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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Aus den Tage" der Zensur

auch manche andre Negierung, die im eignen Hause keine Schonung kannte,
wie z, B. die kurhessische, wurde plötzlich nachsichtig, wenn dadurch dem preu¬
ßischen Nachbar ein Tort angethan werden konnte. Die vielen mit mehr oder
weniger Witz zusammengestellten Zensuranekdoten, die in den vierziger Jahren
erschienen, werden jetzt ohne Zweifel zu den in wenigen Bibliotheken gesam¬
melten Seltenheiten gehören; einst gingen sie von Hand zu Hand und wurden
mit Gier verschlungen, wie alles Ganz- oder Halbvcrbotne.

Denn oppositionell gesinnt war im Grunde jeder. Wohl gab es ver-
schiedne Abstufungen und Schcittirungen der Unzufriedenheit mit den politischen
Zuständen, aber zufrieden zu sein würde man fast als ein Eingeständnis
mangelhafter Bildung angesehen haben. Von einer so allgemeinen Verstim¬
mung war selbst in der sogenannten Konfliktsperiode nicht die Rede, und wer
nur die Zeit von 1864 bis 1890 erlebt hätte, würde sich überhaupt keine Vor¬
stellung von einem derartigen Verhältnis zwischen Volk und Negierung machen
können. Die großen Staate" namentlich wurden förmlich überschwemmt von
politischer Litteratur, die manchmal die Zwanzigbvgenfreiheit ausnutzte, meistens
jedoch nnter milderer Zensur, wie in Hamburg oder in der zensurfreien Schweiz,
ans Tageslicht gekommen war. 1845 sagte ein Berliner Redakteur bedeutungs¬
voll, es erschienen jetzt ebenso viele Flugschriften bei uns wie in Frankreich
vor der Revolution. Die Polizei war nicht lästig, die Verbote folgten dem
Erscheinen der Broschüren auf dem Fuße, dienten aber in der Regel nur dazu,
die Aufmerksamkeit zu erregen und oft ganz wertlosen Produkten Leser zu ver¬
schaffen. Denn zu haben war alles, die Lesezirkel ließen sich nichts verbvtnes
entgehen, und höhere Beamte unter den Teilnehmern drohten wohl einmal
warnend mit dem Finger; aber ihr Lächeln dabei verriet, wie gut auch ihnen
die verbotnen Früchte mundeten. Von dem gemütlichen Bücherschmuggel an
der böhmischen Grenze ist oft erzählt worden, er muß aber auch an den
Grenzen der Schweiz in Blüte gestanden haben, denn selten hörte man, daß
dort ein Ballen mit Beschlag belegt worden sei; und was einmal herüber war,
das verbreitete sich unbehelligt über ganz Deutschland. Ein Buchhändler in
einer kleinen Stadt Preußens erzählte später, er habe ein einzigesmal etwas
verbvtnes ausliefern müssen, weil er in dem Vertrauen, daß dergleichen un¬
möglich Anstoß erregen könne, eine Kundgebung der Konstitutionellen im Ver¬
einigten Landtage in seinein Lokalblatt angekündigt hatte und folglich nicht
in Abrede stellen konnte, die gefährliche Schrift erhalten zu haben. Dafür habe
er kurz darauf mit angesehen, wie, während er ein neues Verbot ordnungs¬
mäßig regiftrirte, der Polizeibeamte, der es überbracht hatte, ruhig in dem
soeben ausgepackten verpöntem Buche blätterte, um dann auf die stehende
Frage, ob es vorhanden sei, die ebenso stehende Verneinung in Empfang zu
nehmen.

Trotz solcher weitgehenden Fürsorge für die politische Unschuld der "Unter-


Aus den Tage» der Zensur

auch manche andre Negierung, die im eignen Hause keine Schonung kannte,
wie z, B. die kurhessische, wurde plötzlich nachsichtig, wenn dadurch dem preu¬
ßischen Nachbar ein Tort angethan werden konnte. Die vielen mit mehr oder
weniger Witz zusammengestellten Zensuranekdoten, die in den vierziger Jahren
erschienen, werden jetzt ohne Zweifel zu den in wenigen Bibliotheken gesam¬
melten Seltenheiten gehören; einst gingen sie von Hand zu Hand und wurden
mit Gier verschlungen, wie alles Ganz- oder Halbvcrbotne.

