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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Die Grenzen der Rechtsprechung

Kämpfe der Neuzeit i" der Art einzugreifen, daß die Kämpfenden je nach der
größern Gunst oder linganst, mit der sie das Gericht betrachtet, mit empfind-
lichen Verurteilungen zum Schadenersatz heimgesucht werden sollen. An deu
Buchhändlern sollte hier zuerst ein Exempel stntuirt werden. Ob das Be-
wnßtsei" hiervon dazil beitragen wird, das; die davon betroffnen Männer, wie
Wiener ihnen aurae, ihre Verurteilung mit nicht allzu großer Empfindlichkeit
hinnehmen, lassen nur dahin gestellt sein. Wiener bezeichnet "Kartelle, Ringe
und genossenschaftliche Verbände" als die Gesellschaftsgruppen, gegen die ein
Rechtsschutz gewährt werden solle. Man wird aber wohl nicht fehlgehu, wenn
man annimmt, das; dnrch das Urteil vorzugsweise ein Vorgehen gegen die
sogenannten Boytvttirnngen eingeleitet werden sollte.

Nun sind ja gewiß diese Bohkottirungen höchst beklagenswerte Erschei¬
nungen unsers sozialen Lebens. Aber wir halten doch die Justiz nicht für
berufen, ein neues Recht dagegen zu erfinden. Das liegt auch nicht inner¬
halb der "Entwicklungsfähigkeit" der Rechtswissenschaft, Wiener sagt, die in
Deutschland geltende" Kodifikationen gäben einen genügenden Anhalt dazu.
Wo sind denn die Bestimmungen dieser Kodifikationen, die das enthalten? Wo
stellen die Kodifikationen einen so allgemeinen Begriff der "widerrechtlichen
Kränkung und Beschädigung" ans? Zu jeder "widerrechtlichen Kränkung" ge¬
hört doch vor allem ein Recht, das gekränkt sein müßte. Wo ist denn nun
aber das Recht der Schleuderer, das durch die Handlungsweise des Börsen¬
vorstands gekränkt worden ist? Wiener sagt, der Begriff der Persönlich¬
keit müsse geschützt werden. Die Persönlichkeit giebt nicht einen solchen all¬
gemein zu schützenden Begriff ab, sondern sie wird nnr in bestimmten Be¬
ziehungen vom Rechte geschützt. Neben dem Anspruch ans Unversehrtheit des
Körpers hat jeder kraft seiner Persönlichkeit Anspruch auf Schutz seiner Ehre.
Daß nun das Vorgehen des Börsenvorstands ein ehrverletzendes sei, hat das
Reichsgericht selbst nicht angenommen. Auch von andern Gerichten sind mehr¬
fache Versuche der Schleuderer, jenes Vorgehen mit der Beleidigungsklage an¬
zugreifen, abgewiesen worden. Welches weitere Recht der Persönlichkeit giebt
es nun, das in unsern Rechten in der Art geschützt würde, daß jemand sagen
dürfte: "Mir ist hier ein Schaden zugefügt worden, dadurch ist meine Per¬
sönlichkeit gekränkt. Folglich muß mir der Schaden ersetzt werden!" Ein
solches Recht der Persönlichkeit giebt es nicht.

Soll gegen die Bohkottirnngeu vorgegangen werden, so muß sich die
Gesetzgebung daran versuchen. Sie wird es aber schwerlich weiter bringen, als
daß sie dabei vorkommende Ausschreitungen nnter Strafe stellt, gerade so, wie
mich die Gewerbeordnung die Aufstände der Arbeiter an sich zugelassen und mir
die dabei vorkommenden Ausschreitungen (§ 153) mit Strafe bedroht hat.

Die Gerichte aber haben umso weniger den Beruf, hier mit einem neuen
Rechte vorzugehen, als sie gar nicht imstande sind, dieses Recht folgerichtig


Die Grenzen der Rechtsprechung

Kämpfe der Neuzeit i» der Art einzugreifen, daß die Kämpfenden je nach der
größern Gunst oder linganst, mit der sie das Gericht betrachtet, mit empfind-
lichen Verurteilungen zum Schadenersatz heimgesucht werden sollen. An deu
Buchhändlern sollte hier zuerst ein Exempel stntuirt werden. Ob das Be-
wnßtsei» hiervon dazil beitragen wird, das; die davon betroffnen Männer, wie
Wiener ihnen aurae, ihre Verurteilung mit nicht allzu großer Empfindlichkeit
hinnehmen, lassen nur dahin gestellt sein. Wiener bezeichnet „Kartelle, Ringe
und genossenschaftliche Verbände" als die Gesellschaftsgruppen, gegen die ein
Rechtsschutz gewährt werden solle. Man wird aber wohl nicht fehlgehu, wenn
man annimmt, das; dnrch das Urteil vorzugsweise ein Vorgehen gegen die
sogenannten Boytvttirnngen eingeleitet werden sollte.

