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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Neue historische Romane

manu seinem Roman "Wider den Kurfürsten" zu Grunde gelegt und poetisch
belebt hat, ist das feste vaterstädtische Selbstgefühl und die Treue der Stettiner,
die ihren Eid an die .Krone Schweden halten und ihre Stadt tapfer verteidigen,
selbst als ihnen die Ahnung aufdämmert, daß sie eher zu Brandenburg als
zu Schweden gehören. Diese Gesinnung verkörpert der Dichter in dem Helden
seines Romans, dem jungen Kaufherrn Jürg Wichenhagen, einer prächtigen
Gestalt voll frischer Thatkraft und Lebenslust, voll aller glücklichen Eigenschaften,
die ihm die Bvlksgunst sichern, ohne ihn je von der Masse abhängig und sich selbst
untreu zu machen. Nicht die Schicksale Stettins sind es, die uns vor allem an
diesem Roman bewegen und ergreifen, sondern die Schicksale Wichenhagens, in
dem der tapfre Widerstand der Oderstadt gegen Friedrich Wilhelm von Branden¬
burg sein Haupt erhält. In den verworrenen politischen und gesellschaftlichen Zu¬
ständen seiner Stadt, von einer Doppelneigung zu der geistvollen hochherzigen
Tochter des schwedischen Kommandanten, der armen Estrid von Wulffen, die
von einer der ersten Bomben, die der Kurfürst in die Stadt sendet, grausam
verstümmelt ward, und zu der schönen Kaufmannstochter Ursula Hogeuholt er¬
füllt, die dann während der Belagerung sein Weib wird, zeigt sich Wichen¬
hagen als eine Natur, die instinktiv das Rechte thut und ergreift, in den Ernst
der Zeit hinein und über ihr ursprüngliches Maß hinauswächst, dabei aber
immer die herzgewinnende Kraft der Unmittelbarkeit behält. Die ganze Gestalt
Wirkt nach all den pessimistisch zersetzten, mystisch angehauchten Helden der
jüngsten Romanlitteratur wahrhaft kräftigend und wohlthuend.

Die innere Entwicklung des Romans ist ans schließlich an die drei Haupt¬
gestalten Jürg Wichenhagen, Estrid von Wulffen und Ursula Hogeuholt ge¬
knüpft, ihnen gesellt sich aber eine Anzahl weiterer vortrefflich ausgeführter
Figuren, die zur Belebung der Szene und des äußern Ganges der Handlung
wesentlich beitragen, uuter ihnen der wackre Schiffer Post, der sehr charakte¬
ristisch den Typus des niederdeutschen Seemanns vertritt, der alte Schmied
Wichenhagen, der Großvater Jürgs, die Schusterstochter Dortchen, der Rektor,
endlich der Stadtsekretär, der während aller Schrecken der Belagerung nur an
die Vervollständigung seiner Chronik denkt. Die Kraft des Dichters reicht
vollständig aus, um diese und andre Gestalten mit anschaulichen Leben zu er¬
füllen und sie inmitten einer reichgegliederten Handlung natürlich zu bewegen
und zu verwenden. Nur gegen den Schluß hin läßt sich nicht verkennen, daß
die Ungunst des Stoffes auf die Ausführung zu drücken beginnt. Alle Un¬
mittelbarkeit der Erfindung, alle Lebendigkeit des Ausdrucks und alle künstlerische
Sorgfalt vermag eine gewisse Erlahmung und Zersplitterung der Teilnahme,
die aus dem Provisorischen des Abschlusses erwächst, nicht ganz zu überwinden.
Doch will das gegenüber den wirklichen und dabei so anspruchslosen Vorzügen
des Romans wenig bedeuten. Der Dichter hält sich durchaus innerhalb der
Grenzen der Bescheidenheit der Natur und wird darum von denen, für die die


Neue historische Romane

manu seinem Roman „Wider den Kurfürsten" zu Grunde gelegt und poetisch
belebt hat, ist das feste vaterstädtische Selbstgefühl und die Treue der Stettiner,
die ihren Eid an die .Krone Schweden halten und ihre Stadt tapfer verteidigen,
selbst als ihnen die Ahnung aufdämmert, daß sie eher zu Brandenburg als
zu Schweden gehören. Diese Gesinnung verkörpert der Dichter in dem Helden
seines Romans, dem jungen Kaufherrn Jürg Wichenhagen, einer prächtigen
Gestalt voll frischer Thatkraft und Lebenslust, voll aller glücklichen Eigenschaften,
die ihm die Bvlksgunst sichern, ohne ihn je von der Masse abhängig und sich selbst
untreu zu machen. Nicht die Schicksale Stettins sind es, die uns vor allem an
diesem Roman bewegen und ergreifen, sondern die Schicksale Wichenhagens, in
dem der tapfre Widerstand der Oderstadt gegen Friedrich Wilhelm von Branden¬
burg sein Haupt erhält. In den verworrenen politischen und gesellschaftlichen Zu¬
ständen seiner Stadt, von einer Doppelneigung zu der geistvollen hochherzigen
Tochter des schwedischen Kommandanten, der armen Estrid von Wulffen, die
von einer der ersten Bomben, die der Kurfürst in die Stadt sendet, grausam
verstümmelt ward, und zu der schönen Kaufmannstochter Ursula Hogeuholt er¬
füllt, die dann während der Belagerung sein Weib wird, zeigt sich Wichen¬
hagen als eine Natur, die instinktiv das Rechte thut und ergreift, in den Ernst
der Zeit hinein und über ihr ursprüngliches Maß hinauswächst, dabei aber
immer die herzgewinnende Kraft der Unmittelbarkeit behält. Die ganze Gestalt
Wirkt nach all den pessimistisch zersetzten, mystisch angehauchten Helden der
jüngsten Romanlitteratur wahrhaft kräftigend und wohlthuend.

