Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Lin Kapitel von deutscher Lyrik

sich poetisch bis zum Traum einer Rückkehr des großen ersten Kanzlers des
deutschen Reichs versteigen. Die "ngcbrochue vaterländische Gesinnung und
selbst die hoffnungsreiche Zuversicht in ihr, die wir uicht zu teilen vermögen,
halten wir in Ehren, aber die kleinen Lieder, die elegischen Gedichte des Cyklus
"Verbanne" gelten uus als Dichtungen mehr als die Zeitgedichte, in denen
doch immer die wenn auch noch so schwungvolle und klangreiche Rhetorik die
Poesie ablöst. Es sind eben nur seltne Augenblicke, wo sich das patriotische
Gefühl zu einer poetisch-ergiebigen flammenden Leidenschaft oder zu einer er¬
greifenden Stimmung verdichtet, und noch seltnere, wo die Gesinnung Bild
und Gestalt wird. Über die Engherzigkeit, die das politische Gedicht als
solches verschmähte, ist leicht hinauszukommen; aber die Einsicht, daß das
rednerische Element im politischen Gedicht allzuleicht über das poetische siegt,
wird immer wiederkehren.

Mit den Gedichten von Franz Wolff (Leipzig, Oswald Mütze), dem
,,Liederstrauß" Im Spiegel der Zeit ivon Hans von Windeck (Stutt¬
gart, Adolf Bonz) und den Gedichten von Josephine Scheffel (der Mutter
des Dichters) (ebendaselbst) betreten wir das Gebiet jener Lyrik, die zunächst
für einen kleinen Freundeskreis ihrer Verfasser bestimmt, nur in seltnen Füllen
den Anspruch hat, in weitere Kreise zu dringen. Wir sagen den Anspruch; in
Wahrheit steht es so, daß auch solche Sammlungen, die ein volles Recht
hätten, ein größeres Publikum zu finden, meist auf die nächsten Umgebungen
ihrer Verfasser beschränkt bleiben, und daß es schon ein Glück wäre, wenn die
Herausgeber der Anthologien von dem Besten, was diese zahlreichen Bünde
und Bündchen bieten, Notiz nehmen wollten.

Kommt es nur darauf an, sich durch eine Besonderheit -- gleichviel wie
diese Besonderheit beschaffen ist, und was sie im Leben bedeutet vou der
großen Menge zu unterscheiden, so dürfen sich zwei lyrische Bündchen, deren
wir schließlich gedenken, solcher Besonderheit rühmen. Von flammendem Zorn
über ein halbes Tausend Gemeinheiten des Tages, über die allerorten gepflegte
Lotterwirtschaft und Lüge sind die Nügelieder von Wilhelm Weigandt
(München, Carl Merhoff) beseelt. Im Ton und in der Empfindung er¬
innern manche dieser Gedichte an die wildesten Ausbrüche in Schillers sibi¬
rischer Anthologie:


Rum geht es auf der Erde platt
Zum Zukunftsparadiese,
Wo auch der Weise mehr nicht hat,
Als Hans und seine Liese.
Und will ein deutscher Dichter gnr
Den deutscheu Himmel malen,
Er braucht nicht viel an Geist fürwahr,
Richt viele Fcirbenschalen:

Lin Kapitel von deutscher Lyrik

sich poetisch bis zum Traum einer Rückkehr des großen ersten Kanzlers des
deutschen Reichs versteigen. Die »ngcbrochue vaterländische Gesinnung und
selbst die hoffnungsreiche Zuversicht in ihr, die wir uicht zu teilen vermögen,
halten wir in Ehren, aber die kleinen Lieder, die elegischen Gedichte des Cyklus
„Verbanne" gelten uus als Dichtungen mehr als die Zeitgedichte, in denen
doch immer die wenn auch noch so schwungvolle und klangreiche Rhetorik die
Poesie ablöst. Es sind eben nur seltne Augenblicke, wo sich das patriotische
Gefühl zu einer poetisch-ergiebigen flammenden Leidenschaft oder zu einer er¬
greifenden Stimmung verdichtet, und noch seltnere, wo die Gesinnung Bild
und Gestalt wird. Über die Engherzigkeit, die das politische Gedicht als
solches verschmähte, ist leicht hinauszukommen; aber die Einsicht, daß das
rednerische Element im politischen Gedicht allzuleicht über das poetische siegt,
wird immer wiederkehren.

