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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Neue Novellen

Werden läßt, hebt die Wirkung seines furchtbaren Schweigens auf den Leser
nicht auf. Gegenüber der Tragik dieser Geschichte, an der wir keinen volle"
Anteil nehmen können, weil wir in die Seele der schuldigen Frau und ihres
im Duell gefallnen Mitschuldigen nicht hineinsehen könne", wirken die beiden
andern Novellen, von denen die zweite ein kleines Sittenbild aus Konstan¬
tinopel ist, beinahe erfrischend. Die Novellen Rudolf Lindaus zeichnen sich
übrigens durch eine sorgfältige, saubere Schreibweise ans, die in auffallendem
Gegensatz zu dein tagesüblichen Plakatstil steht, dem wir z. B. in den Tollen
Novellen von Ernst Ewert (Danzig, Theodor Bertling, 1895) begegne",
Novellen, die nicht ohne Talent, nicht ohne Stimiuungspoesie sind, aber fast
in aufdringlicher Weise die kranke Weisheit der jüngsten, lebensmüden Ge¬
neration in dem Stil verkünden, der mit jedem Satz eine neue Offenbarung
nicht giebt, aber zu geben behauptet. Die Helden des Verfassers sind "Seelen,
die stark und frei und kühn sind, die das Dunkel zwingen, sodaß ihnen das
Dasein nichts andres ist als ewige Helle, findendes, klingendes Sonnenleuchten.
Solche Seelen hassen das Weib. Ihre Liebe gilt der Kunst und der Ein¬
samkeit, sonst kennen sie nur Verachtung. Und ihre Verachtung ist grenzenlos:
sie verachten alles Kleine, Niedrige, Gemeine, sie schreiten unbefleckt dnrch den
Schmutz. Und sie lachen in ihrer weltfremden Adlereinsamkeit. Sie lachen
und verachten. So sind die Großen, die Größten." Aber trotz alledem, daß
sie wisse", daß "das Weib der Fluch der Erde ist," fallen sie in einer oder
der andern Weise diesem Fluch anheim, selbst der gewaltige und reine Henry
Jorck schließt mit einem bösartigen Schlnngenwcib und Zwitterwesen, einer
ausbeuterischen Kreatur Freundschaft, die aus Grimm, daß diese Freundschaft
uicht Liebe in ihrem schmutzigen Sinne werden will, "das Lebenswerk eines
Großen vernichtet." Dem Verfasser der "Tollen Novellen" erscheinen alle diese
wahren oder erträumten Schicksale tief tragisch; den unbefangnen Leser wandelt
das Bedauern an, daß Gottfried Keller zu früh gestorben ist, um einige von
den Großen und Größten dieses Schlags unter die unsterblichen Seldwyler
einzureihen.




