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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr.

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Zins der Geschichte der deutschen Studentensprache

nicht abgerissen haben. Freilich was ist ans der lateinischen Sprachgewandt¬
heit der Vaganten geworden! Das lebenskräftige Latein des Mittelalters, von
klerikaler und juristischer Bildung fallen gelassen, von den Humanisten oben¬
drein in Verruf gethan, war auch bei den Fahrenden bis auf dürftige Formeln
verloren gegangen: sie sangen und bettelten jetzt deutsch, und wenn ihre Zunft¬
sprache jetzt um ein Vorbild verlegen war, so ging sie bei der Gaunersprache
der Zeit, dem sogenannten Notwelsch in die Lehre.

Was diesem Chor von Bachanten, ihren Gebräuchen und ihrer Sprache
gerade in dieser Zeit Einfluß auf die Entwicklung des neuern Studententums
geben konnte, das war die eigentümliche Studienordnung der jungen deutschen
Universitäten. Den drei Fakultäten der Theologie, der Jurisprudenz und der
Medizin stand in der sogenannten Artistenfakultät eine Stiefschwester zur Seite,
deren Thätigkeit sich nur wenig von dem herkömmlichen Unterricht in Kloster¬
schulen, Domschulen und Stiftsschulen unterschied. Artisten und fahrende
Schüler standen also geistig etwa auf einer Stufe. Dazu hatten sie den
Zugvogelcharakter im Gegensatz zu den ernsthafter und darum seßhafter studi-
renden Theologen, Juristen und Medizinern mit einander gemein: kein Wunder,
daß die Grenze zwischen beiden fließend wurde und die jüngere der beiden
Bruderklassen von der ältern, dem Vagcmtentum, zu lernen begann. Das be¬
deutet aber nichts weniger, als daß Bräuche und Anschauungen, Lebens- und
Denkart der Vaganten das gesamte Universitätsstudententum befruchteten; denn
die Artistenfakultät bildete für die drei andern die notwendige Durchgangsstufc,
abgesehen davon, daß sie bei weitem die größte war: für Leipzig erklärt ein
Kenner der Verhältnisse um 1500: "Wu eiuer studiret in der fakultet der
heiligen schrift, des rechten oder der etznei, so seint wol 30, ti do studirn in
den freien kunsten."

Im fünfzehnten Jahrhundert wird also in der Hauptsache in die Studenten¬
sprache eingedrungen sein, was neuere Forschungen^) an studentischen Aus-



*) Das folgende beruht zum Teil auf den beiden Schriften: Deutsche Studenten¬
sprache von Friedrich Kluge (Straßburg, K. I. Trübner, 1895) und Hallische
Studentensprache. Eine Festgabe zum zweihundertjährigen Jubiläum der Universität
Halle von Dr. John Meier (Halle, M. Niemeyer, 1894). Das hübsche kleine Buch von
Kluge, das gewiß viele dankbare Leser finden wird, ist die Ausarbeitung eines schon 1892
gehaltnen Vortrags, auf den nach Stoff und Anlage auch Meier im großen und ganzen
zurückgeht, verdient also den ersten Platz. Es charakterisirt in frischem Tone namentlich
die altere Studentensprache in den Kapiteln: Studenten und Philister und Trunken(-nen?)litanci
und giebt geschichtliche Rückblicke in den Abschnitten: Antike Elemente, Burschikose Zoologie,
Biblisch-theologische Nachklänge, Im Bann d:s Rotwelsch, Französische Einflüsse; auch gramma¬
tische Eigentümlichkeiten der Studentensprache werden besprochen. Eine sehr willkommne Er¬
gänzung findet diese Darstellung in dem ausführlichen Wörterbuch der Studentensprache, das
Kluge als zweiten Teil seines Büchleins zusammengestellt hat. Meiers Arbeit verdient ge¬
nannt zu werden, weil sie in einigen Punkten über Kluge hinausgeht. Ihr Titel paßt aller-
Zins der Geschichte der deutschen Studentensprache