Mit den Gedichten von Franz Wolff (Leipzig, Oswald Mütze), dem
,,Liederstrauß" Im Spiegel der Zeit ivon Hans von Windeck (Stutt¬
gart, Adolf Bonz) und den Gedichten von Josephine Scheffel (der Mutter
des Dichters) (ebendaselbst) betreten wir das Gebiet jener Lyrik, die zunächst
für einen kleinen Freundeskreis ihrer Verfasser bestimmt, nur in seltnen Füllen
den Anspruch hat, in weitere Kreise zu dringen. Wir sagen den Anspruch; in
Wahrheit steht es so, daß auch solche Sammlungen, die ein volles Recht
hätten, ein größeres Publikum zu finden, meist auf die nächsten Umgebungen
ihrer Verfasser beschränkt bleiben, und daß es schon ein Glück wäre, wenn die
Herausgeber der Anthologien von dem Besten, was diese zahlreichen Bünde
und Bündchen bieten, Notiz nehmen wollten.

Kommt es nur darauf an, sich durch eine Besonderheit — gleichviel wie
diese Besonderheit beschaffen ist, und was sie im Leben bedeutet vou der
großen Menge zu unterscheiden, so dürfen sich zwei lyrische Bündchen, deren
wir schließlich gedenken, solcher Besonderheit rühmen. Von flammendem Zorn
über ein halbes Tausend Gemeinheiten des Tages, über die allerorten gepflegte
Lotterwirtschaft und Lüge sind die Nügelieder von Wilhelm Weigandt
(München, Carl Merhoff) beseelt. Im Ton und in der Empfindung er¬
innern manche dieser Gedichte an die wildesten Ausbrüche in Schillers sibi¬
rischer Anthologie:


Rum geht es auf der Erde platt
Zum Zukunftsparadiese,
Wo auch der Weise mehr nicht hat,
Als Hans und seine Liese.
Und will ein deutscher Dichter gnr
Den deutscheu Himmel malen,
Er braucht nicht viel an Geist fürwahr,
Richt viele Fcirbenschalen:

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0098" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/213890"/>
          <fw type="header" place="top"> Lin Kapitel von deutscher Lyrik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_304" prev="#ID_303"> sich poetisch bis zum Traum einer Rückkehr des großen ersten Kanzlers des<lb/>
deutschen Reichs versteigen. Die »ngcbrochue vaterländische Gesinnung und<lb/>
selbst die hoffnungsreiche Zuversicht in ihr, die wir uicht zu teilen vermögen,<lb/>
halten wir in Ehren, aber die kleinen Lieder, die elegischen Gedichte des Cyklus<lb/>
&#x201E;Verbanne" gelten uus als Dichtungen mehr als die Zeitgedichte, in denen<lb/>
doch immer die wenn auch noch so schwungvolle und klangreiche Rhetorik die<lb/>
Poesie ablöst. Es sind eben nur seltne Augenblicke, wo sich das patriotische<lb/>
Gefühl zu einer poetisch-ergiebigen flammenden Leidenschaft oder zu einer er¬<lb/>
greifenden Stimmung verdichtet, und noch seltnere, wo die Gesinnung Bild<lb/>
und Gestalt wird. Über die Engherzigkeit, die das politische Gedicht als<lb/>
solches verschmähte, ist leicht hinauszukommen; aber die Einsicht, daß das<lb/>
rednerische Element im politischen Gedicht allzuleicht über das poetische siegt,<lb/>
wird immer wiederkehren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_305"> Mit den Gedichten von Franz Wolff (Leipzig, Oswald Mütze), dem<lb/>
,,Liederstrauß" Im Spiegel der Zeit ivon Hans von Windeck (Stutt¬<lb/>
gart, Adolf Bonz) und den Gedichten von Josephine Scheffel (der Mutter<lb/>
des Dichters) (ebendaselbst) betreten wir das Gebiet jener Lyrik, die zunächst<lb/>
für einen kleinen Freundeskreis ihrer Verfasser bestimmt, nur in seltnen Füllen<lb/>
den Anspruch hat, in weitere Kreise zu dringen. Wir sagen den Anspruch; in<lb/>
Wahrheit steht es so, daß auch solche Sammlungen, die ein volles Recht<lb/>
hätten, ein größeres Publikum zu finden, meist auf die nächsten Umgebungen<lb/>
ihrer Verfasser beschränkt bleiben, und daß es schon ein Glück wäre, wenn die<lb/>
Herausgeber der Anthologien von dem Besten, was diese zahlreichen Bünde<lb/>
und Bündchen bieten, Notiz nehmen wollten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_306" next="#ID_307"> Kommt es nur darauf an, sich durch eine Besonderheit &#x2014; gleichviel wie<lb/>
diese Besonderheit beschaffen ist, und was sie im Leben bedeutet vou der<lb/>
großen Menge zu unterscheiden, so dürfen sich zwei lyrische Bündchen, deren<lb/>
wir schließlich gedenken, solcher Besonderheit rühmen. Von flammendem Zorn<lb/>
über ein halbes Tausend Gemeinheiten des Tages, über die allerorten gepflegte<lb/>
Lotterwirtschaft und Lüge sind die Nügelieder von Wilhelm Weigandt<lb/>
(München, Carl Merhoff) beseelt. Im Ton und in der Empfindung er¬<lb/>
innern manche dieser Gedichte an die wildesten Ausbrüche in Schillers sibi¬<lb/>
rischer Anthologie:</p><lb/>
          <quote>
            <lg xml:id="POEMID_10" type="poem">
              <l> Rum geht es auf der Erde platt<lb/>
Zum Zukunftsparadiese,<lb/>
Wo auch der Weise mehr nicht hat,<lb/>
Als Hans und seine Liese.</l>
              <l> Und will ein deutscher Dichter gnr<lb/>
Den deutscheu Himmel malen,<lb/>
Er braucht nicht viel an Geist fürwahr,<lb/>
Richt viele Fcirbenschalen:</l>
            </lg>
          </quote><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0098] Lin Kapitel von deutscher Lyrik sich poetisch bis zum Traum einer Rückkehr des großen ersten Kanzlers des deutschen Reichs versteigen. Die »ngcbrochue vaterländische Gesinnung und selbst die hoffnungsreiche Zuversicht in ihr, die wir uicht zu teilen vermögen, halten wir in Ehren, aber die kleinen Lieder, die elegischen Gedichte des Cyklus „Verbanne" gelten uus als Dichtungen mehr als die Zeitgedichte, in denen doch immer die wenn auch noch so schwungvolle und klangreiche Rhetorik die Poesie ablöst. Es sind eben nur seltne Augenblicke, wo sich das patriotische Gefühl zu einer poetisch-ergiebigen flammenden Leidenschaft oder zu einer er¬ greifenden Stimmung verdichtet, und noch seltnere, wo die Gesinnung Bild und Gestalt wird. Über die Engherzigkeit, die das politische Gedicht als solches verschmähte, ist leicht hinauszukommen; aber die Einsicht, daß das rednerische Element im politischen Gedicht allzuleicht über das poetische siegt, wird immer wiederkehren. Mit den Gedichten von Franz Wolff (Leipzig, Oswald Mütze), dem ,,Liederstrauß" Im Spiegel der Zeit ivon Hans von Windeck (Stutt¬ gart, Adolf Bonz) und den Gedichten von Josephine Scheffel (der Mutter des Dichters) (ebendaselbst) betreten wir das Gebiet jener Lyrik, die zunächst für einen kleinen Freundeskreis ihrer Verfasser bestimmt, nur in seltnen Füllen den Anspruch hat, in weitere Kreise zu dringen. Wir sagen den Anspruch; in Wahrheit steht es so, daß auch solche Sammlungen, die ein volles Recht hätten, ein größeres Publikum zu finden, meist auf die nächsten Umgebungen ihrer Verfasser beschränkt bleiben, und daß es schon ein Glück wäre, wenn die Herausgeber der Anthologien von dem Besten, was diese zahlreichen Bünde und Bündchen bieten, Notiz nehmen wollten. Kommt es nur darauf an, sich durch eine Besonderheit — gleichviel wie diese Besonderheit beschaffen ist, und was sie im Leben bedeutet vou der großen Menge zu unterscheiden, so dürfen sich zwei lyrische Bündchen, deren wir schließlich gedenken, solcher Besonderheit rühmen. Von flammendem Zorn über ein halbes Tausend Gemeinheiten des Tages, über die allerorten gepflegte Lotterwirtschaft und Lüge sind die Nügelieder von Wilhelm Weigandt (München, Carl Merhoff) beseelt. Im Ton und in der Empfindung er¬ innern manche dieser Gedichte an die wildesten Ausbrüche in Schillers sibi¬ rischer Anthologie: Rum geht es auf der Erde platt Zum Zukunftsparadiese, Wo auch der Weise mehr nicht hat, Als Hans und seine Liese. Und will ein deutscher Dichter gnr Den deutscheu Himmel malen, Er braucht nicht viel an Geist fürwahr, Richt viele Fcirbenschalen:

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/98
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 52, 1893, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341857_213791/98>, abgerufen am 27.05.2024.