Neue Novellen

Werden läßt, hebt die Wirkung seines furchtbaren Schweigens auf den Leser
nicht auf. Gegenüber der Tragik dieser Geschichte, an der wir keinen volle»
Anteil nehmen können, weil wir in die Seele der schuldigen Frau und ihres
im Duell gefallnen Mitschuldigen nicht hineinsehen könne», wirken die beiden
andern Novellen, von denen die zweite ein kleines Sittenbild aus Konstan¬
tinopel ist, beinahe erfrischend. Die Novellen Rudolf Lindaus zeichnen sich
übrigens durch eine sorgfältige, saubere Schreibweise ans, die in auffallendem
Gegensatz zu dein tagesüblichen Plakatstil steht, dem wir z. B. in den Tollen
Novellen von Ernst Ewert (Danzig, Theodor Bertling, 1895) begegne»,
Novellen, die nicht ohne Talent, nicht ohne Stimiuungspoesie sind, aber fast
in aufdringlicher Weise die kranke Weisheit der jüngsten, lebensmüden Ge¬
neration in dem Stil verkünden, der mit jedem Satz eine neue Offenbarung
nicht giebt, aber zu geben behauptet. Die Helden des Verfassers sind „Seelen,
die stark und frei und kühn sind, die das Dunkel zwingen, sodaß ihnen das
Dasein nichts andres ist als ewige Helle, findendes, klingendes Sonnenleuchten.
Solche Seelen hassen das Weib. Ihre Liebe gilt der Kunst und der Ein¬
samkeit, sonst kennen sie nur Verachtung. Und ihre Verachtung ist grenzenlos:
sie verachten alles Kleine, Niedrige, Gemeine, sie schreiten unbefleckt dnrch den
Schmutz. Und sie lachen in ihrer weltfremden Adlereinsamkeit. Sie lachen
und verachten. So sind die Großen, die Größten." Aber trotz alledem, daß
sie wisse», daß „das Weib der Fluch der Erde ist," fallen sie in einer oder
der andern Weise diesem Fluch anheim, selbst der gewaltige und reine Henry
Jorck schließt mit einem bösartigen Schlnngenwcib und Zwitterwesen, einer
ausbeuterischen Kreatur Freundschaft, die aus Grimm, daß diese Freundschaft
uicht Liebe in ihrem schmutzigen Sinne werden will, „das Lebenswerk eines
Großen vernichtet." Dem Verfasser der „Tollen Novellen" erscheinen alle diese
wahren oder erträumten Schicksale tief tragisch; den unbefangnen Leser wandelt
das Bedauern an, daß Gottfried Keller zu früh gestorben ist, um einige von
den Großen und Größten dieses Schlags unter die unsterblichen Seldwyler
einzureihen.




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[0228] Neue Novellen Werden läßt, hebt die Wirkung seines furchtbaren Schweigens auf den Leser nicht auf. Gegenüber der Tragik dieser Geschichte, an der wir keinen volle» Anteil nehmen können, weil wir in die Seele der schuldigen Frau und ihres im Duell gefallnen Mitschuldigen nicht hineinsehen könne», wirken die beiden andern Novellen, von denen die zweite ein kleines Sittenbild aus Konstan¬ tinopel ist, beinahe erfrischend. Die Novellen Rudolf Lindaus zeichnen sich übrigens durch eine sorgfältige, saubere Schreibweise ans, die in auffallendem Gegensatz zu dein tagesüblichen Plakatstil steht, dem wir z. B. in den Tollen Novellen von Ernst Ewert (Danzig, Theodor Bertling, 1895) begegne», Novellen, die nicht ohne Talent, nicht ohne Stimiuungspoesie sind, aber fast in aufdringlicher Weise die kranke Weisheit der jüngsten, lebensmüden Ge¬ neration in dem Stil verkünden, der mit jedem Satz eine neue Offenbarung nicht giebt, aber zu geben behauptet. Die Helden des Verfassers sind „Seelen, die stark und frei und kühn sind, die das Dunkel zwingen, sodaß ihnen das Dasein nichts andres ist als ewige Helle, findendes, klingendes Sonnenleuchten. Solche Seelen hassen das Weib. Ihre Liebe gilt der Kunst und der Ein¬ samkeit, sonst kennen sie nur Verachtung. Und ihre Verachtung ist grenzenlos: sie verachten alles Kleine, Niedrige, Gemeine, sie schreiten unbefleckt dnrch den Schmutz. Und sie lachen in ihrer weltfremden Adlereinsamkeit. Sie lachen und verachten. So sind die Großen, die Größten." Aber trotz alledem, daß sie wisse», daß „das Weib der Fluch der Erde ist," fallen sie in einer oder der andern Weise diesem Fluch anheim, selbst der gewaltige und reine Henry Jorck schließt mit einem bösartigen Schlnngenwcib und Zwitterwesen, einer ausbeuterischen Kreatur Freundschaft, die aus Grimm, daß diese Freundschaft uicht Liebe in ihrem schmutzigen Sinne werden will, „das Lebenswerk eines Großen vernichtet." Dem Verfasser der „Tollen Novellen" erscheinen alle diese wahren oder erträumten Schicksale tief tragisch; den unbefangnen Leser wandelt das Bedauern an, daß Gottfried Keller zu früh gestorben ist, um einige von den Großen und Größten dieses Schlags unter die unsterblichen Seldwyler einzureihen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/228>, abgerufen am 23.05.2024.