Die innere Entwicklung des Romans ist ans schließlich an die drei Haupt¬
gestalten Jürg Wichenhagen, Estrid von Wulffen und Ursula Hogeuholt ge¬
knüpft, ihnen gesellt sich aber eine Anzahl weiterer vortrefflich ausgeführter
Figuren, die zur Belebung der Szene und des äußern Ganges der Handlung
wesentlich beitragen, uuter ihnen der wackre Schiffer Post, der sehr charakte¬
ristisch den Typus des niederdeutschen Seemanns vertritt, der alte Schmied
Wichenhagen, der Großvater Jürgs, die Schusterstochter Dortchen, der Rektor,
endlich der Stadtsekretär, der während aller Schrecken der Belagerung nur an
die Vervollständigung seiner Chronik denkt. Die Kraft des Dichters reicht
vollständig aus, um diese und andre Gestalten mit anschaulichen Leben zu er¬
füllen und sie inmitten einer reichgegliederten Handlung natürlich zu bewegen
und zu verwenden. Nur gegen den Schluß hin läßt sich nicht verkennen, daß
die Ungunst des Stoffes auf die Ausführung zu drücken beginnt. Alle Un¬
mittelbarkeit der Erfindung, alle Lebendigkeit des Ausdrucks und alle künstlerische
Sorgfalt vermag eine gewisse Erlahmung und Zersplitterung der Teilnahme,
die aus dem Provisorischen des Abschlusses erwächst, nicht ganz zu überwinden.
Doch will das gegenüber den wirklichen und dabei so anspruchslosen Vorzügen
des Romans wenig bedeuten. Der Dichter hält sich durchaus innerhalb der
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[0433] Neue historische Romane manu seinem Roman „Wider den Kurfürsten" zu Grunde gelegt und poetisch belebt hat, ist das feste vaterstädtische Selbstgefühl und die Treue der Stettiner, die ihren Eid an die .Krone Schweden halten und ihre Stadt tapfer verteidigen, selbst als ihnen die Ahnung aufdämmert, daß sie eher zu Brandenburg als zu Schweden gehören. Diese Gesinnung verkörpert der Dichter in dem Helden seines Romans, dem jungen Kaufherrn Jürg Wichenhagen, einer prächtigen Gestalt voll frischer Thatkraft und Lebenslust, voll aller glücklichen Eigenschaften, die ihm die Bvlksgunst sichern, ohne ihn je von der Masse abhängig und sich selbst untreu zu machen. Nicht die Schicksale Stettins sind es, die uns vor allem an diesem Roman bewegen und ergreifen, sondern die Schicksale Wichenhagens, in dem der tapfre Widerstand der Oderstadt gegen Friedrich Wilhelm von Branden¬ burg sein Haupt erhält. In den verworrenen politischen und gesellschaftlichen Zu¬ ständen seiner Stadt, von einer Doppelneigung zu der geistvollen hochherzigen Tochter des schwedischen Kommandanten, der armen Estrid von Wulffen, die von einer der ersten Bomben, die der Kurfürst in die Stadt sendet, grausam verstümmelt ward, und zu der schönen Kaufmannstochter Ursula Hogeuholt er¬ füllt, die dann während der Belagerung sein Weib wird, zeigt sich Wichen¬ hagen als eine Natur, die instinktiv das Rechte thut und ergreift, in den Ernst der Zeit hinein und über ihr ursprüngliches Maß hinauswächst, dabei aber immer die herzgewinnende Kraft der Unmittelbarkeit behält. Die ganze Gestalt Wirkt nach all den pessimistisch zersetzten, mystisch angehauchten Helden der jüngsten Romanlitteratur wahrhaft kräftigend und wohlthuend. Die innere Entwicklung des Romans ist ans schließlich an die drei Haupt¬ gestalten Jürg Wichenhagen, Estrid von Wulffen und Ursula Hogeuholt ge¬ knüpft, ihnen gesellt sich aber eine Anzahl weiterer vortrefflich ausgeführter Figuren, die zur Belebung der Szene und des äußern Ganges der Handlung wesentlich beitragen, uuter ihnen der wackre Schiffer Post, der sehr charakte¬ ristisch den Typus des niederdeutschen Seemanns vertritt, der alte Schmied Wichenhagen, der Großvater Jürgs, die Schusterstochter Dortchen, der Rektor, endlich der Stadtsekretär, der während aller Schrecken der Belagerung nur an die Vervollständigung seiner Chronik denkt. Die Kraft des Dichters reicht vollständig aus, um diese und andre Gestalten mit anschaulichen Leben zu er¬ füllen und sie inmitten einer reichgegliederten Handlung natürlich zu bewegen und zu verwenden. Nur gegen den Schluß hin läßt sich nicht verkennen, daß die Ungunst des Stoffes auf die Ausführung zu drücken beginnt. Alle Un¬ mittelbarkeit der Erfindung, alle Lebendigkeit des Ausdrucks und alle künstlerische Sorgfalt vermag eine gewisse Erlahmung und Zersplitterung der Teilnahme, die aus dem Provisorischen des Abschlusses erwächst, nicht ganz zu überwinden. Doch will das gegenüber den wirklichen und dabei so anspruchslosen Vorzügen des Romans wenig bedeuten. Der Dichter hält sich durchaus innerhalb der Grenzen der Bescheidenheit der Natur und wird darum von denen, für die die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/433>, abgerufen am 13.05.2024.