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Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

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Zeit senden ihre Wellen auch in die stillen Buchten der subjektiven Lyrik hinein,
keiner dieser Dichter bleibt ganz frei von Kampfstimmungen. Martin Langen
nennt sich der Freiheit Vasall und belehrt uns in dem ,,Lob der Zwietracht":


Ein Volk erstarke nur durch Einigkeit,
So hört nur heute rufen weit und breit;
Ich aber sage, daß die Zwietracht hebt
Und nicht die Kraft der Staaten untergräbt.
Wenn alle nur zu allen, sprächen ja,
Wär bald der Schlaf mit seiner Schwäche da.

In Otto Ernsts Gedichten werden ohne weiteres die "Männer der Opposition"
gefeiert, es scheinen jedoch nur die Männer auf den linken Bänken gemeint
zu sein; daß es eine Opposition auch ans der andern Seite und im andern
Sinne giebt, scheint dem Dichter unbekannt zu sein. ,,Vor dem Zuchthause"
erfaßt es ihn!


Sieh diese Stätte schuldbeladnen Elends
Und Überschlag den Wert der eignen Tugend!

und er erhebt sich zu der Mahnung:


Die ihr das Haupt so frei zum Himmel hebt,
Vergesset nicht in eurem guten Herzen,
Daß hinter diesen grauen Kerkermauern
El" redlich Teil von eurer Sünde wohnt,
Und laßt in euerm Innern wiederhallen
Den wilden Schmerzensschrei der hier begrabnen,
An deren Fuß die schwere Kette klirrt.
Und die verdammt sind -- auch um eure Schuld,

Es kann der Gesellschaft von heute nichts schaden, wenn ihr solche Worte aus
Dichtermund entgcgenklingen, doch ist von dieser Art Pathos zur Verherr¬
lichung der Strolche und der Diebe doch nur noch ein Schritt, und es ge¬
winnt den Anschein, als ob andre Dichter auch den nicht scheuen würden.
Auch Otto Ernst hat übrigens, wie Langen, auch andre, mildere Klänge:


Ich wollte dir sagen, wie rein und gut,
Wie fromm du bist und schön,
Ich wollte dich in der Begeisterung
Flammenden Worten erhöhn.
Ich wollte dir sagen, warum ich ganz
Glückselig bin, warum! --
Ich hob die Angen zu dir empor --
Und ich blieb stumm.

In neuer, dritter Auflage liegen die Gedichte von Ernst Scherenberg vor
(Leipzig, Ernst Kens Nachfolger), die schon früher gewürdigt worden sind und
nun hauptsächlich durch eine Reihe von Zeitgedichten, die bis zum Jahre 1892
reichen, vermehrt erscheinen. Der Dichter gehört zu denen, die unsre deutsche
Entwicklung seit 1890 trüben Auges und mit heimlicher Sorge betrachten und


Zeit senden ihre Wellen auch in die stillen Buchten der subjektiven Lyrik hinein,
keiner dieser Dichter bleibt ganz frei von Kampfstimmungen. Martin Langen
nennt sich der Freiheit Vasall und belehrt uns in dem ,,Lob der Zwietracht":


Ein Volk erstarke nur durch Einigkeit,
So hört nur heute rufen weit und breit;
Ich aber sage, daß die Zwietracht hebt
Und nicht die Kraft der Staaten untergräbt.
Wenn alle nur zu allen, sprächen ja,
Wär bald der Schlaf mit seiner Schwäche da.

In Otto Ernsts Gedichten werden ohne weiteres die „Männer der Opposition"
gefeiert, es scheinen jedoch nur die Männer auf den linken Bänken gemeint
zu sein; daß es eine Opposition auch ans der andern Seite und im andern
Sinne giebt, scheint dem Dichter unbekannt zu sein. ,,Vor dem Zuchthause"
erfaßt es ihn!


Sieh diese Stätte schuldbeladnen Elends
Und Überschlag den Wert der eignen Tugend!

und er erhebt sich zu der Mahnung:


Die ihr das Haupt so frei zum Himmel hebt,
Vergesset nicht in eurem guten Herzen,
Daß hinter diesen grauen Kerkermauern
El» redlich Teil von eurer Sünde wohnt,
Und laßt in euerm Innern wiederhallen
Den wilden Schmerzensschrei der hier begrabnen,
An deren Fuß die schwere Kette klirrt.
Und die verdammt sind — auch um eure Schuld,

Es kann der Gesellschaft von heute nichts schaden, wenn ihr solche Worte aus
Dichtermund entgcgenklingen, doch ist von dieser Art Pathos zur Verherr¬
lichung der Strolche und der Diebe doch nur noch ein Schritt, und es ge¬
winnt den Anschein, als ob andre Dichter auch den nicht scheuen würden.
Auch Otto Ernst hat übrigens, wie Langen, auch andre, mildere Klänge:


Ich wollte dir sagen, wie rein und gut,
Wie fromm du bist und schön,
Ich wollte dich in der Begeisterung
Flammenden Worten erhöhn.
Ich wollte dir sagen, warum ich ganz
Glückselig bin, warum! —
Ich hob die Angen zu dir empor —
Und ich blieb stumm.

In neuer, dritter Auflage liegen die Gedichte von Ernst Scherenberg vor
(Leipzig, Ernst Kens Nachfolger), die schon früher gewürdigt worden sind und
nun hauptsächlich durch eine Reihe von Zeitgedichten, die bis zum Jahre 1892
reichen, vermehrt erscheinen. Der Dichter gehört zu denen, die unsre deutsche
Entwicklung seit 1890 trüben Auges und mit heimlicher Sorge betrachten und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/97>, abgerufen am 07.06.2024.