Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

nehmen, in Wirklichkeit nicht so düster, wie es nach den obigen Betrachtungen
erscheint. Nur werden Forscher, die ihren Blick mehr auf die Ziffern als auf
die Menschen gerichtet halten, niemals herausbekommen, wo der Fehler des
übertriebnen Pessimismus steckt. Zwar, wenn der Beobachter Unglück hat,
kann es ihm leicht begegnen, daß gleich der erste Versuch seine schlimmsten
Befürchtungen bestätigt. Er kann sich z. B., um die Lage des behübigen Mittel¬
standes zu prüfen, der nach Wolf im erfreulichsten Wachstum begriffen sein
soll, in eine "Ressource" einführen lassen, und wenn er dann der Vergangen¬
heit der Herren nachspürt, die er da angetroffen hat, und die allesamt den
günstigsten Eindruck mache", so kann er etwa folgendes entdecken. Nummer
eins hat sich dreimal mit seinen Gläubigern "gesetzt" und lebt von den Renten
der Kapitalien, die er bei seinem Bankerott um die Ecke gebracht hat. Nummer
zwei hat als Lausbursche angefangen, nichts ordentliches gelernt, bald diesen,
bald jenen kleinen Schacher unternommen, hier eine Kneipe, dort eine Eisbahn
gepachtet -- denn daß Staat oder Gemeinde eine Pfütze Wasser oder eine
Eisbahn der Jugend zur freien Benutzung überlassen sollten, anstatt eine Ein¬
nahmequelle daraus zu machen, das geht ja in unsrer so überaus wirtschaft¬
lichen Zeit gar nicht mehr --, Nummer drei ist ein ehemaliger Beamter, der
seine Stellung zu Geschäften mißbraucht hat, vou denen man nur im Geheimen
munkeln darf, wenn man sich nicht eine Beleidigungsklage zuziehen will,
Nummer vier ist ein ehrbar gewordner Bvrdellwirt, Nummer fünf ein sehr
ehrbarer Handwerker und Kravattenfabrikant n. s. w. Kurzum: lauter Schma¬
rotzer, deren keiner sein Vermögen durch produktive Arbeit erworben hat. Oder
stürzt sich der Beobachter auf einen Damenflvr und horcht dann die Um¬
gegend aus, so vernimmt er wohl, daß die Müllers, deren weibliches Ober¬
haupt durch eine wahrhaft fürstliche Erscheinung blendet, daheim nichts zu
brechen und zu beißen haben, daß von den kostbaren Anzügen der Fräulein
Schutze nicht ein Faden bezahlt, daß bei Meyers der Gerichtsvollzieher täg¬
licher Gast ist u. s. w. Aber wir haben stellenweise wirklich noch einen soliden
Handwerkerstand. Zwar, daß ein Handwerker ohne Anfangskapital lediglich
durch seiner Hände Arbeit wohlhabend würde, kommt kaum noch vor. Wir
haben mit Schustern und Tischlern die sorgfältigste" Berechnungen angestellt
und herausbekommen, daß sie es, allein oder mit einem Gehilfen und einem
Lehrling arbeitend, auch bei größter Tüchtigkeit nicht höher als auf neun¬
hundert Mark jährlich bringen, also, wenn sie ein Häuflein Kinder haben,
kein Vermöge" ansammeln können. Aber daß Handwerker, namentlich Bau¬
handwerker, und solche, die einen Laden anlegen, mit einem kleinen ererbten
oder erheirateten Betriebskapital ihr Geschäft weit genug vergrößern, um ein
Vermögen vou zwanzig- bis dreißigtausend Thalern ansammeln zu können,
kommt überall noch vor. Auch die kleinern Kaufleute sind bei uns noch nicht,
wie in England, vou den großen Konsumvereine" erdrückt worden, und wir


nehmen, in Wirklichkeit nicht so düster, wie es nach den obigen Betrachtungen
erscheint. Nur werden Forscher, die ihren Blick mehr auf die Ziffern als auf
