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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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zur Verschwörung gegen sein Vaterland getrieben wurden, aber eben so gewiß
hat die große Masse der herrschenden Stände gedacht und gehandelt nach
dem Grundsatze: icprvL nous is ästuM! und das Königtum hat das unterstützt.
War es da ein Wunder/ wenn der Gedanke Boden gewann, da das souveräne
Königtum seine Pflicht so schlecht gethan hatte, diese Souveränität selbst für
verderblich zu halten und die Souveränität dem Volke zuzusprechen?

Was bedeutete aber die Vvlkssvnveränitüt thatsächlich in Frankreich?
Sie bedeutete, daß die Entscheidung der allerverwickeltsten und schwierigsten
Fragen, die ein modernes Kulturvolk zu lösen hatte, der Form nach in die
Hände ungebildeter Massen siel, die kaum vorbereitet gewesen wären, eine
kleine Dorfgemeinde zu verwalten, die seit Jahrhunderten an blinden Gehorsam
gegen die Behörden gewöhnt waren, von der sie, als von einer irdischen Bor-
sehung, alles zu erwarten hatten, und die jetzt ihren Leidenschaften, Launen
und persönlichen Wünschen die Zügel schießen ließen. Und weil damit kein
Staat, und am allerwenigsten ein großer Staat in einer schweren Übergangs¬
zeit, regiert werden kann, so geriet die Leitung thatsächlich in die Hände einer
verhältnismäßig kleinen Minderheit von gebildeten oder halbgebildeter Leuten,
die durch Begabung, Leidenschaft und Dreistigkeit die andern zu beherrschen
wußten. Bekanntlich waren die gerühmten "Freiheitshelden" der Gironde und
des Jakobinerklubs meist unreife junge Menschen in den zwanziger und drei¬
ßiger Jahren, die niemals auch nur das kleinste Gemeinwesen geleitet hatten
und nun, den Kopf voll Nousseauischer Phantasien, sich vermaßen, einen neuen
Staat zu schaffen; die bedeutendsten von ihnen waren kalte Fanatiker des
Verstandes, allem unzugänglich, was nicht mit ihren Theorien übereinstimmte.

Aber daß sie die Herrschaft über ein Volk von vierundzwanzig Millionen an
sich reißen und den Staat in der That nach diesen Theorien umgestalten oder
wenigstens den Versuch dazu macheu konnten, obwohl doch die ungeheure
Mehrheit der Franzosen weder Jakobiner noch überhaupt Republikaner waren,
sondern einfach Monarchisten blieben, das erklärt sich nur aus einem andern
Ergebnis der Revolution, aus dein alles erdrückenden Übergewicht der Haupt¬
stadt. Allerdings hatten schon die Jahrhunderte daran gearbeitet, dies Über¬
gewicht zu begründen. Aber bis auf die Revolution hatte Paris doch immer
noch ein schwaches Gegengewicht gesunden in den großen, historisch gewordnen,
von Eigenart und Selbstbewußtsein erfüllten Provinzen. Erst die Revolution,
und zwar gleich in ihrer ersten, verhältnismäßig noch besonnenen Zeit, hatte
ohne irgendwelche hinreichenden Gründe, gegen die Meinung der bedeutendsten
Männer, wie Mimbeau, lediglich aus Haß gegen das Bestehende, diese großen
Körper in kleine Departements zerschlagen, in denen niemals ein landschast-
liches Selbstbewußtsein aufkeimen konnte und sollte. Dieselben Menschen, die
alles, was aus der alten Monarchie herrührte, ingrimmig haßten, hatten
damit, ohne es zu merken, das Werk dieser Monarchie, die Zentralisation


zur Verschwörung gegen sein Vaterland getrieben wurden, aber eben so gewiß
hat die große Masse der herrschenden Stände gedacht und gehandelt nach
dem Grundsatze: icprvL nous is ästuM! und das Königtum hat das unterstützt.
War es da ein Wunder/ wenn der Gedanke Boden gewann, da das souveräne
Königtum seine Pflicht so schlecht gethan hatte, diese Souveränität selbst für
verderblich zu halten und die Souveränität dem Volke zuzusprechen?

Was bedeutete aber die Vvlkssvnveränitüt thatsächlich in Frankreich?
Sie bedeutete, daß die Entscheidung der allerverwickeltsten und schwierigsten
Fragen, die ein modernes Kulturvolk zu lösen hatte, der Form nach in die
Hände ungebildeter Massen siel, die kaum vorbereitet gewesen wären, eine
kleine Dorfgemeinde zu verwalten, die seit Jahrhunderten an blinden Gehorsam
gegen die Behörden gewöhnt waren, von der sie, als von einer irdischen Bor-
sehung, alles zu erwarten hatten, und die jetzt ihren Leidenschaften, Launen
und persönlichen Wünschen die Zügel schießen ließen. Und weil damit kein
Staat, und am allerwenigsten ein großer Staat in einer schweren Übergangs¬
zeit, regiert werden kann, so geriet die Leitung thatsächlich in die Hände einer
verhältnismäßig kleinen Minderheit von gebildeten oder halbgebildeter Leuten,
die durch Begabung, Leidenschaft und Dreistigkeit die andern zu beherrschen
wußten. Bekanntlich waren die gerühmten „Freiheitshelden" der Gironde und
des Jakobinerklubs meist unreife junge Menschen in den zwanziger und drei¬
ßiger Jahren, die niemals auch nur das kleinste Gemeinwesen geleitet hatten
und nun, den Kopf voll Nousseauischer Phantasien, sich vermaßen, einen neuen
Staat zu schaffen; die bedeutendsten von ihnen waren kalte Fanatiker des
Verstandes, allem unzugänglich, was nicht mit ihren Theorien übereinstimmte.

