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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Bibelrevision und Bibelübersetznuiz

z. B. wieder: "Ich möchte alle meine Beine zählen." Ebenso fiel es auf,
daß sehr bekannte Stellen um der Wahrheit willen geändert worden waren,
während andre ebenso falsch übersetzte Stellen unverändert geblieben waren.
Die ziemlich scharfe Kritik, die an der Probebibel geübt wurde, ist nun zwar
nicht ohne Einfluß auf die Vollendung des Werkes geblieben. Im einzelnen
ist noch manches gebessert und besonders der Archaismus der Probebibel be¬
deutend gemildert worden. Trotzdem ist auf eine allgemeine Anerkennung des
Werkes nicht zu rechnen. Die Kritik der Probebibel hat gezeigt, daß jeden¬
falls das eine Ziel, die Herstellung eines einheitlichen Textes der Lutherbibel,
durch diese Revision noch nicht erreicht werden wird.

Als einst August Hermann Francke darauf hinwies, daß wohl manche
Stelle in der Lutherbibel richtiger übersetzt werden könne, wurde dieser Ge¬
danke von den orthodoxen Lutheranern als teuflich verschrien. Diese Zeiten
sind vorüber. Aber es fehlt auch in unsrer Zeit nicht um Theologen, die
grundsätzlich jede Revision der Lutherbibel verwerfen. Schon 18et/j, als das
Werk überhaupt erst begonnen wurde, erklärte sich die theologische Fakultät
zu Rostock dagegen, und 1868 hat die mecklenburgisch-schwerinische Kirchcn-
regierung die Annahme der revidirten Bibel ausdrücklich abgelehnt. Als die
Probebibel erschienen war, haben eine ganze Anzahl strenge Lutheraner auch
in Sachsen und Baiern sehr ernste Bedenken gegen sie erhoben. Bor allem
fürchtet man, daß durch eine durchgreifende Veränderung der alten Lnther-
bibel die Einheit der Kirche gefährdet und das Volk an der Bibel, am Worte
Gottes, irre gemacht werde. Niemand wird leugnen, daß diese Bedenken aus
ernster Sorge für das Wohl der Kirche hervorgegangen sind. Änderungen
in kirchlichen Dingen gehen nie ohne einige Verwirrung ab. Aber die evan¬
gelische Kirche darf und soll nach ihren Grundsätzen, wenn es sich um die
Wahrheit handelt, diese Gefahr nicht scheuen. Sie gründet sich nicht auf den
Buchstaben einer Bibelübersetzung, sondern auf die ewige Wahrheit des Wortes
Gottes, die in der Bibel enthalten ist. Die Erforschung dieser Wahrheit und
ihre Vermittlung an die Gemeinden ist die heiligste Aufgabe der Kirche, und
jede andre Rücksicht, sei es die des allzu klugen Kirchenpolitikers, sei es die
des allzu ängstlichen Seelsorgers, muß dagegen zurücktreten. Auf die Dauer
ist, wie in allen Dingen, so auch hier die Wahrheit das allein praktische.
Was hat ein Glaube für einen Wert, der durch die Verbesserung falsch über¬
setzter Bibelstellen erschüttert werden kann? Soll die evangelische Kirche einen
Glaube" schonen und Pflegen, der am Buchstaben hängt? Muß sie nicht viel¬
mehr darauf hinarbeiten, einen Glauben zu wecken, der auf festeren Grunde
steht? Können es die Vertreter der Kirche aus die Dauer vor ihrem Gewissen
verantworte", Bibelstellen dem Volke als Gottes Wort zu verkünde", von
denen sie selbst wissen, daß sie durch spätre Zusätze verfälscht oder vollständig
falsch übersetzt sind? Die alte Epistel am Sonntage Quasimodogeniti 1. Joh.


Bibelrevision und Bibelübersetznuiz

z. B. wieder: „Ich möchte alle meine Beine zählen." Ebenso fiel es auf,
daß sehr bekannte Stellen um der Wahrheit willen geändert worden waren,
während andre ebenso falsch übersetzte Stellen unverändert geblieben waren.
Die ziemlich scharfe Kritik, die an der Probebibel geübt wurde, ist nun zwar
nicht ohne Einfluß auf die Vollendung des Werkes geblieben. Im einzelnen
ist noch manches gebessert und besonders der Archaismus der Probebibel be¬
deutend gemildert worden. Trotzdem ist auf eine allgemeine Anerkennung des
Werkes nicht zu rechnen. Die Kritik der Probebibel hat gezeigt, daß jeden¬
falls das eine Ziel, die Herstellung eines einheitlichen Textes der Lutherbibel,
durch diese Revision noch nicht erreicht werden wird.