die Menschen gerichtet halten, niemals herausbekommen, wo der Fehler des
übertriebnen Pessimismus steckt. Zwar, wenn der Beobachter Unglück hat,
kann es ihm leicht begegnen, daß gleich der erste Versuch seine schlimmsten
Befürchtungen bestätigt. Er kann sich z. B., um die Lage des behübigen Mittel¬
standes zu prüfen, der nach Wolf im erfreulichsten Wachstum begriffen sein
soll, in eine „Ressource" einführen lassen, und wenn er dann der Vergangen¬
heit der Herren nachspürt, die er da angetroffen hat, und die allesamt den
günstigsten Eindruck mache«, so kann er etwa folgendes entdecken. Nummer
eins hat sich dreimal mit seinen Gläubigern „gesetzt" und lebt von den Renten
der Kapitalien, die er bei seinem Bankerott um die Ecke gebracht hat. Nummer
zwei hat als Lausbursche angefangen, nichts ordentliches gelernt, bald diesen,
bald jenen kleinen Schacher unternommen, hier eine Kneipe, dort eine Eisbahn
gepachtet — denn daß Staat oder Gemeinde eine Pfütze Wasser oder eine
Eisbahn der Jugend zur freien Benutzung überlassen sollten, anstatt eine Ein¬
nahmequelle daraus zu machen, das geht ja in unsrer so überaus wirtschaft¬
lichen Zeit gar nicht mehr —, Nummer drei ist ein ehemaliger Beamter, der
seine Stellung zu Geschäften mißbraucht hat, vou denen man nur im Geheimen
munkeln darf, wenn man sich nicht eine Beleidigungsklage zuziehen will,
Nummer vier ist ein ehrbar gewordner Bvrdellwirt, Nummer fünf ein sehr
ehrbarer Handwerker und Kravattenfabrikant n. s. w. Kurzum: lauter Schma¬
rotzer, deren keiner sein Vermögen durch produktive Arbeit erworben hat. Oder
stürzt sich der Beobachter auf einen Damenflvr und horcht dann die Um¬
gegend aus, so vernimmt er wohl, daß die Müllers, deren weibliches Ober¬
haupt durch eine wahrhaft fürstliche Erscheinung blendet, daheim nichts zu
brechen und zu beißen haben, daß von den kostbaren Anzügen der Fräulein
Schutze nicht ein Faden bezahlt, daß bei Meyers der Gerichtsvollzieher täg¬
licher Gast ist u. s. w. Aber wir haben stellenweise wirklich noch einen soliden
Handwerkerstand. Zwar, daß ein Handwerker ohne Anfangskapital lediglich
durch seiner Hände Arbeit wohlhabend würde, kommt kaum noch vor. Wir
haben mit Schustern und Tischlern die sorgfältigste» Berechnungen angestellt
und herausbekommen, daß sie es, allein oder mit einem Gehilfen und einem
Lehrling arbeitend, auch bei größter Tüchtigkeit nicht höher als auf neun¬
hundert Mark jährlich bringen, also, wenn sie ein Häuflein Kinder haben,
kein Vermöge» ansammeln können. Aber daß Handwerker, namentlich Bau¬
handwerker, und solche, die einen Laden anlegen, mit einem kleinen ererbten
oder erheirateten Betriebskapital ihr Geschäft weit genug vergrößern, um ein
Vermögen vou zwanzig- bis dreißigtausend Thalern ansammeln zu können,
kommt überall noch vor. Auch die kleinern Kaufleute sind bei uns noch nicht,
wie in England, vou den großen Konsumvereine» erdrückt worden, und wir


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0137" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213929"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_429" prev="#ID_428" next="#ID_430"> nehmen, in Wirklichkeit nicht so düster, wie es nach den obigen Betrachtungen<lb/>
