt Bucher,
ist seit alter Zeit dafür berüchtigt, daß es erst angreift, namentlich Schiffe
und Kaufmannsgüter wegnimmt und dann eine Kriegserklärung macht, oder
auch Festungen zusammenschießt, Flotten in den Grund bohrt und dabei ver¬
sichert, daß es durchaus uicht die Absicht habe, Krieg zu führen." Allerdings
darf von vornherein für England die Überlegenheit uicht zweifelhaft sein, wenn
es sich auf mehr als einen bloßen Konflikt mit Worten einlassen soll. Eine
Macht wie Rußland weis; das, und gerade Englands schwächliche Haltung
gegenüber dein Vorrücken Rußlands gegen die Türkei im Jahre 1853 brachte
Bucher zuerst zu seiner veränderten Stellung in der Beurteilung des englischen
Volks- und Staatslebens. Zu der Behauptung der Engländer, daß England
immer "großmütig den Schwachen geholfen" habe, bemerkt Bücher, "England
hat seit 1815 Algier bombardirt, die Schlacht bei Navarino mitgemacht, zwei
Kriege in Syrien geführt, die holländischen Häfen blockirt, zwei Kriege in Af¬
ghanistan geführt, zwei gegen Birma, zwei gegen die Kaffern, einen gegen China,
die unaufhörlichen Scharmützel und Annexionen in Indien nicht gerechnet. Ist
das Friede, ist das Parteinahme für den Schwächeren?" Es war im Jahre
1854, als Bucher so schrieb. Heute könnte zu der Parteinahme für den
Schwächeren noch manches schöne Stückchen angeführt werden; braucht man


Bücher in England das, was er später, als er Bismarck seine Kraft widmete,
so heilsam verwerten konnte, und was besonders Bismarcks innere Politik selbst
so heilsam machte, den Weg des Kompromisses. Bucher hebt aber ausdrücklich
hervor, was die Voraussetzung für jeden Kompromiß sein muß, deu ein Staats¬
mann eingehen darf; denn nicht, daß mit jeder knlturschädlichen Einrichtung
ein Vergleich einzugehen sei, sondern ,,die Legitimation muß zuerst geprüft, das
Forum von allen Gespenstern, Narren und Übelthätern geräumt und nur mit
berechtigten Parteien verhandelt werden."

Und zu dieser stnatsmünnischen Einsicht lernte Bücher bei seinein unfrei¬
willigen Aufenthalt in England noch etwas weiteres, daß nämlich ein Staats¬
mann in der auswärtigen Politik schlechterdings auf nichts andres zu sehen
hat, als auf den Vorteil seines Staates, und nicht auf sogenannte solidarische
Interessen oder auf das vermeintliche Recht, was andern Staaten für die Be¬
folgung ihrer Politik zustehe, und was dergleichen Verwirrungen sind. „Eng¬
lands auswärtige Politik wird von nichts anderen diktirt, sagt Bucher, als
von dem Vorteil und von dein, was die Regierung sür ihren Vorteil hält.
Und das ist vollkommen in der Ordnung; die Politiker, die von Uneigennützig-
keit, Weltbeglückung und dergleichen reden, sind entweder konfuse Köpfe oder
Heuchler." Bucher lernte jetzt aus nächster Nähe kennen, wie England selbst
am wenigsten nach dem Rechte der andern fragt, und konnte nur englische Un¬
verschämtheit in der Verschiebung geschichtlicher Thatsachen sehen, wenn Cobden
im Unterhause sagte, es gebe kein Beispiel von einem Kriege zwischen zwei
großen Völkern ohne vorherige Kriegserklärung. „Gerade England, sagt Bucher,
ist seit alter Zeit dafür berüchtigt, daß es erst angreift, namentlich Schiffe
und Kaufmannsgüter wegnimmt und dann eine Kriegserklärung macht, oder
auch Festungen zusammenschießt, Flotten in den Grund bohrt und dabei ver¬
sichert, daß es durchaus uicht die Absicht habe, Krieg zu führen." Allerdings
darf von vornherein für England die Überlegenheit uicht zweifelhaft sein, wenn
es sich auf mehr als einen bloßen Konflikt mit Worten einlassen soll. Eine
Macht wie Rußland weis; das, und gerade Englands schwächliche Haltung
gegenüber dein Vorrücken Rußlands gegen die Türkei im Jahre 1853 brachte
Bucher zuerst zu seiner veränderten Stellung in der Beurteilung des englischen
Volks- und Staatslebens. Zu der Behauptung der Engländer, daß England
immer „großmütig den Schwachen geholfen" habe, bemerkt Bücher, „England
hat seit 1815 Algier bombardirt, die Schlacht bei Navarino mitgemacht, zwei
Kriege in Syrien geführt, die holländischen Häfen blockirt, zwei Kriege in Af¬
ghanistan geführt, zwei gegen Birma, zwei gegen die Kaffern, einen gegen China,
die unaufhörlichen Scharmützel und Annexionen in Indien nicht gerechnet. Ist
das Friede, ist das Parteinahme für den Schwächeren?" Es war im Jahre
1854, als Bucher so schrieb. Heute könnte zu der Parteinahme für den
Schwächeren noch manches schöne Stückchen angeführt werden; braucht man


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/228>, abgerufen am 16.06.2024.