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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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und das übrige in den Schatten treten läßt, die namentlich tragische Episoden
aus dunkeln Tagen mit virtuoser Kunst heraufbeschwört, und wo sie uns nicht
für ihre Menschengestalten erwärmen kann, uns doch durch das Zeit- und
Lokalkolorit des Hintergrundes fesselt, verkörpert hier Zeusen Träume, die ihm
an den Ufern des Chiemsees aufgegangen sind. "Die Glocken von Greim-
harting," "Hunnenblnt" und "Aus der vergessenen Zeil" gehören nicht gerade
zu Jensens schönsten und seelisch vertieftesten Novellen, aber sie erheben sich
durch schärfere Bestimmtheit der Umrisse und größere Deutlichkeit des Zu¬
sammenhangs über zahlreiche spätere Erfindungen des fruchtbaren Erzählers.
Als die bedeutendste erscheint uns "Hunnenblut," eine phantastische, wilde,
aber von einem Strahl reiner Menschlichkeit und weiblicher Güte durchleuchtete
Geschichte, in die freilich auch die neuesten Vorstellungen von der erblichen
Belastung hereinspielen, aber doch nicht so, daß sie die Bescheidenheit der Natur
verhöhnten und verletzten. Der arme "Hunnenhund," der dem weit verbrei-
teten Geschlecht der Kaliban und Quasimodo angehört, zeigt sich wenigstens
der Dankbarkeit fähig. Die letzte Geschichte, "Aus der vergessenen Zeil," reiht
sich frühern Erzählungen Zeusens aus den Schrecken und der Entartung
des großen Krieges an lob versetzt deu Leser lebendig in die trostlosen Zu¬
stände und Stimmungen der dunkeln Leidenszeit hinein. Ob Nördlingen,
Wasserburg oder sonst eine deutsche Stadt deu Hintergrund nbgiebt, daraus
kommt wenig an. Wohl aber wird sich der eine und der andre Leser fragen,
ob es eine Vorahnung heraufziehenden künftigen Unheils sei, was diese Dar¬
stellungen frühern Elends so vermehrt oder ihre Anziehungskraft steigert.

Eine Novellengruppe von Rudolf Lindau: Schweigen (Berlin, F. Fon¬
täne u. Comp., 1895) führt nur Erlebnisse und Gestalten der Gegenwart vor
Angen. Die tragische Novelle "Schweigen," die kurze, aber vortreffliche Ge¬
schichte "Der Hauat" und die Resiguationsnvvelle "Ein ganzes Leben" heben
sich gut von einander ab; die erste freilich ist eine der modernen Familien¬
geschichten, an deuen kaum innerlich Anteil zu nehmen ist, weil uns die Gestalt
und das innere Leben der unglücklichen jungen Frau, deren Verschuldung
die tragische Wendung herbeiführt, nicht näher gebracht wird. Wir erblicke"
sie gleichsam nur schattenhaft in der Erzählung des überlebenden Gatten, und
in dieser erscheint alles, was er berichtet, die allmähliche Entfremdung des
jungen Weibes, der Argwohn seiner Familie gegen Susanna (der zur Über¬
wachung durch einen der Privatgeheimpvlizisten führt, die zu den häßlichsten
Errungenschaften der Neuzeit gehören), das Duell seines Bruders Richard
mit dem unwürdigen Hausfreund, die entscheidende und erschütternde Unter¬
redung mit der Mutter, nicht so hart und herb als die schweigende Verur¬
teilung, die der tödlich verletzte Gatte der todkranken Frau entgegensetzt. Der
Held der Erzählung naße sich hier allzusehr an, Vorsehung zu spielen, und
die schließliche Berzeihnng, die er der reuigen, tiefunglücklichen Susanna zu teil


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und das übrige in den Schatten treten läßt, die namentlich tragische Episoden
aus dunkeln Tagen mit virtuoser Kunst heraufbeschwört, und wo sie uns nicht
für ihre Menschengestalten erwärmen kann, uns doch durch das Zeit- und
Lokalkolorit des Hintergrundes fesselt, verkörpert hier Zeusen Träume, die ihm
an den Ufern des Chiemsees aufgegangen sind. „Die Glocken von Greim-
harting," „Hunnenblnt" und „Aus der vergessenen Zeil" gehören nicht gerade
zu Jensens schönsten und seelisch vertieftesten Novellen, aber sie erheben sich
durch schärfere Bestimmtheit der Umrisse und größere Deutlichkeit des Zu¬
sammenhangs über zahlreiche spätere Erfindungen des fruchtbaren Erzählers.
Als die bedeutendste erscheint uns „Hunnenblut," eine phantastische, wilde,
aber von einem Strahl reiner Menschlichkeit und weiblicher Güte durchleuchtete
Geschichte, in die freilich auch die neuesten Vorstellungen von der erblichen
Belastung hereinspielen, aber doch nicht so, daß sie die Bescheidenheit der Natur
verhöhnten und verletzten. Der arme „Hunnenhund," der dem weit verbrei-
teten Geschlecht der Kaliban und Quasimodo angehört, zeigt sich wenigstens
der Dankbarkeit fähig. Die letzte Geschichte, „Aus der vergessenen Zeil," reiht
sich frühern Erzählungen Zeusens aus den Schrecken und der Entartung
des großen Krieges an lob versetzt deu Leser lebendig in die trostlosen Zu¬
stände und Stimmungen der dunkeln Leidenszeit hinein. Ob Nördlingen,
Wasserburg oder sonst eine deutsche Stadt deu Hintergrund nbgiebt, daraus
kommt wenig an. Wohl aber wird sich der eine und der andre Leser fragen,
ob es eine Vorahnung heraufziehenden künftigen Unheils sei, was diese Dar¬
stellungen frühern Elends so vermehrt oder ihre Anziehungskraft steigert.

