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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Im Gedenkjahr

ihre Fersen und rücken in der Frühe des ersten Septembermorgens ins Ge¬
fecht, ohne zu ahnen, daß wir heute -- den ersten Sedantag seien, sollen.
Vorn steht es nicht gut, die Erde erbebt unter dem Drohnen der entlang den
Marschkolonnen vorgalvppirenden Kvrpsartillerie, deren Mannschaften auf den
Protzen die Pfeifen schwenken. Endlich biegen wir rechts aus, marschieren
auf und dringen in ein Wäldchen ein. Wir hören das leise surren von
Chassepotkugeln, ohne ihre freundlichen Absender zu erblicken, da sitzt mir auch
schon eine im Schenkel, und -- aus ist der Schmaus! Krankenträger, der erste
Verband im Granatfeuer, dann das Lazarett, eine mit Strohschütten alls¬
gelegte Zuckerfabrik, zwischen zwei grausam zerschossenen Kameraden. Endlich
durch Belgien zurück in die Heimat, ein langweiliges Krankenlager, tägliche,
fast ermüdende Siegesnachrichten; alles dreht sich um die Frage, ob Paris
noch bombardirt werden wird oder nicht. Genesen, zum Ersatzbataillon, dann
wieder zum Regiment vor das bereits gefallene Paris, dessen Kuppeln die
rücksichtsvollen Dentschen aber nur von der Enceinte aus betrachten dürfen.
Gern kehren wir ihm den Rücken, genießen herrliche Frühlingstage wie Gott
in Frankreich und fühlen doch Heimatssehnsucht. Endlich der Rückmarsch,
endlich wieder zu Haus, und am nächsten Tage -- wieder zur Arbeit geuau
an der Stelle, wo wir ein Jahr vorher abgebrochen haben.

Auch diese fünfundzwanzig Jahre sind dem deutschen Volke Jahre der
Arbeit geblieben. Der Arbeit zunächst an dein innern Ausbau des wieder-
erstandnen Reiches. Die Einheit der Rechtseinrichtnngen ist bis auf den nun
bald einzufügenden Schlußstein durchgeführt. Die wirtschaftliche Einheit, die
Begleiterin und Förderin der politischen Einigung, hat die innern Grenzen
der deutschen Staaten nahezu verwischt, die Stammesbesonderheiten mehr und
mehr ausgeglichen und nnr einige allzu große Verschiedenheiten des Bodens
und des Klimas noch nicht überwinden können. Die Tüchtigkeit der Dentschen
hat sich ungehemmt entfalten dürfen und die Nation als Ganzes auch wirt¬
schaftlich groß und reich gemacht. Die deutschen Städte haben, bis auf we¬
nige weltvergessene Idylle, den kleinbürgerlichen, ja fast ärmlichen Charakter
abgestreift, der sie vor fünfundzwanzig Jahren fast alle noch kennzeichnete.
Unsre Großstädte prunken in breiten, saubern, glänzend erleuchteten Straßen,
besetzt mit bequemen und anspruchsvollen Wohn- und Geschäftshäusern, mit
stattlichen öffentlichen Bauten. Der Verkehr flutet mit den Hilfsmitteln der
Technik und einer in die feinsten Adern ausgebildeten Organisation bis nach
den entlegensten Winkeln. Die Begriffe von Raum und Zeit haben sich ge¬
wandelt, das ganze bürgerliche Leben hat einen bequemern Zuschnitt erhalten.
So scheint die äußere Wohlfahrt des deutschen Volkes am Ende des ersten
Vierteljahrhunderts mächtig entwickelt und gefördert.

Und doch gewahrt der Beobachter schon in dem äußern Bilde mich tiefe
Schatten. Die Silhouette unsrer Städte ist zwar durch Kuppeln und Turme


Im Gedenkjahr

ihre Fersen und rücken in der Frühe des ersten Septembermorgens ins Ge¬
fecht, ohne zu ahnen, daß wir heute — den ersten Sedantag seien, sollen.
Vorn steht es nicht gut, die Erde erbebt unter dem Drohnen der entlang den
Marschkolonnen vorgalvppirenden Kvrpsartillerie, deren Mannschaften auf den
Protzen die Pfeifen schwenken. Endlich biegen wir rechts aus, marschieren
auf und dringen in ein Wäldchen ein. Wir hören das leise surren von
Chassepotkugeln, ohne ihre freundlichen Absender zu erblicken, da sitzt mir auch
schon eine im Schenkel, und — aus ist der Schmaus! Krankenträger, der erste
Verband im Granatfeuer, dann das Lazarett, eine mit Strohschütten alls¬
gelegte Zuckerfabrik, zwischen zwei grausam zerschossenen Kameraden. Endlich
durch Belgien zurück in die Heimat, ein langweiliges Krankenlager, tägliche,
fast ermüdende Siegesnachrichten; alles dreht sich um die Frage, ob Paris
noch bombardirt werden wird oder nicht. Genesen, zum Ersatzbataillon, dann
wieder zum Regiment vor das bereits gefallene Paris, dessen Kuppeln die
rücksichtsvollen Dentschen aber nur von der Enceinte aus betrachten dürfen.
Gern kehren wir ihm den Rücken, genießen herrliche Frühlingstage wie Gott
in Frankreich und fühlen doch Heimatssehnsucht. Endlich der Rückmarsch,
endlich wieder zu Haus, und am nächsten Tage — wieder zur Arbeit geuau
an der Stelle, wo wir ein Jahr vorher abgebrochen haben.

