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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

testantische Prälaten haben sich in das Parteigetriebe gemischt und versucht,
durch einen auf Religion gegründeten Gegensozicilismus den Brand zu löschen.
Die erstern Versuche haben die Unzufriedenheit nicht gemindert, sondern die
Massen nur um so begehrlicher gemacht, und der letzte Versuch mit der Haar¬
spalterei zwischen "sozial" und "sozialistisch" war zu lächerlich, um eine ernst¬
hafte Kritik zu ertragen.

Nun, sehen wir uns doch einmal in der Geschichte um! Was thaten denn
die Römer, als ihre Proletarier unruhig wurden? Sie gaben Ackergesetze,
gründeten Kolonien und verteilten Ländereien. Sie begünstigten die Auswan¬
derung, begünstigten den jedem Menschen innewohnenden Trieb, sich eine freie
Heimstätte auf eigner Scholle zu gründen. Sie ermutigten die Auswanderung
mehr, als daß sie ihr chikauöse Hindernisse von Polizei- und Verwaltungs¬
behörden in den Weg gelegt hätten. Sie beschenkten verdienstvolle Leute,
tapfere Soldaten, Generale, gute Beamte mit freiem Grundbesitz in ihren
Kolonien, und sie fürchteten nicht, daß die Auswanderung ihre Wehrkraft be¬
einträchtigen würde, denn sie erkannten, daß sich die Einnahmen des Reichs
in dem Maße erhöhen würden, als freie Römer in den Kolonien ansässig
wären. Sie betrachteten das an ihre Kolonien abgegebne lebende Menschen¬
kapital als ein Kapital, das sich reichlich verzinste, und als die natürliche
Wehrkraft der Kolonien.

Da nun einmal die Einrichtungen, Gesetze und Thaten der alten Römer
den Deutschen bekannter sind als die Thaten kolonisirender deutscher Kaiser,
brandenburgischer Kurfürsten und preußischer Könige, so könnte man sich
doch schon an jenen klassischen Heiden ein Beispiel nehmen. Jetzt haben wir
Kolonien, und es ist nicht mehr nötig, daß die Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika oder die australischen Kolonien als Blutegel an deutscher Volks- und
Wehrkraft zehren. Anstatt mit englischem Kapital flott gemachten "deutschen"
Spekulatiousgesellschafteu große Länderstrecken zu überlassen, sollte man mit
vollen Händen Land um Leute geben, kostenfrei geben, die ihrer Wehrpflicht
genügt haben, selbst wenn man den Unbemittelten unter ihnen das für den
ersten Anfang erforderliche Kapital auf einige Jahre ganz zinsenfrei und von
da ab zu billigem Zinsfuß bei kleiner jährlicher Tilgung überließe. Mau mache
doch nur einen Versuch! Der Verlust an Wehrkraft würde sich dadurch aus¬
gleichen, daß diese Leute, wenn nur in zusammenliegenden Landstrecken ange¬
siedelt, der beste Ersatz für eine Schutztruppe sein würden, die jetzt dem Reiche
jährlich viele Tausende kostet. Mau brauchte ja nicht anfangs gleich Tausende
von Reservisten auf diese Weise jährlich anzusiedeln, vielleicht nur von jedem
Regiment einen Mann, sodaß man erst einen Kern von 'Ansiedlern schaffte.
Hätte man gefunden, daß sich das Mittel bewährte, daß die mit Land be¬
schenkten es erreichten, sich ein Heim zu gründen, dann könnte man nach einem
b's zwei Jahren auf den gewonnenen Erfahrungen weiterbauen, man könnte


Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage

testantische Prälaten haben sich in das Parteigetriebe gemischt und versucht,
durch einen auf Religion gegründeten Gegensozicilismus den Brand zu löschen.
Die erstern Versuche haben die Unzufriedenheit nicht gemindert, sondern die
Massen nur um so begehrlicher gemacht, und der letzte Versuch mit der Haar¬
spalterei zwischen „sozial" und „sozialistisch" war zu lächerlich, um eine ernst¬
hafte Kritik zu ertragen.

Nun, sehen wir uns doch einmal in der Geschichte um! Was thaten denn
die Römer, als ihre Proletarier unruhig wurden? Sie gaben Ackergesetze,
gründeten Kolonien und verteilten Ländereien. Sie begünstigten die Auswan¬
derung, begünstigten den jedem Menschen innewohnenden Trieb, sich eine freie
Heimstätte auf eigner Scholle zu gründen. Sie ermutigten die Auswanderung
mehr, als daß sie ihr chikauöse Hindernisse von Polizei- und Verwaltungs¬
behörden in den Weg gelegt hätten. Sie beschenkten verdienstvolle Leute,
tapfere Soldaten, Generale, gute Beamte mit freiem Grundbesitz in ihren
Kolonien, und sie fürchteten nicht, daß die Auswanderung ihre Wehrkraft be¬
einträchtigen würde, denn sie erkannten, daß sich die Einnahmen des Reichs
in dem Maße erhöhen würden, als freie Römer in den Kolonien ansässig
wären. Sie betrachteten das an ihre Kolonien abgegebne lebende Menschen¬
kapital als ein Kapital, das sich reichlich verzinste, und als die natürliche
Wehrkraft der Kolonien.

