Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unser Irrenwesen

werden sollten, ihre Worte sind damals ungehört verhallt; mögen sie jetzt
willigere Ohren finden.

Es giebt in Deutschland noch Leute genug, die nur in dem Geistlichen
den berufnen Arzt des Geisteskranken sehen; namentlich unter den Seelsorgern
selbst ist diese Ansicht verbreitet. Sie stützt sich zum Teil auf die geschicht¬
liche Überlieferung, wonach die Jrrenpflege schon in einer Zeit, wo sich die
Ärzte noch nicht um sie bekümmerten, von geistlichen Orden gehandhabt wurde.
Aber die Pflege der Körperkranken hat sich aus ähnlichen Ansangen entwickelt,
und doch steht sie schon längst unter der ausschließlichen Oberaufsicht der
Ärzte. Der gleichen Entwicklung der Dinge auf dem Gebiete der Jrrenvflege
steht aber noch eine grundsätzliche Verteidigung entgegen, die in dem Geist¬
lichen den Vormund und Arzt der Geisteskranken sieht. Aber sie beruht auf
einem trügerischen Spiel mit Begriffen. Der Seelsorger, meint man, müsse
auch besonders geeignet sein, die Störungen der Seele zu bekämpfen. Dem¬
entsprechend macht man sich einen Begriff von der Seelenstörung zurecht, der
mit der Wirklichkeit nichts zu thun hat. Man faßt Seelenstörung im geist¬
lichen Sinne und versteht darunter eine sündhafte Besessenheit der Seele. Man
vergleicht das Thun und Lassen eines Kranken mit dem, was Religion und
gute Sitte vorschreiben, und wünscht ihn, wo er hiervon abzuweichen scheint,
durch geistlichen Zuspruch und durch mehr oder weniger gelinden Zwang wieder
ans den rechten Weg geführt zu sehen. Aber diese Vergleiche sind ganz ober¬
flächlich und die darauf gestützten Heilversuche völlig nutzlos, gelegentlich sogar
schädlich und auf jeden Fall eine Qual für deu Kranken. In Wahrheit handelt
es sich gar nicht um eine sittliche Zerrüttung, die von geistlicher Lehre und
Mahnung erzieherisch beeinflußt werden könnte, sondern Geisteskrankheiten sind
Störungen der elementarsten geistigen Verrichtungen, Störungen der Wahr¬
nehmung, des Denkens und des Wollens. Eine Geisteskrankheit ergreift Körper
und Geist des Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Stromes,
wirbelt ihn umher und reißt ihn in vorgezeichneter Richtung mit sich fort.
Was nützt da alles täppische Eingreifen in den Verlauf der Bewußtseinsvor-
gänge? Es klammert sich an die äußern Zeichen des Leidens, die Handlungen
und Worte; auf die innern Ursachen kann nur eine sachkundige Behandlung
einwirken, die sich auf den ganzen Menschen, den Körper wie den Geist
erstreckt.

Leider haben gerade in neuester Zeit die verschiednen Bundesstaaten und
die preußischen Provinzen ihre Kranken mehr als früher geistlichen Anstalten
anvertraut. Sie nehmen an Zahl und Umfang ganz beträchtlich zu. Zu den
Anstalten katholischer Orden sind auch evangelische Pflegehäuser getreten, von
denen das des Pfarrers von Bodelschwingh in Bielefeld am bekanntesten ist.
Man muß diesem Manne die Anerkennung zollen, daß er einer der ersten ge¬
wesen ist, der sich der Epileptischen angenommen hat zu einer Zeit, wo sich


Unser Irrenwesen

werden sollten, ihre Worte sind damals ungehört verhallt; mögen sie jetzt
willigere Ohren finden.