erscheint. Nur werden Forscher, die ihren Blick mehr auf die Ziffern als auf<lb/>
die Menschen gerichtet halten, niemals herausbekommen, wo der Fehler des<lb/>
übertriebnen Pessimismus steckt. Zwar, wenn der Beobachter Unglück hat,<lb/>
kann es ihm leicht begegnen, daß gleich der erste Versuch seine schlimmsten<lb/>
Befürchtungen bestätigt. Er kann sich z. B., um die Lage des behübigen Mittel¬<lb/>
standes zu prüfen, der nach Wolf im erfreulichsten Wachstum begriffen sein<lb/>
soll, in eine &#x201E;Ressource" einführen lassen, und wenn er dann der Vergangen¬<lb/>
heit der Herren nachspürt, die er da angetroffen hat, und die allesamt den<lb/>
günstigsten Eindruck mache«, so kann er etwa folgendes entdecken. Nummer<lb/>
eins hat sich dreimal mit seinen Gläubigern &#x201E;gesetzt" und lebt von den Renten<lb/>
der Kapitalien, die er bei seinem Bankerott um die Ecke gebracht hat. Nummer<lb/>
zwei hat als Lausbursche angefangen, nichts ordentliches gelernt, bald diesen,<lb/>
bald jenen kleinen Schacher unternommen, hier eine Kneipe, dort eine Eisbahn<lb/>
gepachtet &#x2014; denn daß Staat oder Gemeinde eine Pfütze Wasser oder eine<lb/>
Eisbahn der Jugend zur freien Benutzung überlassen sollten, anstatt eine Ein¬<lb/>
nahmequelle daraus zu machen, das geht ja in unsrer so überaus wirtschaft¬<lb/>
lichen Zeit gar nicht mehr &#x2014;, Nummer drei ist ein ehemaliger Beamter, der<lb/>
seine Stellung zu Geschäften mißbraucht hat, vou denen man nur im Geheimen<lb/>
munkeln darf, wenn man sich nicht eine Beleidigungsklage zuziehen will,<lb/>
Nummer vier ist ein ehrbar gewordner Bvrdellwirt, Nummer fünf ein sehr<lb/>
ehrbarer Handwerker und Kravattenfabrikant n. s. w. Kurzum: lauter Schma¬<lb/>
rotzer, deren keiner sein Vermögen durch produktive Arbeit erworben hat. Oder<lb/>
stürzt sich der Beobachter auf einen Damenflvr und horcht dann die Um¬<lb/>
gegend aus, so vernimmt er wohl, daß die Müllers, deren weibliches Ober¬<lb/>
haupt durch eine wahrhaft fürstliche Erscheinung blendet, daheim nichts zu<lb/>
brechen und zu beißen haben, daß von den kostbaren Anzügen der Fräulein<lb/>
Schutze nicht ein Faden bezahlt, daß bei Meyers der Gerichtsvollzieher täg¬<lb/>
licher Gast ist u. s. w. Aber wir haben stellenweise wirklich noch einen soliden<lb/>
Handwerkerstand. Zwar, daß ein Handwerker ohne Anfangskapital lediglich<lb/>
durch seiner Hände Arbeit wohlhabend würde, kommt kaum noch vor. Wir<lb/>
haben mit Schustern und Tischlern die sorgfältigste» Berechnungen angestellt<lb/>
und herausbekommen, daß sie es, allein oder mit einem Gehilfen und einem<lb/>
Lehrling arbeitend, auch bei größter Tüchtigkeit nicht höher als auf neun¬<lb/>
hundert Mark jährlich bringen, also, wenn sie ein Häuflein Kinder haben,<lb/>
kein Vermöge» ansammeln können. Aber daß Handwerker, namentlich Bau¬<lb/>
handwerker, und solche, die einen Laden anlegen, mit einem kleinen ererbten<lb/>
oder erheirateten Betriebskapital ihr Geschäft weit genug vergrößern, um ein<lb/>
Vermögen vou zwanzig- bis dreißigtausend Thalern ansammeln zu können,<lb/>
kommt überall noch vor. Auch die kleinern Kaufleute sind bei uns noch nicht,<lb/>
