Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Im Gedenkjahr

verschönt, aber auch durch den Fabrikschlot verunstaltet worden. Rede" den
eleganten Villenvierteln sind die öden Kasernenreihen der Arbeiterquartiere,
und selbst die liebliche deutsche Landschaft bedeckt sich mehr und mehr mit
dem nüchternen Backsteinbau der Fabriken und Arbeiterwohnungen. Wohl ist
der Deutsche heute gefälliger gekleidet, er hat mehr "Manieren" als noch vor
einem Vierteljahrhundert, es wird immer schwerer, die Zugehörigkeit zu einem
gewissen Stande aus der äußern Erscheinung zu erkennen, sogar unsre Laden-
uiid Dienstmädchen sind heute geschmackvoller angezogen als früher die Frauen
und Mädchen der bürgerlichen Stunde. Aber die frischen Farben, die traiter
Gestalten sind seltener geworden, und in der geputzten, die Straßen füllenden
Menge taucht öfter als sonst das heldische Gesicht des Fabrikarbeiters, die ab-
gerackerte Gestalt der Arbeiterfrau auf. Selbst das Heim der Armen entbehrt
heute nicht so leicht der Gardine, aber der Hausrat ist oft nur altes Ge-
rümpel oder moderner Schindelkram ans den Abzahlungsgeschäften, lind
wen der Weg als Armenpfleger oder wie sonst in die Dachstuben und Keller¬
wohnungen, in die Hinterhäuser und dreifachen Höfe der Großstädte führt,
dem will das Elend heute fast massenhafter, nackter und hoffnungsloser er¬
scheinen als früher auf dem engen Stadtgebiet. Unstreitig hat sich die
Lebenshaltung auch der untern Klassen im ganzen bedeutend gehoben, aber
kein Einsichtiger bestreitet, daß zugleich der Gegensatz zwischen niedrigen und
hohen Einkommen viel größer und klaffender geworden ist, als einst, wo der
allgemeine Wohlstand zwar viel bescheidner, aber weiter und gleichmäßiger
verbreitet war. Es ist, als ob sich von den zehn Millionen uachgeborner
Deutschen schon ein unheimlich großer Teil dem Zustande der englischen
Paupers zu nähern begönne.

Etwas tröstlicher ist der Rückblick ans das Geistesleben der Nation. Die
technischen Wissenschaften haben, begünstigt von dem wirtschaftlichen Aufschwünge
und diesen wiederum steigernd, innerhalb der kurzen Spanne Zeit staunens¬
werte Fortschritte gemacht. Freilich von der eigentlichen Philosophie hat sich
in derselben Zeit das Volk der Denker beinahe abgekehrt. Die übrigen Wissen¬
schaften zeigen wenig bedeutende Namen und fast keine großen, bahnbrechenden
Gedanken. Das Verdienst des Zeitalters liegt mehr in der Verbesserung der
Methoden, in der Einzelforschung. Immerhin sind die Errungenschaften einer
größern Vergangenheit festgehalten, tiefer ausgebaut und in' immer weitere
Kreise des Volkes hinausgetragen, im guten Sinne pvpularisirt worden.
Freilich: die Bildung der Kreise, die sich schlechthin die "gebildeten" zu nennen
lieben, ist mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen, unsre höhern Schulen
habe" -- dank dem Berechtigungswesen! dein Drängen nach Verflachung
nachgebe" müssen, schon verrät sich in einzelnen Spracherscheinungen, die mit
ungeheurer Schnelligkeit um sich gegriffen haben, nicht bloß Ungeschmack,
sonder" auch eine Unklarheit des Denkens, die ernstlich mit Besorgnis erfüllt.


Im Gedenkjahr

verschönt, aber auch durch den Fabrikschlot verunstaltet worden. Rede» den
eleganten Villenvierteln sind die öden Kasernenreihen der Arbeiterquartiere,
und selbst die liebliche deutsche Landschaft bedeckt sich mehr und mehr mit
dem nüchternen Backsteinbau der Fabriken und Arbeiterwohnungen. Wohl ist
der Deutsche heute gefälliger gekleidet, er hat mehr „Manieren" als noch vor
einem Vierteljahrhundert, es wird immer schwerer, die Zugehörigkeit zu einem
gewissen Stande aus der äußern Erscheinung zu erkennen, sogar unsre Laden-
uiid Dienstmädchen sind heute geschmackvoller angezogen als früher die Frauen
und Mädchen der bürgerlichen Stunde. Aber die frischen Farben, die traiter
Gestalten sind seltener geworden, und in der geputzten, die Straßen füllenden
Menge taucht öfter als sonst das heldische Gesicht des Fabrikarbeiters, die ab-
gerackerte Gestalt der Arbeiterfrau auf. Selbst das Heim der Armen entbehrt
heute nicht so leicht der Gardine, aber der Hausrat ist oft nur altes Ge-
rümpel oder moderner Schindelkram ans den Abzahlungsgeschäften, lind
wen der Weg als Armenpfleger oder wie sonst in die Dachstuben und Keller¬
wohnungen, in die Hinterhäuser und dreifachen Höfe der Großstädte führt,
dem will das Elend heute fast massenhafter, nackter und hoffnungsloser er¬
scheinen als früher auf dem engen Stadtgebiet. Unstreitig hat sich die
Lebenshaltung auch der untern Klassen im ganzen bedeutend gehoben, aber
kein Einsichtiger bestreitet, daß zugleich der Gegensatz zwischen niedrigen und
hohen Einkommen viel größer und klaffender geworden ist, als einst, wo der
allgemeine Wohlstand zwar viel bescheidner, aber weiter und gleichmäßiger
verbreitet war. Es ist, als ob sich von den zehn Millionen uachgeborner
Deutschen schon ein unheimlich großer Teil dem Zustande der englischen
Paupers zu nähern begönne.

