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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Küche und dem Speisezimmer der Herrschaft seine Mahlzeiten einnimmt, sodaß
es jede Schüssel sieht, die ans deren Tisch getragen wird. Ähnliche Ein¬
richtungen hat man, um dein Mißtrauen der Leute vorzubeugen, in der Ge¬
gend allgemein getroffen. Die Leute bekommen zu Mittag täglich Suppe und
Braten -- gekochtes Fleisch mögen sie nicht -- und auch abends Fleisch, an
Sonn- und Feiertagen zu Mittag zwei Fleischspeisen. Zwischen diesem Ge¬
sinde und dem Gesinde auf manchen Rittergütern besteht also ein himmelweiter
Unterschied. Nur in der Erntezeit beginnt auch dort ein Stück sozialer Frage
aufzutauchen. Zwar für den Erwähnten und viele seine Nachbarn ist sie ge¬
löst; sie haben mit der Verwaltung der benachbarten Eisenbahn einen Vertrag
abgeschlossen, wonach diese ihnen ihre Arbeiter während der Erntezeit überläßt.
Im allgemeinen aber ist die Frage, woher die größern Gutsbesitzer die bei
der heutigen Wirtschaftsweise notwendigen Erntearbeiter nehmen, oder, falls
solche vorhanden sind, wohin sie nach der Ernte verschwinden sollen, noch
ungelöst und wahrscheinlich unlösbar. Die mittelalterliche Wirtschaftsweise
kannte diese Schwierigkeit nicht. So große Bauern wie heute gab es nicht;
der Dvminialherr aber bewirtschaftete uur einen kleinen Teil seiner Besitzung
selbst, und mit dessen Besorgung konnten seine Hörigen und Zinsbauern, deren
Zeit und Arbeitskraft von ihrem eignen Gütchen uicht vollständig aufgebraucht
wurde, auch in der Ernte bequem fertig werden. Überdies vollzog sich die
Arbeit nicht so wie heute in kurzen heißen "Campagnen," sondern sie erstreckte
sich mit größerer Gleichmäßigkeit über das ganze Jahr.

Das wäre also der Kern unsers Mittelstandes. Aber auch in der Ein-
kommenklasse derer mit weniger als 900 Mark findet sich noch eine Menge
ganz gediegner Existenzen. Denn es stecken darin alle jene Kleinbauern und
Ackerhäusler, deren Einkommen in barem Gelde gerechnet freilich nicht mehr
als 600 bis 900 Mark beträgt, in Wirklichkeit aber weit mehr wert ist. Sie
leben auf eigner Scholle und werden nicht aus einer Mietwohnung in die
andre gejagt. Ihre Wohnung wird vielleicht zu einem Mietwert von 10 Thalern
angeschlagen, ist aber in Wirklichkeit mehr wert, als eine großstädtische von
200 Thalern. Sie können die Arbeit nicht verlieren und nicht durch eine
Handelskrisis ins Bettelprvlctariat hinabgestoßen werden. Ihre Nahrung ist
gemein und ärmlich, aber gesund, kräftig und ungefälscht. Ihre Kinder ge¬
deihen ohne besondre Fürsorge in frischer Luft, und in Zeiten der Not, wie
nach Mißernten, wird die Familie von gutherzigen Nachbarn durchgeschleppt.
Personen andrer Berufsstände werden hie und da einer solchen bei aller Armut
sichern, würdigen und beglückenden Existenz teilhaftig. Wir kennen ein Bcchn-
würterehepaar, das acht Kinder groß gezogen hat und sich eines wirklichen
ungetrübten Glücks erfreut. Der Schlüssel des Geheimnisses liegt in den paar
Morgen Acker, die die Bahnverwnltuug den Leuten zu dem bloß nomineller
Pachtzins von 5 Mark für den Morgen überläßt. Um zu erfahren, ob eine


Grenzboten I 1893 17

Küche und dem Speisezimmer der Herrschaft seine Mahlzeiten einnimmt, sodaß
es jede Schüssel sieht, die ans deren Tisch getragen wird. Ähnliche Ein¬
richtungen hat man, um dein Mißtrauen der Leute vorzubeugen, in der Ge¬
gend allgemein getroffen. Die Leute bekommen zu Mittag täglich Suppe und
Braten — gekochtes Fleisch mögen sie nicht — und auch abends Fleisch, an
Sonn- und Feiertagen zu Mittag zwei Fleischspeisen. Zwischen diesem Ge¬
sinde und dem Gesinde auf manchen Rittergütern besteht also ein himmelweiter
Unterschied. Nur in der Erntezeit beginnt auch dort ein Stück sozialer Frage
aufzutauchen. Zwar für den Erwähnten und viele seine Nachbarn ist sie ge¬
löst; sie haben mit der Verwaltung der benachbarten Eisenbahn einen Vertrag
abgeschlossen, wonach diese ihnen ihre Arbeiter während der Erntezeit überläßt.
Im allgemeinen aber ist die Frage, woher die größern Gutsbesitzer die bei
der heutigen Wirtschaftsweise notwendigen Erntearbeiter nehmen, oder, falls
solche vorhanden sind, wohin sie nach der Ernte verschwinden sollen, noch
ungelöst und wahrscheinlich unlösbar. Die mittelalterliche Wirtschaftsweise
kannte diese Schwierigkeit nicht. So große Bauern wie heute gab es nicht;
der Dvminialherr aber bewirtschaftete uur einen kleinen Teil seiner Besitzung
selbst, und mit dessen Besorgung konnten seine Hörigen und Zinsbauern, deren
Zeit und Arbeitskraft von ihrem eignen Gütchen uicht vollständig aufgebraucht
wurde, auch in der Ernte bequem fertig werden. Überdies vollzog sich die
Arbeit nicht so wie heute in kurzen heißen „Campagnen," sondern sie erstreckte
sich mit größerer Gleichmäßigkeit über das ganze Jahr.

