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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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spreche" nicht unserm Ideal von Frömmigkeit, dus Gesetz des alten Bundes
ist in vielen Stucken veraltet. Wieviel müßte da geändert werden, bis die
Bibel von allen Anstoßen frei geworden wäre! Als Muster könnte da viel¬
leicht die Wertheimer Bibel von 1735 dienen, deren Anfang, von jedem An¬
stoß frei, so lautet: "Alle Weltkörper, und unsere Erde selbst, sind anfangs
von Gott erschaffen worden. Was insonderheit die Erde betrift, so war die¬
selbe anfänglich ganz öde: sie war mit einem finstern Nebel umgeben, und
rings herum mit Wasser umflossen, über welchem heftige Winde zu wehen an¬
fingen. Es wurde aber bald auf derselben etwas helle, wie es die göttliche
Absicht erforderte. Und weil dieses sehr nötig und nützlich war: so geschahe
es nach der Einrichtung, welche Gott diß falls gemacht hatte, daß von nun
an Licht und Finsterniß beständig abwechselten; und dieses ist der Ursprung
von Tag und Nacht. Diese Nacht und Tag zusammen machten den ersten
Tag aus." Doch könnte man es auch dann noch erleben, daß es jemand ein
starkes Stück nennt, daß man im neunzehnten Jahrhundert ein so veraltetes
Buch wie die Bibel für verbesserungsfähig gehalten hat.

Die Bedenken, die von rechts und links gegen die Prvbebibel geltend ge¬
macht worden sind, werden durch die vollendete Revisivnsansgabe, die sich nicht
wesentlich von der Prvbebibel unterscheidet, nicht gehoben werden. Mit Recht
bezeichnet sich die neue Bibel als "ein Werk der Mitte." Weder wollte die
Revision nur einen unverfälschten Text der alte" Lntherbibcl herstellen, noch
auch eine neue Übersetzung der Bibel schaffen. Sie wollte die Lutherbibel,
soweit es das Bedürfnis fordert, berichtigen und verständlich machen, damit
sie im Volke lebendig bleibe, und ihr Gebrauch nicht ohne Not erschwert werde.
Das ist gewiß ein richtiger Gedanke, und eine große mittlere Partei tritt für
ihn ein. Trotzdem werden auch die Freunde des Revisionswerkes die neue
Ausgabe uicht mit ungelenker Freude begrüßt haben. Das "Werk der Mitte"
trügt eben den Stempel der Halbheit. Die Revision wollte die Pietät gegen
Luther mit der Rücksicht auf Wahrheit und Verständlichkeit vereinige". Wenn
man gerecht ist, muß man sagen, daß diese Aufgabe nicht leicht war. Da
mußte aber vou vornherein klar und scharf bestimmt werden, welche Rücksicht
entscheiden sollte. Das ist leider uicht geschehe". Die Grundsätze selbst, an
die sich die Revision gebunden hat, leiden an einer verhängnisvollen Halbheit
und Unklarheit. Wahrheit, Verständlichkeit und Sprachrichtigkeit hatten nicht
unbedingt zu entscheiden, sie sollten "möglichst" berücksichtigt werden. Bekannte
Sprüche sollten möglichst geschont, die Kraft und Schönheit, "der edle Rost"
der alten Sprache, möglichst erhalten werden. Duzn kommt, daß die Ge¬
schäftsordnung für eine Änderung nach dem Grundtext eine Mehrheit von
zwei Dritteln forderte. So war es teils die Willkür des Geschmacks, teils
die Willkür des Zufalls, die bei der Revision zu entscheiden hatte. Nicht
den Revisoren, deren wissenschaftliches Gewissen wahrscheinlich oft genug pro-


spreche» nicht unserm Ideal von Frömmigkeit, dus Gesetz des alten Bundes
ist in vielen Stucken veraltet. Wieviel müßte da geändert werden, bis die
Bibel von allen Anstoßen frei geworden wäre! Als Muster könnte da viel¬
leicht die Wertheimer Bibel von 1735 dienen, deren Anfang, von jedem An¬
stoß frei, so lautet: „Alle Weltkörper, und unsere Erde selbst, sind anfangs
von Gott erschaffen worden. Was insonderheit die Erde betrift, so war die¬
selbe anfänglich ganz öde: sie war mit einem finstern Nebel umgeben, und
rings herum mit Wasser umflossen, über welchem heftige Winde zu wehen an¬
fingen. Es wurde aber bald auf derselben etwas helle, wie es die göttliche
Absicht erforderte. Und weil dieses sehr nötig und nützlich war: so geschahe
es nach der Einrichtung, welche Gott diß falls gemacht hatte, daß von nun
an Licht und Finsterniß beständig abwechselten; und dieses ist der Ursprung
von Tag und Nacht. Diese Nacht und Tag zusammen machten den ersten
Tag aus." Doch könnte man es auch dann noch erleben, daß es jemand ein
starkes Stück nennt, daß man im neunzehnten Jahrhundert ein so veraltetes
Buch wie die Bibel für verbesserungsfähig gehalten hat.

Die Bedenken, die von rechts und links gegen die Prvbebibel geltend ge¬
macht worden sind, werden durch die vollendete Revisivnsansgabe, die sich nicht
wesentlich von der Prvbebibel unterscheidet, nicht gehoben werden. Mit Recht
bezeichnet sich die neue Bibel als „ein Werk der Mitte." Weder wollte die
Revision nur einen unverfälschten Text der alte» Lntherbibcl herstellen, noch
auch eine neue Übersetzung der Bibel schaffen. Sie wollte die Lutherbibel,
soweit es das Bedürfnis fordert, berichtigen und verständlich machen, damit
sie im Volke lebendig bleibe, und ihr Gebrauch nicht ohne Not erschwert werde.
Das ist gewiß ein richtiger Gedanke, und eine große mittlere Partei tritt für
ihn ein. Trotzdem werden auch die Freunde des Revisionswerkes die neue
Ausgabe uicht mit ungelenker Freude begrüßt haben. Das „Werk der Mitte"
trügt eben den Stempel der Halbheit. Die Revision wollte die Pietät gegen
Luther mit der Rücksicht auf Wahrheit und Verständlichkeit vereinige». Wenn
man gerecht ist, muß man sagen, daß diese Aufgabe nicht leicht war. Da
mußte aber vou vornherein klar und scharf bestimmt werden, welche Rücksicht
entscheiden sollte. Das ist leider uicht geschehe». Die Grundsätze selbst, an
die sich die Revision gebunden hat, leiden an einer verhängnisvollen Halbheit
und Unklarheit. Wahrheit, Verständlichkeit und Sprachrichtigkeit hatten nicht
unbedingt zu entscheiden, sie sollten „möglichst" berücksichtigt werden. Bekannte
Sprüche sollten möglichst geschont, die Kraft und Schönheit, „der edle Rost"
der alten Sprache, möglichst erhalten werden. Duzn kommt, daß die Ge¬
schäftsordnung für eine Änderung nach dem Grundtext eine Mehrheit von
zwei Dritteln forderte. So war es teils die Willkür des Geschmacks, teils
die Willkür des Zufalls, die bei der Revision zu entscheiden hatte. Nicht
den Revisoren, deren wissenschaftliches Gewissen wahrscheinlich oft genug pro-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/293>, abgerufen am 16.06.2024.