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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr.

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Steiuscheu Feder" (Treitschke), sondern ein unklares und verworrenes Machwerk
sieht, und es ist ein gerechtes Wort, wenn Schmidt das Treitschkische Urteil
über Stein gegenüber Görres, der darin mit Stein übereinstimmte, aber von
Treitschke getadelt wird, ein mit ungleichem Maße gemessenes Urteil nennt.
Zudem wollte der feudale Stein nicht, wie Treitschke behauptet, ein deutsches
Parlament in unserm Sinne. Stein hatte gar kein Verlangen nach einem
solchen und war nicht der Träger ,.dieses großen, zukunftsreichen Gedankens."
Dieser Gedanke wurde von Arndt vertreten, dem merkwürdigerweise Treitschke
dafür mangelhafte staatsrechtliche Begriffe vorwirft. Schmidt findet den
Arndtschen Entwurf geradezu genial; er habe im Geiste fast unsern Reichstag
geschaut.

Sehr interessant ist auch das neue, noch nie benutzte Memoire Münsters,
wonach Schmidt Treitschkes hartes Urteil über Kaiser Franz, Metternich und
Eastelreagh mäßigt, während er dagegen in Friedrich Wilhelm III. nicht
,,den scharfsinnigsten aller Politiker/' sondern den sieht, ,,der die natürliche
Entwicklung störte und verdarb."

Im Dezember 1813 schlägt Wilhelm von Humboldt einen deutschen Stnaten-
verein, keine deutsche Verfassung vor, mit gemeinsamer "Oberleitung" Öster¬
reichs und Preußens; im Mnrz 1814 laßt Stein den Gedanken des Duumvirates
fallen und will dafür ein Viererdirektvrinm (Osterreich. Preußen, Vaiern,
Hannover), später sogar eine Sechserteilung Deutschlands. Schmidt urteilt
darüber: "Hierdurch war also Osterreich als einzige Spitze des Ganzen
zur Oberleitung berufe" und eventuell befähigt, kraft des Einflusses der
ausschließlichen Oberleitung das Übergewicht über Preußen zu erlangen,
es selbst in den wichtigsten Fragen zu majorisiren. Stein hat damit, wenn
auch unabsichtlich, den ersten verhängnisvollen Anstoß zur Abschwüchung und
damit zur Mißgestaltung der Bundesverfassung gegeben." Ganz neu siud ,,die
Verhandlungen zwischen Österreich, Preußen und Hannover über die Grund¬
lagen der Verfassung vom 7. bis 14. Oktober 1814 oder die zehn Artikel,"
deren Vereinbarungen als ein gewichtiges Ergebnis hätten erscheinen können,
wenn nicht am 14. Oktober der Fünferausschuß zusammengetreten wäre. Von
da an scheint der sichere Boden, auf dem die Verfassung hätte fortschreiten
können, zu wanken; es ist unmöglich, in engem Rcihmeu dieses unaufhörliche
Verschieben der Entwürfe, der Komitees darzustellen. Ein unerquickliches
Blatt deutscher Geschichte thut sich vor dem Leser aus; die deutsche Kaiscr-
adresse der neunundzwanzig, später zweiunddreißig deutschen Kleinstaaten kam
nur deshalb zu Stande, weil diese Fürsten nicht etwa um deS Ganzen willen
auf einige Rechte verzichten, sondern um die Wette sie ungeschmälert erhalten
wissen wollten; verhängnisvoll wurde die sächsisch-polnische Krisis für die Ent¬
wicklung der deutschen Verfassung: über Sachsens Bestand hing das Damokles¬
schwert, Deutschland stand am Abgrund eines Bürgerkrieges, und der Kaiser


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Steiuscheu Feder" (Treitschke), sondern ein unklares und verworrenes Machwerk
sieht, und es ist ein gerechtes Wort, wenn Schmidt das Treitschkische Urteil
über Stein gegenüber Görres, der darin mit Stein übereinstimmte, aber von
Treitschke getadelt wird, ein mit ungleichem Maße gemessenes Urteil nennt.
Zudem wollte der feudale Stein nicht, wie Treitschke behauptet, ein deutsches
Parlament in unserm Sinne. Stein hatte gar kein Verlangen nach einem
solchen und war nicht der Träger ,.dieses großen, zukunftsreichen Gedankens."
Dieser Gedanke wurde von Arndt vertreten, dem merkwürdigerweise Treitschke
dafür mangelhafte staatsrechtliche Begriffe vorwirft. Schmidt findet den
Arndtschen Entwurf geradezu genial; er habe im Geiste fast unsern Reichstag
geschaut.

Sehr interessant ist auch das neue, noch nie benutzte Memoire Münsters,
wonach Schmidt Treitschkes hartes Urteil über Kaiser Franz, Metternich und
Eastelreagh mäßigt, während er dagegen in Friedrich Wilhelm III. nicht
,,den scharfsinnigsten aller Politiker/' sondern den sieht, ,,der die natürliche
Entwicklung störte und verdarb."

Im Dezember 1813 schlägt Wilhelm von Humboldt einen deutschen Stnaten-
verein, keine deutsche Verfassung vor, mit gemeinsamer „Oberleitung" Öster¬
reichs und Preußens; im Mnrz 1814 laßt Stein den Gedanken des Duumvirates
fallen und will dafür ein Viererdirektvrinm (Osterreich. Preußen, Vaiern,
Hannover), später sogar eine Sechserteilung Deutschlands. Schmidt urteilt
darüber: „Hierdurch war also Osterreich als einzige Spitze des Ganzen
zur Oberleitung berufe» und eventuell befähigt, kraft des Einflusses der
ausschließlichen Oberleitung das Übergewicht über Preußen zu erlangen,
es selbst in den wichtigsten Fragen zu majorisiren. Stein hat damit, wenn
auch unabsichtlich, den ersten verhängnisvollen Anstoß zur Abschwüchung und
damit zur Mißgestaltung der Bundesverfassung gegeben." Ganz neu siud ,,die
Verhandlungen zwischen Österreich, Preußen und Hannover über die Grund¬
lagen der Verfassung vom 7. bis 14. Oktober 1814 oder die zehn Artikel,"
deren Vereinbarungen als ein gewichtiges Ergebnis hätten erscheinen können,
wenn nicht am 14. Oktober der Fünferausschuß zusammengetreten wäre. Von
da an scheint der sichere Boden, auf dem die Verfassung hätte fortschreiten
können, zu wanken; es ist unmöglich, in engem Rcihmeu dieses unaufhörliche
Verschieben der Entwürfe, der Komitees darzustellen. Ein unerquickliches
Blatt deutscher Geschichte thut sich vor dem Leser aus; die deutsche Kaiscr-
adresse der neunundzwanzig, später zweiunddreißig deutschen Kleinstaaten kam
nur deshalb zu Stande, weil diese Fürsten nicht etwa um deS Ganzen willen
auf einige Rechte verzichten, sondern um die Wette sie ungeschmälert erhalten
wissen wollten; verhängnisvoll wurde die sächsisch-polnische Krisis für die Ent¬
wicklung der deutschen Verfassung: über Sachsens Bestand hing das Damokles¬
schwert, Deutschland stand am Abgrund eines Bürgerkrieges, und der Kaiser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_208578/561>, abgerufen am 06.06.2024.