Denn oppositionell gesinnt war im Grunde jeder. Wohl gab es ver-
schiedne Abstufungen und Schcittirungen der Unzufriedenheit mit den politischen
Zuständen, aber zufrieden zu sein würde man fast als ein Eingeständnis
mangelhafter Bildung angesehen haben. Von einer so allgemeinen Verstim¬
mung war selbst in der sogenannten Konfliktsperiode nicht die Rede, und wer
nur die Zeit von 1864 bis 1890 erlebt hätte, würde sich überhaupt keine Vor¬
stellung von einem derartigen Verhältnis zwischen Volk und Negierung machen
können. Die großen Staate» namentlich wurden förmlich überschwemmt von
politischer Litteratur, die manchmal die Zwanzigbvgenfreiheit ausnutzte, meistens
jedoch nnter milderer Zensur, wie in Hamburg oder in der zensurfreien Schweiz,
ans Tageslicht gekommen war. 1845 sagte ein Berliner Redakteur bedeutungs¬
voll, es erschienen jetzt ebenso viele Flugschriften bei uns wie in Frankreich
vor der Revolution. Die Polizei war nicht lästig, die Verbote folgten dem
Erscheinen der Broschüren auf dem Fuße, dienten aber in der Regel nur dazu,
die Aufmerksamkeit zu erregen und oft ganz wertlosen Produkten Leser zu ver¬
schaffen. Denn zu haben war alles, die Lesezirkel ließen sich nichts verbvtnes
entgehen, und höhere Beamte unter den Teilnehmern drohten wohl einmal
warnend mit dem Finger; aber ihr Lächeln dabei verriet, wie gut auch ihnen
die verbotnen Früchte mundeten. Von dem gemütlichen Bücherschmuggel an
der böhmischen Grenze ist oft erzählt worden, er muß aber auch an den
Grenzen der Schweiz in Blüte gestanden haben, denn selten hörte man, daß
dort ein Ballen mit Beschlag belegt worden sei; und was einmal herüber war,
das verbreitete sich unbehelligt über ganz Deutschland. Ein Buchhändler in
einer kleinen Stadt Preußens erzählte später, er habe ein einzigesmal etwas
verbvtnes ausliefern müssen, weil er in dem Vertrauen, daß dergleichen un¬
möglich Anstoß erregen könne, eine Kundgebung der Konstitutionellen im Ver¬
einigten Landtage in seinein Lokalblatt angekündigt hatte und folglich nicht
in Abrede stellen konnte, die gefährliche Schrift erhalten zu haben. Dafür habe
er kurz darauf mit angesehen, wie, während er ein neues Verbot ordnungs¬
mäßig regiftrirte, der Polizeibeamte, der es überbracht hatte, ruhig in dem
soeben ausgepackten verpöntem Buche blätterte, um dann auf die stehende
Frage, ob es vorhanden sei, die ebenso stehende Verneinung in Empfang zu
nehmen.

Trotz solcher weitgehenden Fürsorge für die politische Unschuld der „Unter-


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[0526] Aus den Tage» der Zensur auch manche andre Negierung, die im eignen Hause keine Schonung kannte, wie z, B. die kurhessische, wurde plötzlich nachsichtig, wenn dadurch dem preu¬ ßischen Nachbar ein Tort angethan werden konnte. Die vielen mit mehr oder weniger Witz zusammengestellten Zensuranekdoten, die in den vierziger Jahren erschienen, werden jetzt ohne Zweifel zu den in wenigen Bibliotheken gesam¬ melten Seltenheiten gehören; einst gingen sie von Hand zu Hand und wurden mit Gier verschlungen, wie alles Ganz- oder Halbvcrbotne. Denn oppositionell gesinnt war im Grunde jeder. Wohl gab es ver- schiedne Abstufungen und Schcittirungen der Unzufriedenheit mit den politischen Zuständen, aber zufrieden zu sein würde man fast als ein Eingeständnis mangelhafter Bildung angesehen haben. Von einer so allgemeinen Verstim¬ mung war selbst in der sogenannten Konfliktsperiode nicht die Rede, und wer nur die Zeit von 1864 bis 1890 erlebt hätte, würde sich überhaupt keine Vor¬ stellung von einem derartigen Verhältnis zwischen Volk und Negierung machen können. Die großen Staate» namentlich wurden förmlich überschwemmt von politischer Litteratur, die manchmal die Zwanzigbvgenfreiheit ausnutzte, meistens jedoch nnter milderer Zensur, wie in Hamburg oder in der zensurfreien Schweiz, ans Tageslicht gekommen war. 1845 sagte ein Berliner Redakteur bedeutungs¬ voll, es erschienen jetzt ebenso viele Flugschriften bei uns wie in Frankreich vor der Revolution. Die Polizei war nicht lästig, die Verbote folgten dem Erscheinen der Broschüren auf dem Fuße, dienten aber in der Regel nur dazu, die Aufmerksamkeit zu erregen und oft ganz wertlosen Produkten Leser zu ver¬ schaffen. Denn zu haben war alles, die Lesezirkel ließen sich nichts verbvtnes entgehen, und höhere Beamte unter den Teilnehmern drohten wohl einmal warnend mit dem Finger; aber ihr Lächeln dabei verriet, wie gut auch ihnen die verbotnen Früchte mundeten. Von dem gemütlichen Bücherschmuggel an der böhmischen Grenze ist oft erzählt worden, er muß aber auch an den Grenzen der Schweiz in Blüte gestanden haben, denn selten hörte man, daß dort ein Ballen mit Beschlag belegt worden sei; und was einmal herüber war, das verbreitete sich unbehelligt über ganz Deutschland. Ein Buchhändler in einer kleinen Stadt Preußens erzählte später, er habe ein einzigesmal etwas verbvtnes ausliefern müssen, weil er in dem Vertrauen, daß dergleichen un¬ möglich Anstoß erregen könne, eine Kundgebung der Konstitutionellen im Ver¬ einigten Landtage in seinein Lokalblatt angekündigt hatte und folglich nicht in Abrede stellen konnte, die gefährliche Schrift erhalten zu haben. Dafür habe er kurz darauf mit angesehen, wie, während er ein neues Verbot ordnungs¬ mäßig regiftrirte, der Polizeibeamte, der es überbracht hatte, ruhig in dem soeben ausgepackten verpöntem Buche blätterte, um dann auf die stehende Frage, ob es vorhanden sei, die ebenso stehende Verneinung in Empfang zu nehmen. Trotz solcher weitgehenden Fürsorge für die politische Unschuld der „Unter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/526>, abgerufen am 26.05.2024.