Etwas tröstlicher ist der Rückblick ans das Geistesleben der Nation. Die
technischen Wissenschaften haben, begünstigt von dem wirtschaftlichen Aufschwünge
und diesen wiederum steigernd, innerhalb der kurzen Spanne Zeit staunens¬
werte Fortschritte gemacht. Freilich von der eigentlichen Philosophie hat sich
in derselben Zeit das Volk der Denker beinahe abgekehrt. Die übrigen Wissen¬
schaften zeigen wenig bedeutende Namen und fast keine großen, bahnbrechenden
Gedanken. Das Verdienst des Zeitalters liegt mehr in der Verbesserung der
Methoden, in der Einzelforschung. Immerhin sind die Errungenschaften einer
größern Vergangenheit festgehalten, tiefer ausgebaut und in' immer weitere
Kreise des Volkes hinausgetragen, im guten Sinne pvpularisirt worden.
Freilich: die Bildung der Kreise, die sich schlechthin die „gebildeten" zu nennen
lieben, ist mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen, unsre höhern Schulen
habe» — dank dem Berechtigungswesen! dein Drängen nach Verflachung
nachgebe» müssen, schon verrät sich in einzelnen Spracherscheinungen, die mit
ungeheurer Schnelligkeit um sich gegriffen haben, nicht bloß Ungeschmack,
sonder» auch eine Unklarheit des Denkens, die ernstlich mit Besorgnis erfüllt.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0212" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220538"/>
          <fw type="header" place="top"> Im Gedenkjahr</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_901" prev="#ID_900"> verschönt, aber auch durch den Fabrikschlot verunstaltet worden. Rede» den<lb/>
eleganten Villenvierteln sind die öden Kasernenreihen der Arbeiterquartiere,<lb/>
und selbst die liebliche deutsche Landschaft bedeckt sich mehr und mehr mit<lb/>
dem nüchternen Backsteinbau der Fabriken und Arbeiterwohnungen. Wohl ist<lb/>
der Deutsche heute gefälliger gekleidet, er hat mehr &#x201E;Manieren" als noch vor<lb/>
einem Vierteljahrhundert, es wird immer schwerer, die Zugehörigkeit zu einem<lb/>
gewissen Stande aus der äußern Erscheinung zu erkennen, sogar unsre Laden-<lb/>
uiid Dienstmädchen sind heute geschmackvoller angezogen als früher die Frauen<lb/>
und Mädchen der bürgerlichen Stunde. Aber die frischen Farben, die traiter<lb/>
Gestalten sind seltener geworden, und in der geputzten, die Straßen füllenden<lb/>
Menge taucht öfter als sonst das heldische Gesicht des Fabrikarbeiters, die ab-<lb/>
gerackerte Gestalt der Arbeiterfrau auf. Selbst das Heim der Armen entbehrt<lb/>
heute nicht so leicht der Gardine, aber der Hausrat ist oft nur altes Ge-<lb/>
rümpel oder moderner Schindelkram ans den Abzahlungsgeschäften, lind<lb/>
wen der Weg als Armenpfleger oder wie sonst in die Dachstuben und Keller¬<lb/>
wohnungen, in die Hinterhäuser und dreifachen Höfe der Großstädte führt,<lb/>
dem will das Elend heute fast massenhafter, nackter und hoffnungsloser er¬<lb/>
scheinen als früher auf dem engen Stadtgebiet. Unstreitig hat sich die<lb/>
Lebenshaltung auch der untern Klassen im ganzen bedeutend gehoben, aber<lb/>
kein Einsichtiger bestreitet, daß zugleich der Gegensatz zwischen niedrigen und<lb/>
hohen Einkommen viel größer und klaffender geworden ist, als einst, wo der<lb/>
allgemeine Wohlstand zwar viel bescheidner, aber weiter und gleichmäßiger<lb/>
verbreitet war. Es ist, als ob sich von den zehn Millionen uachgeborner<lb/>
Deutschen schon ein unheimlich großer Teil dem Zustande der englischen<lb/>
Paupers zu nähern begönne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_902" next="#ID_903"> Etwas tröstlicher ist der Rückblick ans das Geistesleben der Nation. Die<lb/>
technischen Wissenschaften haben, begünstigt von dem wirtschaftlichen Aufschwünge<lb/>
und diesen wiederum steigernd, innerhalb der kurzen Spanne Zeit staunens¬<lb/>
werte Fortschritte gemacht. Freilich von der eigentlichen Philosophie hat sich<lb/>
in derselben Zeit das Volk der Denker beinahe abgekehrt. Die übrigen Wissen¬<lb/>
schaften zeigen wenig bedeutende Namen und fast keine großen, bahnbrechenden<lb/>
Gedanken. Das Verdienst des Zeitalters liegt mehr in der Verbesserung der<lb/>