wie in England, vou den großen Konsumvereine» erdrückt worden, und wir</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0137] nehmen, in Wirklichkeit nicht so düster, wie es nach den obigen Betrachtungen erscheint. Nur werden Forscher, die ihren Blick mehr auf die Ziffern als auf die Menschen gerichtet halten, niemals herausbekommen, wo der Fehler des übertriebnen Pessimismus steckt. Zwar, wenn der Beobachter Unglück hat, kann es ihm leicht begegnen, daß gleich der erste Versuch seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Er kann sich z. B., um die Lage des behübigen Mittel¬ standes zu prüfen, der nach Wolf im erfreulichsten Wachstum begriffen sein soll, in eine „Ressource" einführen lassen, und wenn er dann der Vergangen¬ heit der Herren nachspürt, die er da angetroffen hat, und die allesamt den günstigsten Eindruck mache«, so kann er etwa folgendes entdecken. Nummer eins hat sich dreimal mit seinen Gläubigern „gesetzt" und lebt von den Renten der Kapitalien, die er bei seinem Bankerott um die Ecke gebracht hat. Nummer zwei hat als Lausbursche angefangen, nichts ordentliches gelernt, bald diesen, bald jenen kleinen Schacher unternommen, hier eine Kneipe, dort eine Eisbahn gepachtet — denn daß Staat oder Gemeinde eine Pfütze Wasser oder eine Eisbahn der Jugend zur freien Benutzung überlassen sollten, anstatt eine Ein¬ nahmequelle daraus zu machen, das geht ja in unsrer so überaus wirtschaft¬ lichen Zeit gar nicht mehr —, Nummer drei ist ein ehemaliger Beamter, der seine Stellung zu Geschäften mißbraucht hat, vou denen man nur im Geheimen munkeln darf, wenn man sich nicht eine Beleidigungsklage zuziehen will, Nummer vier ist ein ehrbar gewordner Bvrdellwirt, Nummer fünf ein sehr ehrbarer Handwerker und Kravattenfabrikant n. s. w. Kurzum: lauter Schma¬ rotzer, deren keiner sein Vermögen durch produktive Arbeit erworben hat. Oder stürzt sich der Beobachter auf einen Damenflvr und horcht dann die Um¬ gegend aus, so vernimmt er wohl, daß die Müllers, deren weibliches Ober¬ haupt durch eine wahrhaft fürstliche Erscheinung blendet, daheim nichts zu brechen und zu beißen haben, daß von den kostbaren Anzügen der Fräulein Schutze nicht ein Faden bezahlt, daß bei Meyers der Gerichtsvollzieher täg¬ licher Gast ist u. s. w. Aber wir haben stellenweise wirklich noch einen soliden Handwerkerstand. Zwar, daß ein Handwerker ohne Anfangskapital lediglich durch seiner Hände Arbeit wohlhabend würde, kommt kaum noch vor. Wir haben mit Schustern und Tischlern die sorgfältigste» Berechnungen angestellt und herausbekommen, daß sie es, allein oder mit einem Gehilfen und einem Lehrling arbeitend, auch bei größter Tüchtigkeit nicht höher als auf neun¬ hundert Mark jährlich bringen, also, wenn sie ein Häuflein Kinder haben, kein Vermöge» ansammeln können. Aber daß Handwerker, namentlich Bau¬ handwerker, und solche, die einen Laden anlegen, mit einem kleinen ererbten oder erheirateten Betriebskapital ihr Geschäft weit genug vergrößern, um ein Vermögen vou zwanzig- bis dreißigtausend Thalern ansammeln zu können, kommt überall noch vor. Auch die kleinern Kaufleute sind bei uns noch nicht, wie in England, vou den großen Konsumvereine» erdrückt worden, und wir

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/137
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/137>, abgerufen am 28.05.2024.