Auch diese fünfundzwanzig Jahre sind dem deutschen Volke Jahre der
Arbeit geblieben. Der Arbeit zunächst an dein innern Ausbau des wieder-
erstandnen Reiches. Die Einheit der Rechtseinrichtnngen ist bis auf den nun
bald einzufügenden Schlußstein durchgeführt. Die wirtschaftliche Einheit, die
Begleiterin und Förderin der politischen Einigung, hat die innern Grenzen
der deutschen Staaten nahezu verwischt, die Stammesbesonderheiten mehr und
mehr ausgeglichen und nnr einige allzu große Verschiedenheiten des Bodens
und des Klimas noch nicht überwinden können. Die Tüchtigkeit der Dentschen
hat sich ungehemmt entfalten dürfen und die Nation als Ganzes auch wirt¬
schaftlich groß und reich gemacht. Die deutschen Städte haben, bis auf we¬
nige weltvergessene Idylle, den kleinbürgerlichen, ja fast ärmlichen Charakter
abgestreift, der sie vor fünfundzwanzig Jahren fast alle noch kennzeichnete.
Unsre Großstädte prunken in breiten, saubern, glänzend erleuchteten Straßen,
besetzt mit bequemen und anspruchsvollen Wohn- und Geschäftshäusern, mit
stattlichen öffentlichen Bauten. Der Verkehr flutet mit den Hilfsmitteln der
Technik und einer in die feinsten Adern ausgebildeten Organisation bis nach
den entlegensten Winkeln. Die Begriffe von Raum und Zeit haben sich ge¬
wandelt, das ganze bürgerliche Leben hat einen bequemern Zuschnitt erhalten.
So scheint die äußere Wohlfahrt des deutschen Volkes am Ende des ersten
Vierteljahrhunderts mächtig entwickelt und gefördert.

Und doch gewahrt der Beobachter schon in dem äußern Bilde mich tiefe
Schatten. Die Silhouette unsrer Städte ist zwar durch Kuppeln und Turme


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[0211] Im Gedenkjahr ihre Fersen und rücken in der Frühe des ersten Septembermorgens ins Ge¬ fecht, ohne zu ahnen, daß wir heute — den ersten Sedantag seien, sollen. Vorn steht es nicht gut, die Erde erbebt unter dem Drohnen der entlang den Marschkolonnen vorgalvppirenden Kvrpsartillerie, deren Mannschaften auf den Protzen die Pfeifen schwenken. Endlich biegen wir rechts aus, marschieren auf und dringen in ein Wäldchen ein. Wir hören das leise surren von Chassepotkugeln, ohne ihre freundlichen Absender zu erblicken, da sitzt mir auch schon eine im Schenkel, und — aus ist der Schmaus! Krankenträger, der erste Verband im Granatfeuer, dann das Lazarett, eine mit Strohschütten alls¬ gelegte Zuckerfabrik, zwischen zwei grausam zerschossenen Kameraden. Endlich durch Belgien zurück in die Heimat, ein langweiliges Krankenlager, tägliche, fast ermüdende Siegesnachrichten; alles dreht sich um die Frage, ob Paris noch bombardirt werden wird oder nicht. Genesen, zum Ersatzbataillon, dann wieder zum Regiment vor das bereits gefallene Paris, dessen Kuppeln die rücksichtsvollen Dentschen aber nur von der Enceinte aus betrachten dürfen. Gern kehren wir ihm den Rücken, genießen herrliche Frühlingstage wie Gott in Frankreich und fühlen doch Heimatssehnsucht. Endlich der Rückmarsch, endlich wieder zu Haus, und am nächsten Tage — wieder zur Arbeit geuau an der Stelle, wo wir ein Jahr vorher abgebrochen haben. Auch diese fünfundzwanzig Jahre sind dem deutschen Volke Jahre der Arbeit geblieben. Der Arbeit zunächst an dein innern Ausbau des wieder- erstandnen Reiches. Die Einheit der Rechtseinrichtnngen ist bis auf den nun bald einzufügenden Schlußstein durchgeführt. Die wirtschaftliche Einheit, die Begleiterin und Förderin der politischen Einigung, hat die innern Grenzen der deutschen Staaten nahezu verwischt, die Stammesbesonderheiten mehr und mehr ausgeglichen und nnr einige allzu große Verschiedenheiten des Bodens und des Klimas noch nicht überwinden können. Die Tüchtigkeit der Dentschen hat sich ungehemmt entfalten dürfen und die Nation als Ganzes auch wirt¬ schaftlich groß und reich gemacht. Die deutschen Städte haben, bis auf we¬ nige weltvergessene Idylle, den kleinbürgerlichen, ja fast ärmlichen Charakter abgestreift, der sie vor fünfundzwanzig Jahren fast alle noch kennzeichnete. Unsre Großstädte prunken in breiten, saubern, glänzend erleuchteten Straßen, besetzt mit bequemen und anspruchsvollen Wohn- und Geschäftshäusern, mit stattlichen öffentlichen Bauten. Der Verkehr flutet mit den Hilfsmitteln der Technik und einer in die feinsten Adern ausgebildeten Organisation bis nach den entlegensten Winkeln. Die Begriffe von Raum und Zeit haben sich ge¬ wandelt, das ganze bürgerliche Leben hat einen bequemern Zuschnitt erhalten. So scheint die äußere Wohlfahrt des deutschen Volkes am Ende des ersten Vierteljahrhunderts mächtig entwickelt und gefördert. Und doch gewahrt der Beobachter schon in dem äußern Bilde mich tiefe Schatten. Die Silhouette unsrer Städte ist zwar durch Kuppeln und Turme

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/211>, abgerufen am 23.05.2024.