Eine Novellengruppe von Rudolf Lindau: Schweigen (Berlin, F. Fon¬
täne u. Comp., 1895) führt nur Erlebnisse und Gestalten der Gegenwart vor
Angen. Die tragische Novelle „Schweigen," die kurze, aber vortreffliche Ge¬
schichte „Der Hauat" und die Resiguationsnvvelle „Ein ganzes Leben" heben
sich gut von einander ab; die erste freilich ist eine der modernen Familien¬
geschichten, an deuen kaum innerlich Anteil zu nehmen ist, weil uns die Gestalt
und das innere Leben der unglücklichen jungen Frau, deren Verschuldung
die tragische Wendung herbeiführt, nicht näher gebracht wird. Wir erblicke»
sie gleichsam nur schattenhaft in der Erzählung des überlebenden Gatten, und
in dieser erscheint alles, was er berichtet, die allmähliche Entfremdung des
jungen Weibes, der Argwohn seiner Familie gegen Susanna (der zur Über¬
wachung durch einen der Privatgeheimpvlizisten führt, die zu den häßlichsten
Errungenschaften der Neuzeit gehören), das Duell seines Bruders Richard
mit dem unwürdigen Hausfreund, die entscheidende und erschütternde Unter¬
redung mit der Mutter, nicht so hart und herb als die schweigende Verur¬
teilung, die der tödlich verletzte Gatte der todkranken Frau entgegensetzt. Der
Held der Erzählung naße sich hier allzusehr an, Vorsehung zu spielen, und
die schließliche Berzeihnng, die er der reuigen, tiefunglücklichen Susanna zu teil


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[0227] Neue Novellen und das übrige in den Schatten treten läßt, die namentlich tragische Episoden aus dunkeln Tagen mit virtuoser Kunst heraufbeschwört, und wo sie uns nicht für ihre Menschengestalten erwärmen kann, uns doch durch das Zeit- und Lokalkolorit des Hintergrundes fesselt, verkörpert hier Zeusen Träume, die ihm an den Ufern des Chiemsees aufgegangen sind. „Die Glocken von Greim- harting," „Hunnenblnt" und „Aus der vergessenen Zeil" gehören nicht gerade zu Jensens schönsten und seelisch vertieftesten Novellen, aber sie erheben sich durch schärfere Bestimmtheit der Umrisse und größere Deutlichkeit des Zu¬ sammenhangs über zahlreiche spätere Erfindungen des fruchtbaren Erzählers. Als die bedeutendste erscheint uns „Hunnenblut," eine phantastische, wilde, aber von einem Strahl reiner Menschlichkeit und weiblicher Güte durchleuchtete Geschichte, in die freilich auch die neuesten Vorstellungen von der erblichen Belastung hereinspielen, aber doch nicht so, daß sie die Bescheidenheit der Natur verhöhnten und verletzten. Der arme „Hunnenhund," der dem weit verbrei- teten Geschlecht der Kaliban und Quasimodo angehört, zeigt sich wenigstens der Dankbarkeit fähig. Die letzte Geschichte, „Aus der vergessenen Zeil," reiht sich frühern Erzählungen Zeusens aus den Schrecken und der Entartung des großen Krieges an lob versetzt deu Leser lebendig in die trostlosen Zu¬ stände und Stimmungen der dunkeln Leidenszeit hinein. Ob Nördlingen, Wasserburg oder sonst eine deutsche Stadt deu Hintergrund nbgiebt, daraus kommt wenig an. Wohl aber wird sich der eine und der andre Leser fragen, ob es eine Vorahnung heraufziehenden künftigen Unheils sei, was diese Dar¬ stellungen frühern Elends so vermehrt oder ihre Anziehungskraft steigert. Eine Novellengruppe von Rudolf Lindau: Schweigen (Berlin, F. Fon¬ täne u. Comp., 1895) führt nur Erlebnisse und Gestalten der Gegenwart vor Angen. Die tragische Novelle „Schweigen," die kurze, aber vortreffliche Ge¬ schichte „Der Hauat" und die Resiguationsnvvelle „Ein ganzes Leben" heben sich gut von einander ab; die erste freilich ist eine der modernen Familien¬ geschichten, an deuen kaum innerlich Anteil zu nehmen ist, weil uns die Gestalt und das innere Leben der unglücklichen jungen Frau, deren Verschuldung die tragische Wendung herbeiführt, nicht näher gebracht wird. Wir erblicke» sie gleichsam nur schattenhaft in der Erzählung des überlebenden Gatten, und in dieser erscheint alles, was er berichtet, die allmähliche Entfremdung des jungen Weibes, der Argwohn seiner Familie gegen Susanna (der zur Über¬ wachung durch einen der Privatgeheimpvlizisten führt, die zu den häßlichsten Errungenschaften der Neuzeit gehören), das Duell seines Bruders Richard mit dem unwürdigen Hausfreund, die entscheidende und erschütternde Unter¬ redung mit der Mutter, nicht so hart und herb als die schweigende Verur¬ teilung, die der tödlich verletzte Gatte der todkranken Frau entgegensetzt. Der Held der Erzählung naße sich hier allzusehr an, Vorsehung zu spielen, und die schließliche Berzeihnng, die er der reuigen, tiefunglücklichen Susanna zu teil

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/227>, abgerufen am 05.06.2024.