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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Weder Aoiinnnuismus noch Kapitalismus

unheimlichere Zusammendrängung der Arme" in ihre Hollen. Also auch im
Genuß ist die Solidarität zwischen Kapital und Arbeit zerrissen. Feiern die
Vertreter der einen Klasse ein Fest, so genügt das Erscheinen eines Vertreters
der andern, die Feststimmung zu verderben.

Die besondre Art des Lebensgenusses und Prunks der Reichen um ver¬
leiht der Industrie einen beständigen Antrieb, der eine förmliche Revolution
oder eine Reihe von Revolutionen zur Folge hat. Das eigentliche Bedürfnis
der Reichen wird mit einem so kleinen Teile ihres Einkommens gedeckt, daß
Geld genug übrig bleibt zur Befriedigung jeder Laune. Legion ist die Zahl
der Geräte. Zieraten, Behänge, Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, die
zur Ausstattung eines vornehmen Hauses gehöre". Die unerschöpfliche Kauf¬
kraft des Besitzers bringt es mit sich, daß er sich mit der einmaligen Aus¬
stattung nicht begnügt, sondern zur Ausfüllung der Langenweile beständig
wechselt. Am raschesten aber geht der Wechsel der Franengewänder und des
Frauenputzes vor sich. Sehen wir einmal nach, was dieser Aufwand des
Kapitals für die Arbeit bedeutet! Eine Dame einer gewissen Rang- und Ver¬
mögensstufe wird heutzutage jährlich etwa zehn Kleider verbrauchen. Vor
einigen hundert Jahren mag eine Frau derselben Stufe fünf Wechselkleider
besessen haben, deren jedes zehn Jahre lang reichte. Jene verbraucht demnach
in zehn Jahren zwanzigmal so viel Stoff, als diese verbraucht hat. Ihr Ein¬
komme" mag fünfmal so groß, der Kleiderstoff vielleicht viermal so billig
sein. Dann haben beide Frauen denselben Aufwand gemacht, aber die Hand¬
werker, die die Stoffe anfertigen, hatten im zweiten Falle viermal mehr; sie
konnten sich zur Arbeit Zeit nehmen und dabei besser leben. Damit ist jedoch
der Unterschied keineswegs erschöpft. In der frühern Zeit verwendeten neun
Zehntel aller Menschen den größten Teil ihrer Arbeit auf die Erzeugung der
Dinge, die sie selbst brauchten, und die zu allen Zeiten jeder am nötigsten
braucht: Nahrung, Kleidung und Wohnung. Der Bauer bestellte den Acker,
sein Weib besorgte die Kühe, spann, webte und nähte, und verfiel seine Hütte,
so zog er mit seinen Söhnen in den Gemeindewald, holte sich ein paar Stämme
herein und besserte den Schaden ans. In den heutigen Industriestaaten ist
kaum ein Viertel der Menschen in der Lage, auch nur das geringste von dem,
was sie brauchen, selbst herzustellen. Der Hungrige kann nicht Brot oder
Fleisch erzengen, wem es an Stiefeln fehlt, der hat kein eignes Kalb, ihm
das Fell abzuziehen, der Obdachlose darf sich keine Hütte banen; nicht einmal
einen Fleck hat er, auf dem er sie bauen könnte. Ja, wenn er in einer warmen
Sommernacht einen vier Quadratschnh großen Nasenfleck dazu benutzt, seiue
müden Glieder darauf zu strecken, begeht er eine "Strafthat." Wenn er in Berlin,
wo zur Zeit 40 000 Wohnungen leer stehen, deren keine er bezahlen kann,
auf eiueiu freien Platze aus zusammengebettelten Brettern eine Hütte banen
wollte, so würde er damit eine ganze Reihe von "Strafthaten" begehen. Gleich


Weder Aoiinnnuismus noch Kapitalismus

unheimlichere Zusammendrängung der Arme» in ihre Hollen. Also auch im
Genuß ist die Solidarität zwischen Kapital und Arbeit zerrissen. Feiern die
Vertreter der einen Klasse ein Fest, so genügt das Erscheinen eines Vertreters
der andern, die Feststimmung zu verderben.