Aber daß sie die Herrschaft über ein Volk von vierundzwanzig Millionen an
sich reißen und den Staat in der That nach diesen Theorien umgestalten oder
wenigstens den Versuch dazu macheu konnten, obwohl doch die ungeheure
Mehrheit der Franzosen weder Jakobiner noch überhaupt Republikaner waren,
sondern einfach Monarchisten blieben, das erklärt sich nur aus einem andern
Ergebnis der Revolution, aus dein alles erdrückenden Übergewicht der Haupt¬
stadt. Allerdings hatten schon die Jahrhunderte daran gearbeitet, dies Über¬
gewicht zu begründen. Aber bis auf die Revolution hatte Paris doch immer
noch ein schwaches Gegengewicht gesunden in den großen, historisch gewordnen,
von Eigenart und Selbstbewußtsein erfüllten Provinzen. Erst die Revolution,
und zwar gleich in ihrer ersten, verhältnismäßig noch besonnenen Zeit, hatte
ohne irgendwelche hinreichenden Gründe, gegen die Meinung der bedeutendsten
Männer, wie Mimbeau, lediglich aus Haß gegen das Bestehende, diese großen
Körper in kleine Departements zerschlagen, in denen niemals ein landschast-
liches Selbstbewußtsein aufkeimen konnte und sollte. Dieselben Menschen, die
alles, was aus der alten Monarchie herrührte, ingrimmig haßten, hatten
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[0182] zur Verschwörung gegen sein Vaterland getrieben wurden, aber eben so gewiß hat die große Masse der herrschenden Stände gedacht und gehandelt nach dem Grundsatze: icprvL nous is ästuM! und das Königtum hat das unterstützt. War es da ein Wunder/ wenn der Gedanke Boden gewann, da das souveräne Königtum seine Pflicht so schlecht gethan hatte, diese Souveränität selbst für verderblich zu halten und die Souveränität dem Volke zuzusprechen? Was bedeutete aber die Vvlkssvnveränitüt thatsächlich in Frankreich? Sie bedeutete, daß die Entscheidung der allerverwickeltsten und schwierigsten Fragen, die ein modernes Kulturvolk zu lösen hatte, der Form nach in die Hände ungebildeter Massen siel, die kaum vorbereitet gewesen wären, eine kleine Dorfgemeinde zu verwalten, die seit Jahrhunderten an blinden Gehorsam gegen die Behörden gewöhnt waren, von der sie, als von einer irdischen Bor- sehung, alles zu erwarten hatten, und die jetzt ihren Leidenschaften, Launen und persönlichen Wünschen die Zügel schießen ließen. Und weil damit kein Staat, und am allerwenigsten ein großer Staat in einer schweren Übergangs¬ zeit, regiert werden kann, so geriet die Leitung thatsächlich in die Hände einer verhältnismäßig kleinen Minderheit von gebildeten oder halbgebildeter Leuten, die durch Begabung, Leidenschaft und Dreistigkeit die andern zu beherrschen wußten. Bekanntlich waren die gerühmten „Freiheitshelden" der Gironde und des Jakobinerklubs meist unreife junge Menschen in den zwanziger und drei¬ ßiger Jahren, die niemals auch nur das kleinste Gemeinwesen geleitet hatten und nun, den Kopf voll Nousseauischer Phantasien, sich vermaßen, einen neuen Staat zu schaffen; die bedeutendsten von ihnen waren kalte Fanatiker des Verstandes, allem unzugänglich, was nicht mit ihren Theorien übereinstimmte. Aber daß sie die Herrschaft über ein Volk von vierundzwanzig Millionen an sich reißen und den Staat in der That nach diesen Theorien umgestalten oder wenigstens den Versuch dazu macheu konnten, obwohl doch die ungeheure Mehrheit der Franzosen weder Jakobiner noch überhaupt Republikaner waren, sondern einfach Monarchisten blieben, das erklärt sich nur aus einem andern Ergebnis der Revolution, aus dein alles erdrückenden Übergewicht der Haupt¬ stadt. Allerdings hatten schon die Jahrhunderte daran gearbeitet, dies Über¬ gewicht zu begründen. Aber bis auf die Revolution hatte Paris doch immer noch ein schwaches Gegengewicht gesunden in den großen, historisch gewordnen, von Eigenart und Selbstbewußtsein erfüllten Provinzen. Erst die Revolution, und zwar gleich in ihrer ersten, verhältnismäßig noch besonnenen Zeit, hatte ohne irgendwelche hinreichenden Gründe, gegen die Meinung der bedeutendsten Männer, wie Mimbeau, lediglich aus Haß gegen das Bestehende, diese großen Körper in kleine Departements zerschlagen, in denen niemals ein landschast- liches Selbstbewußtsein aufkeimen konnte und sollte. Dieselben Menschen, die alles, was aus der alten Monarchie herrührte, ingrimmig haßten, hatten damit, ohne es zu merken, das Werk dieser Monarchie, die Zentralisation

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/182>, abgerufen am 27.05.2024.