Als einst August Hermann Francke darauf hinwies, daß wohl manche
Stelle in der Lutherbibel richtiger übersetzt werden könne, wurde dieser Ge¬
danke von den orthodoxen Lutheranern als teuflich verschrien. Diese Zeiten
sind vorüber. Aber es fehlt auch in unsrer Zeit nicht um Theologen, die
grundsätzlich jede Revision der Lutherbibel verwerfen. Schon 18et/j, als das
Werk überhaupt erst begonnen wurde, erklärte sich die theologische Fakultät
zu Rostock dagegen, und 1868 hat die mecklenburgisch-schwerinische Kirchcn-
regierung die Annahme der revidirten Bibel ausdrücklich abgelehnt. Als die
Probebibel erschienen war, haben eine ganze Anzahl strenge Lutheraner auch
in Sachsen und Baiern sehr ernste Bedenken gegen sie erhoben. Bor allem
fürchtet man, daß durch eine durchgreifende Veränderung der alten Lnther-
bibel die Einheit der Kirche gefährdet und das Volk an der Bibel, am Worte
Gottes, irre gemacht werde. Niemand wird leugnen, daß diese Bedenken aus
ernster Sorge für das Wohl der Kirche hervorgegangen sind. Änderungen
in kirchlichen Dingen gehen nie ohne einige Verwirrung ab. Aber die evan¬
gelische Kirche darf und soll nach ihren Grundsätzen, wenn es sich um die
Wahrheit handelt, diese Gefahr nicht scheuen. Sie gründet sich nicht auf den
Buchstaben einer Bibelübersetzung, sondern auf die ewige Wahrheit des Wortes
Gottes, die in der Bibel enthalten ist. Die Erforschung dieser Wahrheit und
ihre Vermittlung an die Gemeinden ist die heiligste Aufgabe der Kirche, und
jede andre Rücksicht, sei es die des allzu klugen Kirchenpolitikers, sei es die
des allzu ängstlichen Seelsorgers, muß dagegen zurücktreten. Auf die Dauer
ist, wie in allen Dingen, so auch hier die Wahrheit das allein praktische.
Was hat ein Glaube für einen Wert, der durch die Verbesserung falsch über¬
setzter Bibelstellen erschüttert werden kann? Soll die evangelische Kirche einen
Glaube» schonen und Pflegen, der am Buchstaben hängt? Muß sie nicht viel¬
mehr darauf hinarbeiten, einen Glauben zu wecken, der auf festeren Grunde
steht? Können es die Vertreter der Kirche aus die Dauer vor ihrem Gewissen
verantworte», Bibelstellen dem Volke als Gottes Wort zu verkünde», von
denen sie selbst wissen, daß sie durch spätre Zusätze verfälscht oder vollständig
falsch übersetzt sind? Die alte Epistel am Sonntage Quasimodogeniti 1. Joh.


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[0290] Bibelrevision und Bibelübersetznuiz z. B. wieder: „Ich möchte alle meine Beine zählen." Ebenso fiel es auf, daß sehr bekannte Stellen um der Wahrheit willen geändert worden waren, während andre ebenso falsch übersetzte Stellen unverändert geblieben waren. Die ziemlich scharfe Kritik, die an der Probebibel geübt wurde, ist nun zwar nicht ohne Einfluß auf die Vollendung des Werkes geblieben. Im einzelnen ist noch manches gebessert und besonders der Archaismus der Probebibel be¬ deutend gemildert worden. Trotzdem ist auf eine allgemeine Anerkennung des Werkes nicht zu rechnen. Die Kritik der Probebibel hat gezeigt, daß jeden¬ falls das eine Ziel, die Herstellung eines einheitlichen Textes der Lutherbibel, durch diese Revision noch nicht erreicht werden wird. Als einst August Hermann Francke darauf hinwies, daß wohl manche Stelle in der Lutherbibel richtiger übersetzt werden könne, wurde dieser Ge¬ danke von den orthodoxen Lutheranern als teuflich verschrien. Diese Zeiten sind vorüber. Aber es fehlt auch in unsrer Zeit nicht um Theologen, die grundsätzlich jede Revision der Lutherbibel verwerfen. Schon 18et/j, als das Werk überhaupt erst begonnen wurde, erklärte sich die theologische Fakultät zu Rostock dagegen, und 1868 hat die mecklenburgisch-schwerinische Kirchcn- regierung die Annahme der revidirten Bibel ausdrücklich abgelehnt. Als die Probebibel erschienen war, haben eine ganze Anzahl strenge Lutheraner auch in Sachsen und Baiern sehr ernste Bedenken gegen sie erhoben. Bor allem fürchtet man, daß durch eine durchgreifende Veränderung der alten Lnther- bibel die Einheit der Kirche gefährdet und das Volk an der Bibel, am Worte Gottes, irre gemacht werde. Niemand wird leugnen, daß diese Bedenken aus ernster Sorge für das Wohl der Kirche hervorgegangen sind. Änderungen in kirchlichen Dingen gehen nie ohne einige Verwirrung ab. Aber die evan¬ gelische Kirche darf und soll nach ihren Grundsätzen, wenn es sich um die Wahrheit handelt, diese Gefahr nicht scheuen. Sie gründet sich nicht auf den Buchstaben einer Bibelübersetzung, sondern auf die ewige Wahrheit des Wortes Gottes, die in der Bibel enthalten ist. Die Erforschung dieser Wahrheit und ihre Vermittlung an die Gemeinden ist die heiligste Aufgabe der Kirche, und jede andre Rücksicht, sei es die des allzu klugen Kirchenpolitikers, sei es die des allzu ängstlichen Seelsorgers, muß dagegen zurücktreten. Auf die Dauer ist, wie in allen Dingen, so auch hier die Wahrheit das allein praktische. Was hat ein Glaube für einen Wert, der durch die Verbesserung falsch über¬ setzter Bibelstellen erschüttert werden kann? Soll die evangelische Kirche einen Glaube» schonen und Pflegen, der am Buchstaben hängt? Muß sie nicht viel¬ mehr darauf hinarbeiten, einen Glauben zu wecken, der auf festeren Grunde steht? Können es die Vertreter der Kirche aus die Dauer vor ihrem Gewissen verantworte», Bibelstellen dem Volke als Gottes Wort zu verkünde», von denen sie selbst wissen, daß sie durch spätre Zusätze verfälscht oder vollständig falsch übersetzt sind? Die alte Epistel am Sonntage Quasimodogeniti 1. Joh.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/290>, abgerufen am 16.06.2024.