Es giebt in Deutschland noch Leute genug, die nur in dem Geistlichen
den berufnen Arzt des Geisteskranken sehen; namentlich unter den Seelsorgern
selbst ist diese Ansicht verbreitet. Sie stützt sich zum Teil auf die geschicht¬
liche Überlieferung, wonach die Jrrenpflege schon in einer Zeit, wo sich die
Ärzte noch nicht um sie bekümmerten, von geistlichen Orden gehandhabt wurde.
Aber die Pflege der Körperkranken hat sich aus ähnlichen Ansangen entwickelt,
und doch steht sie schon längst unter der ausschließlichen Oberaufsicht der
Ärzte. Der gleichen Entwicklung der Dinge auf dem Gebiete der Jrrenvflege
steht aber noch eine grundsätzliche Verteidigung entgegen, die in dem Geist¬
lichen den Vormund und Arzt der Geisteskranken sieht. Aber sie beruht auf
einem trügerischen Spiel mit Begriffen. Der Seelsorger, meint man, müsse
auch besonders geeignet sein, die Störungen der Seele zu bekämpfen. Dem¬
entsprechend macht man sich einen Begriff von der Seelenstörung zurecht, der
mit der Wirklichkeit nichts zu thun hat. Man faßt Seelenstörung im geist¬
lichen Sinne und versteht darunter eine sündhafte Besessenheit der Seele. Man
vergleicht das Thun und Lassen eines Kranken mit dem, was Religion und
gute Sitte vorschreiben, und wünscht ihn, wo er hiervon abzuweichen scheint,
durch geistlichen Zuspruch und durch mehr oder weniger gelinden Zwang wieder
ans den rechten Weg geführt zu sehen. Aber diese Vergleiche sind ganz ober¬
flächlich und die darauf gestützten Heilversuche völlig nutzlos, gelegentlich sogar
schädlich und auf jeden Fall eine Qual für deu Kranken. In Wahrheit handelt
es sich gar nicht um eine sittliche Zerrüttung, die von geistlicher Lehre und
Mahnung erzieherisch beeinflußt werden könnte, sondern Geisteskrankheiten sind
Störungen der elementarsten geistigen Verrichtungen, Störungen der Wahr¬
nehmung, des Denkens und des Wollens. Eine Geisteskrankheit ergreift Körper
und Geist des Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Stromes,
wirbelt ihn umher und reißt ihn in vorgezeichneter Richtung mit sich fort.
Was nützt da alles täppische Eingreifen in den Verlauf der Bewußtseinsvor-
gänge? Es klammert sich an die äußern Zeichen des Leidens, die Handlungen
und Worte; auf die innern Ursachen kann nur eine sachkundige Behandlung
einwirken, die sich auf den ganzen Menschen, den Körper wie den Geist
erstreckt.