Da nun einmal die Einrichtungen, Gesetze und Thaten der alten Römer
den Deutschen bekannter sind als die Thaten kolonisirender deutscher Kaiser,
brandenburgischer Kurfürsten und preußischer Könige, so könnte man sich
doch schon an jenen klassischen Heiden ein Beispiel nehmen. Jetzt haben wir
Kolonien, und es ist nicht mehr nötig, daß die Vereinigten Staaten von Nord¬
amerika oder die australischen Kolonien als Blutegel an deutscher Volks- und
Wehrkraft zehren. Anstatt mit englischem Kapital flott gemachten „deutschen"
Spekulatiousgesellschafteu große Länderstrecken zu überlassen, sollte man mit
vollen Händen Land um Leute geben, kostenfrei geben, die ihrer Wehrpflicht
genügt haben, selbst wenn man den Unbemittelten unter ihnen das für den
ersten Anfang erforderliche Kapital auf einige Jahre ganz zinsenfrei und von
da ab zu billigem Zinsfuß bei kleiner jährlicher Tilgung überließe. Mau mache
doch nur einen Versuch! Der Verlust an Wehrkraft würde sich dadurch aus¬
gleichen, daß diese Leute, wenn nur in zusammenliegenden Landstrecken ange¬
siedelt, der beste Ersatz für eine Schutztruppe sein würden, die jetzt dem Reiche
jährlich viele Tausende kostet. Mau brauchte ja nicht anfangs gleich Tausende
von Reservisten auf diese Weise jährlich anzusiedeln, vielleicht nur von jedem
Regiment einen Mann, sodaß man erst einen Kern von 'Ansiedlern schaffte.
Hätte man gefunden, daß sich das Mittel bewährte, daß die mit Land be¬
schenkten es erreichten, sich ein Heim zu gründen, dann könnte man nach einem
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[0261] Beitrag eines deutschen Kolonisten zur Lösung der sozialen Frage testantische Prälaten haben sich in das Parteigetriebe gemischt und versucht, durch einen auf Religion gegründeten Gegensozicilismus den Brand zu löschen. Die erstern Versuche haben die Unzufriedenheit nicht gemindert, sondern die Massen nur um so begehrlicher gemacht, und der letzte Versuch mit der Haar¬ spalterei zwischen „sozial" und „sozialistisch" war zu lächerlich, um eine ernst¬ hafte Kritik zu ertragen. Nun, sehen wir uns doch einmal in der Geschichte um! Was thaten denn die Römer, als ihre Proletarier unruhig wurden? Sie gaben Ackergesetze, gründeten Kolonien und verteilten Ländereien. Sie begünstigten die Auswan¬ derung, begünstigten den jedem Menschen innewohnenden Trieb, sich eine freie Heimstätte auf eigner Scholle zu gründen. Sie ermutigten die Auswanderung mehr, als daß sie ihr chikauöse Hindernisse von Polizei- und Verwaltungs¬ behörden in den Weg gelegt hätten. Sie beschenkten verdienstvolle Leute, tapfere Soldaten, Generale, gute Beamte mit freiem Grundbesitz in ihren Kolonien, und sie fürchteten nicht, daß die Auswanderung ihre Wehrkraft be¬ einträchtigen würde, denn sie erkannten, daß sich die Einnahmen des Reichs in dem Maße erhöhen würden, als freie Römer in den Kolonien ansässig wären. Sie betrachteten das an ihre Kolonien abgegebne lebende Menschen¬ kapital als ein Kapital, das sich reichlich verzinste, und als die natürliche Wehrkraft der Kolonien. Da nun einmal die Einrichtungen, Gesetze und Thaten der alten Römer den Deutschen bekannter sind als die Thaten kolonisirender deutscher Kaiser, brandenburgischer Kurfürsten und preußischer Könige, so könnte man sich doch schon an jenen klassischen Heiden ein Beispiel nehmen. Jetzt haben wir Kolonien, und es ist nicht mehr nötig, daß die Vereinigten Staaten von Nord¬ amerika oder die australischen Kolonien als Blutegel an deutscher Volks- und Wehrkraft zehren. Anstatt mit englischem Kapital flott gemachten „deutschen" Spekulatiousgesellschafteu große Länderstrecken zu überlassen, sollte man mit vollen Händen Land um Leute geben, kostenfrei geben, die ihrer Wehrpflicht genügt haben, selbst wenn man den Unbemittelten unter ihnen das für den ersten Anfang erforderliche Kapital auf einige Jahre ganz zinsenfrei und von da ab zu billigem Zinsfuß bei kleiner jährlicher Tilgung überließe. Mau mache doch nur einen Versuch! Der Verlust an Wehrkraft würde sich dadurch aus¬ gleichen, daß diese Leute, wenn nur in zusammenliegenden Landstrecken ange¬ siedelt, der beste Ersatz für eine Schutztruppe sein würden, die jetzt dem Reiche jährlich viele Tausende kostet. Mau brauchte ja nicht anfangs gleich Tausende von Reservisten auf diese Weise jährlich anzusiedeln, vielleicht nur von jedem Regiment einen Mann, sodaß man erst einen Kern von 'Ansiedlern schaffte. Hätte man gefunden, daß sich das Mittel bewährte, daß die mit Land be¬ schenkten es erreichten, sich ein Heim zu gründen, dann könnte man nach einem b's zwei Jahren auf den gewonnenen Erfahrungen weiterbauen, man könnte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/261>, abgerufen am 16.06.2024.