Methoden, in der Einzelforschung. Immerhin sind die Errungenschaften einer<lb/>
größern Vergangenheit festgehalten, tiefer ausgebaut und in' immer weitere<lb/>
Kreise des Volkes hinausgetragen, im guten Sinne pvpularisirt worden.<lb/>
Freilich: die Bildung der Kreise, die sich schlechthin die &#x201E;gebildeten" zu nennen<lb/>
lieben, ist mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen, unsre höhern Schulen<lb/>
habe» &#x2014; dank dem Berechtigungswesen! dein Drängen nach Verflachung<lb/>
nachgebe» müssen, schon verrät sich in einzelnen Spracherscheinungen, die mit<lb/>
ungeheurer Schnelligkeit um sich gegriffen haben, nicht bloß Ungeschmack,<lb/>
sonder» auch eine Unklarheit des Denkens, die ernstlich mit Besorgnis erfüllt.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0212] Im Gedenkjahr verschönt, aber auch durch den Fabrikschlot verunstaltet worden. Rede» den eleganten Villenvierteln sind die öden Kasernenreihen der Arbeiterquartiere, und selbst die liebliche deutsche Landschaft bedeckt sich mehr und mehr mit dem nüchternen Backsteinbau der Fabriken und Arbeiterwohnungen. Wohl ist der Deutsche heute gefälliger gekleidet, er hat mehr „Manieren" als noch vor einem Vierteljahrhundert, es wird immer schwerer, die Zugehörigkeit zu einem gewissen Stande aus der äußern Erscheinung zu erkennen, sogar unsre Laden- uiid Dienstmädchen sind heute geschmackvoller angezogen als früher die Frauen und Mädchen der bürgerlichen Stunde. Aber die frischen Farben, die traiter Gestalten sind seltener geworden, und in der geputzten, die Straßen füllenden Menge taucht öfter als sonst das heldische Gesicht des Fabrikarbeiters, die ab- gerackerte Gestalt der Arbeiterfrau auf. Selbst das Heim der Armen entbehrt heute nicht so leicht der Gardine, aber der Hausrat ist oft nur altes Ge- rümpel oder moderner Schindelkram ans den Abzahlungsgeschäften, lind wen der Weg als Armenpfleger oder wie sonst in die Dachstuben und Keller¬ wohnungen, in die Hinterhäuser und dreifachen Höfe der Großstädte führt, dem will das Elend heute fast massenhafter, nackter und hoffnungsloser er¬ scheinen als früher auf dem engen Stadtgebiet. Unstreitig hat sich die Lebenshaltung auch der untern Klassen im ganzen bedeutend gehoben, aber kein Einsichtiger bestreitet, daß zugleich der Gegensatz zwischen niedrigen und hohen Einkommen viel größer und klaffender geworden ist, als einst, wo der allgemeine Wohlstand zwar viel bescheidner, aber weiter und gleichmäßiger verbreitet war. Es ist, als ob sich von den zehn Millionen uachgeborner Deutschen schon ein unheimlich großer Teil dem Zustande der englischen Paupers zu nähern begönne. Etwas tröstlicher ist der Rückblick ans das Geistesleben der Nation. Die technischen Wissenschaften haben, begünstigt von dem wirtschaftlichen Aufschwünge und diesen wiederum steigernd, innerhalb der kurzen Spanne Zeit staunens¬ werte Fortschritte gemacht. Freilich von der eigentlichen Philosophie hat sich in derselben Zeit das Volk der Denker beinahe abgekehrt. Die übrigen Wissen¬ schaften zeigen wenig bedeutende Namen und fast keine großen, bahnbrechenden Gedanken. Das Verdienst des Zeitalters liegt mehr in der Verbesserung der Methoden, in der Einzelforschung. Immerhin sind die Errungenschaften einer größern Vergangenheit festgehalten, tiefer ausgebaut und in' immer weitere Kreise des Volkes hinausgetragen, im guten Sinne pvpularisirt worden. Freilich: die Bildung der Kreise, die sich schlechthin die „gebildeten" zu nennen lieben, ist mehr in die Breite als in die Tiefe gegangen, unsre höhern Schulen habe» — dank dem Berechtigungswesen! dein Drängen nach Verflachung nachgebe» müssen, schon verrät sich in einzelnen Spracherscheinungen, die mit ungeheurer Schnelligkeit um sich gegriffen haben, nicht bloß Ungeschmack, sonder» auch eine Unklarheit des Denkens, die ernstlich mit Besorgnis erfüllt.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/212
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/212>, abgerufen am 23.05.2024.