Leider haben gerade in neuester Zeit die verschiednen Bundesstaaten und
die preußischen Provinzen ihre Kranken mehr als früher geistlichen Anstalten
anvertraut. Sie nehmen an Zahl und Umfang ganz beträchtlich zu. Zu den
Anstalten katholischer Orden sind auch evangelische Pflegehäuser getreten, von
denen das des Pfarrers von Bodelschwingh in Bielefeld am bekanntesten ist.
Man muß diesem Manne die Anerkennung zollen, daß er einer der ersten ge¬
wesen ist, der sich der Epileptischen angenommen hat zu einer Zeit, wo sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0264" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220590"/>
            <fw type="header" place="top"> Unser Irrenwesen</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1105" prev="#ID_1104"> werden sollten, ihre Worte sind damals ungehört verhallt; mögen sie jetzt<lb/>
willigere Ohren finden.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1106"> Es giebt in Deutschland noch Leute genug, die nur in dem Geistlichen<lb/>
den berufnen Arzt des Geisteskranken sehen; namentlich unter den Seelsorgern<lb/>
selbst ist diese Ansicht verbreitet. Sie stützt sich zum Teil auf die geschicht¬<lb/>
liche Überlieferung, wonach die Jrrenpflege schon in einer Zeit, wo sich die<lb/>
Ärzte noch nicht um sie bekümmerten, von geistlichen Orden gehandhabt wurde.<lb/>
Aber die Pflege der Körperkranken hat sich aus ähnlichen Ansangen entwickelt,<lb/>
und doch steht sie schon längst unter der ausschließlichen Oberaufsicht der<lb/>
Ärzte. Der gleichen Entwicklung der Dinge auf dem Gebiete der Jrrenvflege<lb/>
steht aber noch eine grundsätzliche Verteidigung entgegen, die in dem Geist¬<lb/>
lichen den Vormund und Arzt der Geisteskranken sieht. Aber sie beruht auf<lb/>
einem trügerischen Spiel mit Begriffen. Der Seelsorger, meint man, müsse<lb/>
auch besonders geeignet sein, die Störungen der Seele zu bekämpfen. Dem¬<lb/>
entsprechend macht man sich einen Begriff von der Seelenstörung zurecht, der<lb/>
mit der Wirklichkeit nichts zu thun hat. Man faßt Seelenstörung im geist¬<lb/>
lichen Sinne und versteht darunter eine sündhafte Besessenheit der Seele. Man<lb/>
vergleicht das Thun und Lassen eines Kranken mit dem, was Religion und<lb/>
gute Sitte vorschreiben, und wünscht ihn, wo er hiervon abzuweichen scheint,<lb/>
durch geistlichen Zuspruch und durch mehr oder weniger gelinden Zwang wieder<lb/>
ans den rechten Weg geführt zu sehen. Aber diese Vergleiche sind ganz ober¬<lb/>
flächlich und die darauf gestützten Heilversuche völlig nutzlos, gelegentlich sogar<lb/>
schädlich und auf jeden Fall eine Qual für deu Kranken. In Wahrheit handelt<lb/>
es sich gar nicht um eine sittliche Zerrüttung, die von geistlicher Lehre und<lb/>
Mahnung erzieherisch beeinflußt werden könnte, sondern Geisteskrankheiten sind<lb/>
Störungen der elementarsten geistigen Verrichtungen, Störungen der Wahr¬<lb/>
nehmung, des Denkens und des Wollens. Eine Geisteskrankheit ergreift Körper<lb/>
und Geist des Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Stromes,<lb/>
wirbelt ihn umher und reißt ihn in vorgezeichneter Richtung mit sich fort.<lb/>
Was nützt da alles täppische Eingreifen in den Verlauf der Bewußtseinsvor-<lb/>
gänge? Es klammert sich an die äußern Zeichen des Leidens, die Handlungen<lb/>
und Worte; auf die innern Ursachen kann nur eine sachkundige Behandlung<lb/>
einwirken, die sich auf den ganzen Menschen, den Körper wie den Geist<lb/>
erstreckt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1107" next="#ID_1108"> Leider haben gerade in neuester Zeit die verschiednen Bundesstaaten und<lb/>
die preußischen Provinzen ihre Kranken mehr als früher geistlichen Anstalten<lb/>
anvertraut. Sie nehmen an Zahl und Umfang ganz beträchtlich zu. Zu den<lb/>
Anstalten katholischer Orden sind auch evangelische Pflegehäuser getreten, von<lb/>
denen das des Pfarrers von Bodelschwingh in Bielefeld am bekanntesten ist.<lb/>
Man muß diesem Manne die Anerkennung zollen, daß er einer der ersten ge¬<lb/>
wesen ist, der sich der Epileptischen angenommen hat zu einer Zeit, wo sich</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0264] Unser Irrenwesen werden sollten, ihre Worte sind damals ungehört verhallt; mögen sie jetzt willigere Ohren finden. Es giebt in Deutschland noch Leute genug, die nur in dem Geistlichen den berufnen Arzt des Geisteskranken sehen; namentlich unter den Seelsorgern selbst ist diese Ansicht verbreitet. Sie stützt sich zum Teil auf die geschicht¬ liche Überlieferung, wonach die Jrrenpflege schon in einer Zeit, wo sich die Ärzte noch nicht um sie bekümmerten, von geistlichen Orden gehandhabt wurde. Aber die Pflege der Körperkranken hat sich aus ähnlichen Ansangen entwickelt, und doch steht sie schon längst unter der ausschließlichen Oberaufsicht der Ärzte. Der gleichen Entwicklung der Dinge auf dem Gebiete der Jrrenvflege steht aber noch eine grundsätzliche Verteidigung entgegen, die in dem Geist¬ lichen den Vormund und Arzt der Geisteskranken sieht. Aber sie beruht auf einem trügerischen Spiel mit Begriffen. Der Seelsorger, meint man, müsse auch besonders geeignet sein, die Störungen der Seele zu bekämpfen. Dem¬ entsprechend macht man sich einen Begriff von der Seelenstörung zurecht, der mit der Wirklichkeit nichts zu thun hat. Man faßt Seelenstörung im geist¬ lichen Sinne und versteht darunter eine sündhafte Besessenheit der Seele. Man vergleicht das Thun und Lassen eines Kranken mit dem, was Religion und gute Sitte vorschreiben, und wünscht ihn, wo er hiervon abzuweichen scheint, durch geistlichen Zuspruch und durch mehr oder weniger gelinden Zwang wieder ans den rechten Weg geführt zu sehen. Aber diese Vergleiche sind ganz ober¬ flächlich und die darauf gestützten Heilversuche völlig nutzlos, gelegentlich sogar schädlich und auf jeden Fall eine Qual für deu Kranken. In Wahrheit handelt es sich gar nicht um eine sittliche Zerrüttung, die von geistlicher Lehre und Mahnung erzieherisch beeinflußt werden könnte, sondern Geisteskrankheiten sind Störungen der elementarsten geistigen Verrichtungen, Störungen der Wahr¬ nehmung, des Denkens und des Wollens. Eine Geisteskrankheit ergreift Körper und Geist des Menschen mit der unwiderstehlichen Gewalt eines Stromes, wirbelt ihn umher und reißt ihn in vorgezeichneter Richtung mit sich fort. Was nützt da alles täppische Eingreifen in den Verlauf der Bewußtseinsvor- gänge? Es klammert sich an die äußern Zeichen des Leidens, die Handlungen und Worte; auf die innern Ursachen kann nur eine sachkundige Behandlung einwirken, die sich auf den ganzen Menschen, den Körper wie den Geist erstreckt. Leider haben gerade in neuester Zeit die verschiednen Bundesstaaten und die preußischen Provinzen ihre Kranken mehr als früher geistlichen Anstalten anvertraut. Sie nehmen an Zahl und Umfang ganz beträchtlich zu. Zu den Anstalten katholischer Orden sind auch evangelische Pflegehäuser getreten, von denen das des Pfarrers von Bodelschwingh in Bielefeld am bekanntesten ist. Man muß diesem Manne die Anerkennung zollen, daß er einer der ersten ge¬ wesen ist, der sich der Epileptischen angenommen hat zu einer Zeit, wo sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/264
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/264>, abgerufen am 16.06.2024.