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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Unser Irreiiwesen

der Staat dieser Verpflichtung noch entzog. Zu bedauern ist es aber, daß
Bodelschwingh zugleich der Vorkämpfer der eben entwickelten falschen Auffassung
der Seelenstörung wurde.

Für den Jrrenarzt ist es oberster Grundsatz, daß der Geisteskranke für
keine seiner Handlungen verantwortlich gemacht werden darf, gleichviel, ob sich
die Gründe seines Handelns im einzelnen Falle aus der Krankheit herleiten
lassen oder nicht. Viele Handlungen Geisteskranker gehen allerdings aus ganz
normalen Erwägungen hervor, aber ganz abgesehen davon, daß wir nicht
immer einen genügenden Einblick in das Seelenleben haben, um den Zu¬
sammenhang richtig zu deuten, würde eine Strase auf einen Kranken seiner
ganzen geistigen Verfassung wegen nicht in gleicher Weise einwirken wie auf
einen Gesunden. Auch für die Behandlung der Seelenstörung hält der
Jrrenarzt diese Unterscheidung nicht in jedem Falle sür wesentlich. Die krank¬
haften geistigen Äußerungen sind ihm Anzeichen einer bestehenden Geisteskrank¬
heit, aber nicht die Krankheit selbst. Es kommt ihm nur darauf an, aus
einer hinreichenden Zahl solcher Anzeichen einen sichern Schluß auf das Leiden
zu gewinnen und immer wieder zu erneuern, seine Behandlung wendet sich
aber gegen das Grundübel und nicht gegen die einzelnen Krankheitszeichen.
Der Anfang jeder Behandlung besteht darin, dem Kranken körperliche und
geistige Ruhe zu verschaffen. Statt geistig auf ihn einzuwirken, wird der Arzt
daher den geistigen Verkehr mit ihm einschränken und so vorsichtig handhaben,
daß jede schädliche Aufregung wegbleibt. Bei den krankhaften Gedanken wird
er nicht mehr als nötig verweilen, sie lassen sich nicht unmittelbar bekämpfen,
sie kommen und gehen mit ihren tiefern Ursachen, und diesen ist nur mit einer
allgemeinen Behandlung beizukommen. Hat sie den gewünschten Erfolg, dann
wird man den Geist langsam wieder zur normalen Thätigkeit anregen, indem
man zuerst mit der Anleitung zu mechanischen Beschäftigungen beginnt und erst
später höhere geistige Thätigkeiten folgen läßt.

Das gerade Gegenteil dieser Behandlungsart ist ein Vorgehen, das sich
an die krankhaften Äußerungen des Geistes hält und sie unmittelbar durch
Zureden oder womöglich durch Strafen zu beeinflussen sucht. Die psychiatrische
Wissenschaft untersagt, wie bekannt, alle Straf- und Zuchtmittel. Man darf
hierunter aber nicht nur gröbere Strafmittel verstehen, wie schlüge, Nahrungs¬
entziehung und Einsperrung, nein, auch Vorwürfe, Ermahnungen und Zurecht¬
weisungen sind zwar weniger roh, aber genau so unzulässig. Sie beruhen im
Grunde genommen auf derselben Anschauungsweise, die dem Geisteskranken sein
Thun zur Last legt, als wäre er ein Gesunder. Es ist gar nicht so leicht,
sich von dieser falschen Auffassung freizuhalten. Es genügt z. B. nicht, An¬
griffe und Beschimpfungen von einem Kranken gelassen hinzunehmen, ohne sie
zu erwidern, man hat nicht einmal ein Recht, sich innerlich über ihn zu ent¬
rüsten. Ein Kranker, der sich an seinem Arzte oder Pfleger vergreift, braucht


Grenzboten III 1895
Unser Irreiiwesen

der Staat dieser Verpflichtung noch entzog. Zu bedauern ist es aber, daß
Bodelschwingh zugleich der Vorkämpfer der eben entwickelten falschen Auffassung
der Seelenstörung wurde.

Für den Jrrenarzt ist es oberster Grundsatz, daß der Geisteskranke für
keine seiner Handlungen verantwortlich gemacht werden darf, gleichviel, ob sich
die Gründe seines Handelns im einzelnen Falle aus der Krankheit herleiten
lassen oder nicht. Viele Handlungen Geisteskranker gehen allerdings aus ganz
normalen Erwägungen hervor, aber ganz abgesehen davon, daß wir nicht
immer einen genügenden Einblick in das Seelenleben haben, um den Zu¬
sammenhang richtig zu deuten, würde eine Strase auf einen Kranken seiner
ganzen geistigen Verfassung wegen nicht in gleicher Weise einwirken wie auf
einen Gesunden. Auch für die Behandlung der Seelenstörung hält der
Jrrenarzt diese Unterscheidung nicht in jedem Falle sür wesentlich. Die krank¬
haften geistigen Äußerungen sind ihm Anzeichen einer bestehenden Geisteskrank¬
heit, aber nicht die Krankheit selbst. Es kommt ihm nur darauf an, aus
einer hinreichenden Zahl solcher Anzeichen einen sichern Schluß auf das Leiden
zu gewinnen und immer wieder zu erneuern, seine Behandlung wendet sich
aber gegen das Grundübel und nicht gegen die einzelnen Krankheitszeichen.
Der Anfang jeder Behandlung besteht darin, dem Kranken körperliche und
geistige Ruhe zu verschaffen. Statt geistig auf ihn einzuwirken, wird der Arzt
daher den geistigen Verkehr mit ihm einschränken und so vorsichtig handhaben,
daß jede schädliche Aufregung wegbleibt. Bei den krankhaften Gedanken wird
er nicht mehr als nötig verweilen, sie lassen sich nicht unmittelbar bekämpfen,
sie kommen und gehen mit ihren tiefern Ursachen, und diesen ist nur mit einer
allgemeinen Behandlung beizukommen. Hat sie den gewünschten Erfolg, dann
wird man den Geist langsam wieder zur normalen Thätigkeit anregen, indem
man zuerst mit der Anleitung zu mechanischen Beschäftigungen beginnt und erst
später höhere geistige Thätigkeiten folgen läßt.

Das gerade Gegenteil dieser Behandlungsart ist ein Vorgehen, das sich
an die krankhaften Äußerungen des Geistes hält und sie unmittelbar durch
Zureden oder womöglich durch Strafen zu beeinflussen sucht. Die psychiatrische
Wissenschaft untersagt, wie bekannt, alle Straf- und Zuchtmittel. Man darf
hierunter aber nicht nur gröbere Strafmittel verstehen, wie schlüge, Nahrungs¬
entziehung und Einsperrung, nein, auch Vorwürfe, Ermahnungen und Zurecht¬
weisungen sind zwar weniger roh, aber genau so unzulässig. Sie beruhen im
Grunde genommen auf derselben Anschauungsweise, die dem Geisteskranken sein
Thun zur Last legt, als wäre er ein Gesunder. Es ist gar nicht so leicht,
sich von dieser falschen Auffassung freizuhalten. Es genügt z. B. nicht, An¬
griffe und Beschimpfungen von einem Kranken gelassen hinzunehmen, ohne sie
zu erwidern, man hat nicht einmal ein Recht, sich innerlich über ihn zu ent¬
rüsten. Ein Kranker, der sich an seinem Arzte oder Pfleger vergreift, braucht


Grenzboten III 1895
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/265>, abgerufen am 16.06.2024.