nicht abgerissen haben. Freilich was ist ans der lateinischen Sprachgewandt¬
heit der Vaganten geworden! Das lebenskräftige Latein des Mittelalters, von
klerikaler und juristischer Bildung fallen gelassen, von den Humanisten oben¬
drein in Verruf gethan, war auch bei den Fahrenden bis auf dürftige Formeln
verloren gegangen: sie sangen und bettelten jetzt deutsch, und wenn ihre Zunft¬
sprache jetzt um ein Vorbild verlegen war, so ging sie bei der Gaunersprache
der Zeit, dem sogenannten Notwelsch in die Lehre.

Was diesem Chor von Bachanten, ihren Gebräuchen und ihrer Sprache
gerade in dieser Zeit Einfluß auf die Entwicklung des neuern Studententums
geben konnte, das war die eigentümliche Studienordnung der jungen deutschen
Universitäten. Den drei Fakultäten der Theologie, der Jurisprudenz und der
Medizin stand in der sogenannten Artistenfakultät eine Stiefschwester zur Seite,
deren Thätigkeit sich nur wenig von dem herkömmlichen Unterricht in Kloster¬
schulen, Domschulen und Stiftsschulen unterschied. Artisten und fahrende
Schüler standen also geistig etwa auf einer Stufe. Dazu hatten sie den
Zugvogelcharakter im Gegensatz zu den ernsthafter und darum seßhafter studi-
renden Theologen, Juristen und Medizinern mit einander gemein: kein Wunder,
daß die Grenze zwischen beiden fließend wurde und die jüngere der beiden
Bruderklassen von der ältern, dem Vagcmtentum, zu lernen begann. Das be¬
deutet aber nichts weniger, als daß Bräuche und Anschauungen, Lebens- und
Denkart der Vaganten das gesamte Universitätsstudententum befruchteten; denn
die Artistenfakultät bildete für die drei andern die notwendige Durchgangsstufc,
abgesehen davon, daß sie bei weitem die größte war: für Leipzig erklärt ein
Kenner der Verhältnisse um 1500: „Wu eiuer studiret in der fakultet der
heiligen schrift, des rechten oder der etznei, so seint wol 30, ti do studirn in
den freien kunsten."

Im fünfzehnten Jahrhundert wird also in der Hauptsache in die Studenten¬
sprache eingedrungen sein, was neuere Forschungen^) an studentischen Aus-



*) Das folgende beruht zum Teil auf den beiden Schriften: Deutsche Studenten¬
sprache von Friedrich Kluge (Straßburg, K. I. Trübner, 1895) und Hallische
Studentensprache. Eine Festgabe zum zweihundertjährigen Jubiläum der Universität
Halle von Dr. John Meier (Halle, M. Niemeyer, 1894). Das hübsche kleine Buch von
Kluge, das gewiß viele dankbare Leser finden wird, ist die Ausarbeitung eines schon 1892
gehaltnen Vortrags, auf den nach Stoff und Anlage auch Meier im großen und ganzen
zurückgeht, verdient also den ersten Platz. Es charakterisirt in frischem Tone namentlich
die altere Studentensprache in den Kapiteln: Studenten und Philister und Trunken(-nen?)litanci
und giebt geschichtliche Rückblicke in den Abschnitten: Antike Elemente, Burschikose Zoologie,
Biblisch-theologische Nachklänge, Im Bann d:s Rotwelsch, Französische Einflüsse; auch gramma¬
tische Eigentümlichkeiten der Studentensprache werden besprochen. Eine sehr willkommne Er¬
gänzung findet diese Darstellung in dem ausführlichen Wörterbuch der Studentensprache, das
Kluge als zweiten Teil seines Büchleins zusammengestellt hat. Meiers Arbeit verdient ge¬
nannt zu werden, weil sie in einigen Punkten über Kluge hinausgeht. Ihr Titel paßt aller-
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_219001/590>, abgerufen am 27.04.2024.