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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Leopold von Gerlach

dieser Zeit, und sagte einmal, keiner von ihnen dürfe in einer Gesellschaft sein,
ohne wenigstens ein Zeugnis für Haller abzulegen. Später wandte er sich
mehr der geistvollen Weiterbildung dieser Lehre zu, die Julius Stahl, seit
1840 in Berlin, in seiner "Philosophie des Rechts" (zuerst 1829 und 1838)
entwickelt hatte. Der Staat entsteht nicht durch Vertrag, überhaupt nicht durch
Gesetz, sondern ist von Gott gegeben, ist daher ein Postulat des sittlichen
Willens im Menschen. Die menschliche That ist das zweite, und sie besteht
darin, daß sich der Mensch dies übermenschlich gegebne innerlich aneignet und
es vor etwaigen menschlichen Zuthaten und Entstellungen schützt oder von
ihnen befreit. Es wird also gewissermaßen der religiöse Grundsatz der Refor¬
mation von der gläubigen Aneignung der Erlösungsthat Christi auf das politische
Leben übertragen. Diese an sich tiefsinnige und manches Wahre enthaltende An¬
schauung mußte praktisch zur Lähmung der menschlichen Thatkraft und zur
Dogmatisirung einer bestimmten Staatsverfassung führen, also zugleich un¬
brauchbar machen zu frischem Handeln und unfähig zu unbefangner Würdigung
der politischen Wirklichkeit.

Auf dem Boden dieser Theorie steht Gerlach, nur daß er nicht allen ihren
praktischen Folgen unterlegen ist. Die Aufgabe der Regierung ist, "den christ¬
lichen Staat dein mechanischen Staat, die christliche Freiheit der fleischlichen
Freiheit entgegenzusetzen." Er beruht also auf dem Glauben, und er kaun
sich mir behaupten, wenn die Regierung "mit gläubiger Anerkennung ihrer
göttlichen Einsetzung feststeht," sonst wird die Regierung zur Tyrannis, und
wenn in deu Massen der Glaube lebt, "der durch irdische Mittel, durch irdische
Einrichtungen uicht ersetzt werden kann." Eine "Kodifikation" ist daher nicht
nur wertlos, sondern geradezu verderblich, deun sie ist "gebaut auf die Lehre,
daß das Recht ein Menschenwerk ist," und daraus folgt "Rebellion, Volks-
sonveränitüt." Welches ist denn nun aber dieser "christliche Staat"? Für
Gerlach ist er die Monarchie von Gottes Gnaden, die da Obrigkeit ist "zur
Bändigung des Fleisches," und die beruht auf dem "königlichen Priestertum."
wie es aus der protestantischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glaube"
folgt. Aber dies Königtum ist keineswegs unumschränkt. Im Gegenteil fällt
Gerlach schon 1832 über die Unsicherheit der russischen "Autokratie" und
"Despotie," die überall die guten Absichten des Kaisers Nikolaus hemmt und
verfälscht und "den Staat außerhalb des Volkes gestellt" hat, sehr scharfe
Urteile; später nennt er die Regierung des Fürsten Schwarzenberg in Öster¬
reich kurzweg ein "Paudurcnregiment," und noch 1851 ereifert er sich über
den "Götzendienst mit der fürstlichen Gewalt," findet sogar einmal "die Er¬
bärmlichkeit der ideutscheu^ Fürsten inkalkulabel." "Man ist nur mächtig, wem?
man mit der Freiheit regiert," schreibt er im Jahre 1838. Was versteht er
aber unter "Freiheit" und einem Regieren durch Freiheit? Nicht eigentlich der
mittelalterliche, sondern der ständisch-territoriale Staat des sechzehnten Jahr-


Leopold von Gerlach

dieser Zeit, und sagte einmal, keiner von ihnen dürfe in einer Gesellschaft sein,
ohne wenigstens ein Zeugnis für Haller abzulegen. Später wandte er sich
mehr der geistvollen Weiterbildung dieser Lehre zu, die Julius Stahl, seit
1840 in Berlin, in seiner „Philosophie des Rechts" (zuerst 1829 und 1838)
entwickelt hatte. Der Staat entsteht nicht durch Vertrag, überhaupt nicht durch
Gesetz, sondern ist von Gott gegeben, ist daher ein Postulat des sittlichen
Willens im Menschen. Die menschliche That ist das zweite, und sie besteht
darin, daß sich der Mensch dies übermenschlich gegebne innerlich aneignet und
es vor etwaigen menschlichen Zuthaten und Entstellungen schützt oder von
ihnen befreit. Es wird also gewissermaßen der religiöse Grundsatz der Refor¬
mation von der gläubigen Aneignung der Erlösungsthat Christi auf das politische
Leben übertragen. Diese an sich tiefsinnige und manches Wahre enthaltende An¬
schauung mußte praktisch zur Lähmung der menschlichen Thatkraft und zur
Dogmatisirung einer bestimmten Staatsverfassung führen, also zugleich un¬
brauchbar machen zu frischem Handeln und unfähig zu unbefangner Würdigung
der politischen Wirklichkeit.

Auf dem Boden dieser Theorie steht Gerlach, nur daß er nicht allen ihren
praktischen Folgen unterlegen ist. Die Aufgabe der Regierung ist, „den christ¬
lichen Staat dein mechanischen Staat, die christliche Freiheit der fleischlichen
Freiheit entgegenzusetzen." Er beruht also auf dem Glauben, und er kaun
sich mir behaupten, wenn die Regierung „mit gläubiger Anerkennung ihrer
göttlichen Einsetzung feststeht," sonst wird die Regierung zur Tyrannis, und
wenn in deu Massen der Glaube lebt, „der durch irdische Mittel, durch irdische
Einrichtungen uicht ersetzt werden kann." Eine „Kodifikation" ist daher nicht
nur wertlos, sondern geradezu verderblich, deun sie ist „gebaut auf die Lehre,
daß das Recht ein Menschenwerk ist," und daraus folgt „Rebellion, Volks-
sonveränitüt." Welches ist denn nun aber dieser „christliche Staat"? Für
Gerlach ist er die Monarchie von Gottes Gnaden, die da Obrigkeit ist „zur
Bändigung des Fleisches," und die beruht auf dem „königlichen Priestertum."
wie es aus der protestantischen Lehre von der Rechtfertigung durch den Glaube»
folgt. Aber dies Königtum ist keineswegs unumschränkt. Im Gegenteil fällt
Gerlach schon 1832 über die Unsicherheit der russischen „Autokratie" und
„Despotie," die überall die guten Absichten des Kaisers Nikolaus hemmt und
verfälscht und „den Staat außerhalb des Volkes gestellt" hat, sehr scharfe
Urteile; später nennt er die Regierung des Fürsten Schwarzenberg in Öster¬
reich kurzweg ein „Paudurcnregiment," und noch 1851 ereifert er sich über
den „Götzendienst mit der fürstlichen Gewalt," findet sogar einmal „die Er¬
bärmlichkeit der ideutscheu^ Fürsten inkalkulabel." „Man ist nur mächtig, wem?
man mit der Freiheit regiert," schreibt er im Jahre 1838. Was versteht er
aber unter „Freiheit" und einem Regieren durch Freiheit? Nicht eigentlich der
mittelalterliche, sondern der ständisch-territoriale Staat des sechzehnten Jahr-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/546>, abgerufen am 23.05.2024.