Das wäre also der Kern unsers Mittelstandes. Aber auch in der Ein-
kommenklasse derer mit weniger als 900 Mark findet sich noch eine Menge
ganz gediegner Existenzen. Denn es stecken darin alle jene Kleinbauern und
Ackerhäusler, deren Einkommen in barem Gelde gerechnet freilich nicht mehr
als 600 bis 900 Mark beträgt, in Wirklichkeit aber weit mehr wert ist. Sie
leben auf eigner Scholle und werden nicht aus einer Mietwohnung in die
andre gejagt. Ihre Wohnung wird vielleicht zu einem Mietwert von 10 Thalern
angeschlagen, ist aber in Wirklichkeit mehr wert, als eine großstädtische von
200 Thalern. Sie können die Arbeit nicht verlieren und nicht durch eine
Handelskrisis ins Bettelprvlctariat hinabgestoßen werden. Ihre Nahrung ist
gemein und ärmlich, aber gesund, kräftig und ungefälscht. Ihre Kinder ge¬
deihen ohne besondre Fürsorge in frischer Luft, und in Zeiten der Not, wie
nach Mißernten, wird die Familie von gutherzigen Nachbarn durchgeschleppt.
Personen andrer Berufsstände werden hie und da einer solchen bei aller Armut
sichern, würdigen und beglückenden Existenz teilhaftig. Wir kennen ein Bcchn-
würterehepaar, das acht Kinder groß gezogen hat und sich eines wirklichen
ungetrübten Glücks erfreut. Der Schlüssel des Geheimnisses liegt in den paar
Morgen Acker, die die Bahnverwnltuug den Leuten zu dem bloß nomineller
Pachtzins von 5 Mark für den Morgen überläßt. Um zu erfahren, ob eine


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[0139] Küche und dem Speisezimmer der Herrschaft seine Mahlzeiten einnimmt, sodaß es jede Schüssel sieht, die ans deren Tisch getragen wird. Ähnliche Ein¬ richtungen hat man, um dein Mißtrauen der Leute vorzubeugen, in der Ge¬ gend allgemein getroffen. Die Leute bekommen zu Mittag täglich Suppe und Braten — gekochtes Fleisch mögen sie nicht — und auch abends Fleisch, an Sonn- und Feiertagen zu Mittag zwei Fleischspeisen. Zwischen diesem Ge¬ sinde und dem Gesinde auf manchen Rittergütern besteht also ein himmelweiter Unterschied. Nur in der Erntezeit beginnt auch dort ein Stück sozialer Frage aufzutauchen. Zwar für den Erwähnten und viele seine Nachbarn ist sie ge¬ löst; sie haben mit der Verwaltung der benachbarten Eisenbahn einen Vertrag abgeschlossen, wonach diese ihnen ihre Arbeiter während der Erntezeit überläßt. Im allgemeinen aber ist die Frage, woher die größern Gutsbesitzer die bei der heutigen Wirtschaftsweise notwendigen Erntearbeiter nehmen, oder, falls solche vorhanden sind, wohin sie nach der Ernte verschwinden sollen, noch ungelöst und wahrscheinlich unlösbar. Die mittelalterliche Wirtschaftsweise kannte diese Schwierigkeit nicht. So große Bauern wie heute gab es nicht; der Dvminialherr aber bewirtschaftete uur einen kleinen Teil seiner Besitzung selbst, und mit dessen Besorgung konnten seine Hörigen und Zinsbauern, deren Zeit und Arbeitskraft von ihrem eignen Gütchen uicht vollständig aufgebraucht wurde, auch in der Ernte bequem fertig werden. Überdies vollzog sich die Arbeit nicht so wie heute in kurzen heißen „Campagnen," sondern sie erstreckte sich mit größerer Gleichmäßigkeit über das ganze Jahr. Das wäre also der Kern unsers Mittelstandes. Aber auch in der Ein- kommenklasse derer mit weniger als 900 Mark findet sich noch eine Menge ganz gediegner Existenzen. Denn es stecken darin alle jene Kleinbauern und Ackerhäusler, deren Einkommen in barem Gelde gerechnet freilich nicht mehr als 600 bis 900 Mark beträgt, in Wirklichkeit aber weit mehr wert ist. Sie leben auf eigner Scholle und werden nicht aus einer Mietwohnung in die andre gejagt. Ihre Wohnung wird vielleicht zu einem Mietwert von 10 Thalern angeschlagen, ist aber in Wirklichkeit mehr wert, als eine großstädtische von 200 Thalern. Sie können die Arbeit nicht verlieren und nicht durch eine Handelskrisis ins Bettelprvlctariat hinabgestoßen werden. Ihre Nahrung ist gemein und ärmlich, aber gesund, kräftig und ungefälscht. Ihre Kinder ge¬ deihen ohne besondre Fürsorge in frischer Luft, und in Zeiten der Not, wie nach Mißernten, wird die Familie von gutherzigen Nachbarn durchgeschleppt. Personen andrer Berufsstände werden hie und da einer solchen bei aller Armut sichern, würdigen und beglückenden Existenz teilhaftig. Wir kennen ein Bcchn- würterehepaar, das acht Kinder groß gezogen hat und sich eines wirklichen ungetrübten Glücks erfreut. Der Schlüssel des Geheimnisses liegt in den paar Morgen Acker, die die Bahnverwnltuug den Leuten zu dem bloß nomineller Pachtzins von 5 Mark für den Morgen überläßt. Um zu erfahren, ob eine Grenzboten I 1893 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/139>, abgerufen am 28.05.2024.