Die besondre Art des Lebensgenusses und Prunks der Reichen um ver¬
leiht der Industrie einen beständigen Antrieb, der eine förmliche Revolution
oder eine Reihe von Revolutionen zur Folge hat. Das eigentliche Bedürfnis
der Reichen wird mit einem so kleinen Teile ihres Einkommens gedeckt, daß
Geld genug übrig bleibt zur Befriedigung jeder Laune. Legion ist die Zahl
der Geräte. Zieraten, Behänge, Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, die
zur Ausstattung eines vornehmen Hauses gehöre». Die unerschöpfliche Kauf¬
kraft des Besitzers bringt es mit sich, daß er sich mit der einmaligen Aus¬
stattung nicht begnügt, sondern zur Ausfüllung der Langenweile beständig
wechselt. Am raschesten aber geht der Wechsel der Franengewänder und des
Frauenputzes vor sich. Sehen wir einmal nach, was dieser Aufwand des
Kapitals für die Arbeit bedeutet! Eine Dame einer gewissen Rang- und Ver¬
mögensstufe wird heutzutage jährlich etwa zehn Kleider verbrauchen. Vor
einigen hundert Jahren mag eine Frau derselben Stufe fünf Wechselkleider
besessen haben, deren jedes zehn Jahre lang reichte. Jene verbraucht demnach
in zehn Jahren zwanzigmal so viel Stoff, als diese verbraucht hat. Ihr Ein¬
komme« mag fünfmal so groß, der Kleiderstoff vielleicht viermal so billig
sein. Dann haben beide Frauen denselben Aufwand gemacht, aber die Hand¬
werker, die die Stoffe anfertigen, hatten im zweiten Falle viermal mehr; sie
konnten sich zur Arbeit Zeit nehmen und dabei besser leben. Damit ist jedoch
der Unterschied keineswegs erschöpft. In der frühern Zeit verwendeten neun
Zehntel aller Menschen den größten Teil ihrer Arbeit auf die Erzeugung der
Dinge, die sie selbst brauchten, und die zu allen Zeiten jeder am nötigsten
braucht: Nahrung, Kleidung und Wohnung. Der Bauer bestellte den Acker,
sein Weib besorgte die Kühe, spann, webte und nähte, und verfiel seine Hütte,
so zog er mit seinen Söhnen in den Gemeindewald, holte sich ein paar Stämme
herein und besserte den Schaden ans. In den heutigen Industriestaaten ist
kaum ein Viertel der Menschen in der Lage, auch nur das geringste von dem,
was sie brauchen, selbst herzustellen. Der Hungrige kann nicht Brot oder
Fleisch erzengen, wem es an Stiefeln fehlt, der hat kein eignes Kalb, ihm
das Fell abzuziehen, der Obdachlose darf sich keine Hütte banen; nicht einmal
einen Fleck hat er, auf dem er sie bauen könnte. Ja, wenn er in einer warmen
Sommernacht einen vier Quadratschnh großen Nasenfleck dazu benutzt, seiue
müden Glieder darauf zu strecken, begeht er eine „Strafthat." Wenn er in Berlin,
wo zur Zeit 40 000 Wohnungen leer stehen, deren keine er bezahlen kann,
auf eiueiu freien Platze aus zusammengebettelten Brettern eine Hütte banen
wollte, so würde er damit eine ganze Reihe von „Strafthaten" begehen. Gleich


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[0229] Weder Aoiinnnuismus noch Kapitalismus unheimlichere Zusammendrängung der Arme» in ihre Hollen. Also auch im Genuß ist die Solidarität zwischen Kapital und Arbeit zerrissen. Feiern die Vertreter der einen Klasse ein Fest, so genügt das Erscheinen eines Vertreters der andern, die Feststimmung zu verderben. Die besondre Art des Lebensgenusses und Prunks der Reichen um ver¬ leiht der Industrie einen beständigen Antrieb, der eine förmliche Revolution oder eine Reihe von Revolutionen zur Folge hat. Das eigentliche Bedürfnis der Reichen wird mit einem so kleinen Teile ihres Einkommens gedeckt, daß Geld genug übrig bleibt zur Befriedigung jeder Laune. Legion ist die Zahl der Geräte. Zieraten, Behänge, Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten, die zur Ausstattung eines vornehmen Hauses gehöre». Die unerschöpfliche Kauf¬ kraft des Besitzers bringt es mit sich, daß er sich mit der einmaligen Aus¬ stattung nicht begnügt, sondern zur Ausfüllung der Langenweile beständig wechselt. Am raschesten aber geht der Wechsel der Franengewänder und des Frauenputzes vor sich. Sehen wir einmal nach, was dieser Aufwand des Kapitals für die Arbeit bedeutet! Eine Dame einer gewissen Rang- und Ver¬ mögensstufe wird heutzutage jährlich etwa zehn Kleider verbrauchen. Vor einigen hundert Jahren mag eine Frau derselben Stufe fünf Wechselkleider besessen haben, deren jedes zehn Jahre lang reichte. Jene verbraucht demnach in zehn Jahren zwanzigmal so viel Stoff, als diese verbraucht hat. Ihr Ein¬ komme« mag fünfmal so groß, der Kleiderstoff vielleicht viermal so billig sein. Dann haben beide Frauen denselben Aufwand gemacht, aber die Hand¬ werker, die die Stoffe anfertigen, hatten im zweiten Falle viermal mehr; sie konnten sich zur Arbeit Zeit nehmen und dabei besser leben. Damit ist jedoch der Unterschied keineswegs erschöpft. In der frühern Zeit verwendeten neun Zehntel aller Menschen den größten Teil ihrer Arbeit auf die Erzeugung der Dinge, die sie selbst brauchten, und die zu allen Zeiten jeder am nötigsten braucht: Nahrung, Kleidung und Wohnung. Der Bauer bestellte den Acker, sein Weib besorgte die Kühe, spann, webte und nähte, und verfiel seine Hütte, so zog er mit seinen Söhnen in den Gemeindewald, holte sich ein paar Stämme herein und besserte den Schaden ans. In den heutigen Industriestaaten ist kaum ein Viertel der Menschen in der Lage, auch nur das geringste von dem, was sie brauchen, selbst herzustellen. Der Hungrige kann nicht Brot oder Fleisch erzengen, wem es an Stiefeln fehlt, der hat kein eignes Kalb, ihm das Fell abzuziehen, der Obdachlose darf sich keine Hütte banen; nicht einmal einen Fleck hat er, auf dem er sie bauen könnte. Ja, wenn er in einer warmen Sommernacht einen vier Quadratschnh großen Nasenfleck dazu benutzt, seiue müden Glieder darauf zu strecken, begeht er eine „Strafthat." Wenn er in Berlin, wo zur Zeit 40 000 Wohnungen leer stehen, deren keine er bezahlen kann, auf eiueiu freien Platze aus zusammengebettelten Brettern eine Hütte banen wollte, so würde er damit eine ganze Reihe von „Strafthaten" begehen. Gleich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/229>, abgerufen am 06.06.2024.