Nun sind ja gewiß diese Bohkottirungen höchst beklagenswerte Erschei¬
nungen unsers sozialen Lebens. Aber wir halten doch die Justiz nicht für
berufen, ein neues Recht dagegen zu erfinden. Das liegt auch nicht inner¬
halb der „Entwicklungsfähigkeit" der Rechtswissenschaft, Wiener sagt, die in
Deutschland geltende» Kodifikationen gäben einen genügenden Anhalt dazu.
Wo sind denn die Bestimmungen dieser Kodifikationen, die das enthalten? Wo
stellen die Kodifikationen einen so allgemeinen Begriff der „widerrechtlichen
Kränkung und Beschädigung" ans? Zu jeder „widerrechtlichen Kränkung" ge¬
hört doch vor allem ein Recht, das gekränkt sein müßte. Wo ist denn nun
aber das Recht der Schleuderer, das durch die Handlungsweise des Börsen¬
vorstands gekränkt worden ist? Wiener sagt, der Begriff der Persönlich¬
keit müsse geschützt werden. Die Persönlichkeit giebt nicht einen solchen all¬
gemein zu schützenden Begriff ab, sondern sie wird nnr in bestimmten Be¬
ziehungen vom Rechte geschützt. Neben dem Anspruch ans Unversehrtheit des
Körpers hat jeder kraft seiner Persönlichkeit Anspruch auf Schutz seiner Ehre.
Daß nun das Vorgehen des Börsenvorstands ein ehrverletzendes sei, hat das
Reichsgericht selbst nicht angenommen. Auch von andern Gerichten sind mehr¬
fache Versuche der Schleuderer, jenes Vorgehen mit der Beleidigungsklage an¬
zugreifen, abgewiesen worden. Welches weitere Recht der Persönlichkeit giebt
es nun, das in unsern Rechten in der Art geschützt würde, daß jemand sagen
dürfte: „Mir ist hier ein Schaden zugefügt worden, dadurch ist meine Per¬
sönlichkeit gekränkt. Folglich muß mir der Schaden ersetzt werden!" Ein
solches Recht der Persönlichkeit giebt es nicht.

Soll gegen die Bohkottirnngeu vorgegangen werden, so muß sich die
Gesetzgebung daran versuchen. Sie wird es aber schwerlich weiter bringen, als
daß sie dabei vorkommende Ausschreitungen nnter Strafe stellt, gerade so, wie
mich die Gewerbeordnung die Aufstände der Arbeiter an sich zugelassen und mir
die dabei vorkommenden Ausschreitungen (§ 153) mit Strafe bedroht hat.

Die Gerichte aber haben umso weniger den Beruf, hier mit einem neuen
Rechte vorzugehen, als sie gar nicht imstande sind, dieses Recht folgerichtig


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[0647] Die Grenzen der Rechtsprechung Kämpfe der Neuzeit i» der Art einzugreifen, daß die Kämpfenden je nach der größern Gunst oder linganst, mit der sie das Gericht betrachtet, mit empfind- lichen Verurteilungen zum Schadenersatz heimgesucht werden sollen. An deu Buchhändlern sollte hier zuerst ein Exempel stntuirt werden. Ob das Be- wnßtsei» hiervon dazil beitragen wird, das; die davon betroffnen Männer, wie Wiener ihnen aurae, ihre Verurteilung mit nicht allzu großer Empfindlichkeit hinnehmen, lassen nur dahin gestellt sein. Wiener bezeichnet „Kartelle, Ringe und genossenschaftliche Verbände" als die Gesellschaftsgruppen, gegen die ein Rechtsschutz gewährt werden solle. Man wird aber wohl nicht fehlgehu, wenn man annimmt, das; dnrch das Urteil vorzugsweise ein Vorgehen gegen die sogenannten Boytvttirnngen eingeleitet werden sollte. Nun sind ja gewiß diese Bohkottirungen höchst beklagenswerte Erschei¬ nungen unsers sozialen Lebens. Aber wir halten doch die Justiz nicht für berufen, ein neues Recht dagegen zu erfinden. Das liegt auch nicht inner¬ halb der „Entwicklungsfähigkeit" der Rechtswissenschaft, Wiener sagt, die in Deutschland geltende» Kodifikationen gäben einen genügenden Anhalt dazu. Wo sind denn die Bestimmungen dieser Kodifikationen, die das enthalten? Wo stellen die Kodifikationen einen so allgemeinen Begriff der „widerrechtlichen Kränkung und Beschädigung" ans? Zu jeder „widerrechtlichen Kränkung" ge¬ hört doch vor allem ein Recht, das gekränkt sein müßte. Wo ist denn nun aber das Recht der Schleuderer, das durch die Handlungsweise des Börsen¬ vorstands gekränkt worden ist? Wiener sagt, der Begriff der Persönlich¬ keit müsse geschützt werden. Die Persönlichkeit giebt nicht einen solchen all¬ gemein zu schützenden Begriff ab, sondern sie wird nnr in bestimmten Be¬ ziehungen vom Rechte geschützt. Neben dem Anspruch ans Unversehrtheit des Körpers hat jeder kraft seiner Persönlichkeit Anspruch auf Schutz seiner Ehre. Daß nun das Vorgehen des Börsenvorstands ein ehrverletzendes sei, hat das Reichsgericht selbst nicht angenommen. Auch von andern Gerichten sind mehr¬ fache Versuche der Schleuderer, jenes Vorgehen mit der Beleidigungsklage an¬ zugreifen, abgewiesen worden. Welches weitere Recht der Persönlichkeit giebt es nun, das in unsern Rechten in der Art geschützt würde, daß jemand sagen dürfte: „Mir ist hier ein Schaden zugefügt worden, dadurch ist meine Per¬ sönlichkeit gekränkt. Folglich muß mir der Schaden ersetzt werden!" Ein solches Recht der Persönlichkeit giebt es nicht. Soll gegen die Bohkottirnngeu vorgegangen werden, so muß sich die Gesetzgebung daran versuchen. Sie wird es aber schwerlich weiter bringen, als daß sie dabei vorkommende Ausschreitungen nnter Strafe stellt, gerade so, wie mich die Gewerbeordnung die Aufstände der Arbeiter an sich zugelassen und mir die dabei vorkommenden Ausschreitungen (§ 153) mit Strafe bedroht hat. Die Gerichte aber haben umso weniger den Beruf, hier mit einem neuen Rechte vorzugehen, als sie gar nicht imstande sind, dieses Recht folgerichtig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/647>, abgerufen am 23.05.2024.