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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Unser Irrenwesen

deshalb noch keinen gewaltthätigen Charakter zu haben, rohe und gemeine Worte,
die ein Kranker ausstößt, berechtigen nicht, auf eine gemeine Gesinnung zu
schließen. Jeder Jrrenarzt hat Gelegenheit, zu beobachten, wie feingebildete
Frauen von sanfter Gemütsart dnrch eine geistige Erkrankung zeitweilig so
verwandelt werden, daß sie sich wie die rohesten Dirnen benehmen, und wie
solche Zustände dann wieder spurlos verschwinden. Nicht selten bleibt den
Genesenden eine ziemlich gute Erinnerung ihrer Aufregungszustände, deren
Krankhaftigkeit sie jetzt erkennen; wenn sie dann der Vorwürfe gedenken, die
ihnen damals gemacht worden sind, so können sie noch nachträglich darüber
schwer bekümmert und in ihrer Genesung aufgehalten werden. Es giebt aber
auch Kranke, die umgekehrt den Arzt tief beschämen, dadurch, daß sie ihm sein
unrichtiges Benehmen vorhalten, mochte es auch nur in einem unangebrachter
Lächeln oder in einem ärgerlichen Worte bestanden haben. Andrerseits thun
Geisteskranke vieles ganz ohne bewußte Überlegung, ihre Handlungen gehen
tricbartig vor sich. Zu diesen Handlungen gehören oft auch die Reden der
Kranken. Es ist daher ganz verfehlt, hinter ihren Worten immer denselben
Sinn anzunehmen, den sie im Munde eines Gesunden haben würden. Ein
Beispiel zur Verdeutlichung: es sind Krankheitszustände beobachtet worden,
wo die Kranken mit allen Zeichen einer großen Angst behaftet waren; sie
klagten jammernd über Angst, liefen unruhig umher, zitterten und bebten. Dabei
hatten sie aber in Wirklichkeit gar keine Angst: es fehlt ihnen trotz aller äußern
Zeichen das entsprechende innere Gefühl. Man sieht hieraus, wie vorsichtig
mau in der Beurteilung aller seelischen Äußerungen Geisteskranker sein muß.

Das Wohlbefinden der Geisteskranken wird überhaupt weniger durch ein¬
zelne unmittelbar auf Heilung lossteuernde Eingriffe befördert, als vielmehr
durch den Geist, der die ganze Pflege erfüllt. Diesen Geist rechter Kranken¬
pflege kann nur der Arzt verbreiten. Ich denke nicht gering von der aus
wahrer Frömmigkeit fließenden barmherzigen Liebe, aber ich meine, daß sie am
Kranken nur wirksam werden kann, wenn ihr Sachkunde die richtigen Wege
weist. Mit einer Frömmigkeit, die sich in religiösen Betrachtungen ergeht,
kann man sich leicht um Kranken versündigen, statt ihm zu nützen. Viele
Kranke werden durch Gebete und religiöse Gespräche erregt, besonders gewisse
Melancholische, die gerade Wahnideen religiösen Inhalts hegen, sich selbst der
Sünde zeihen und die Auflegung von Bußen fordern. Es wäre völlig ver¬
fehlt, auf ihre Gedanken einzugehen und irgend etwas an ihnen als Selbst¬
einkehr anzuerkennen; nnr dadurch, daß man sie rundweg für Erzeugnisse ihrer
Krankheit erklärt, gewährt man den Kranken einige Erleichterung und Be¬
ruhigung. Nur die Erkenntnis der in ihrem Wesen so verschiedenartigen
Geistesstörungen verleiht dem Arzte die überlegne Sicherheit des Auftretens,
die dem Kranken Vertrauen einflößt und ihm wohlthut. Der Arzt kann zu¬
weilen durch sein bloßes Benehmen ohne viele Worte die Aufregung eines


Unser Irrenwesen

deshalb noch keinen gewaltthätigen Charakter zu haben, rohe und gemeine Worte,
die ein Kranker ausstößt, berechtigen nicht, auf eine gemeine Gesinnung zu
schließen. Jeder Jrrenarzt hat Gelegenheit, zu beobachten, wie feingebildete
Frauen von sanfter Gemütsart dnrch eine geistige Erkrankung zeitweilig so
verwandelt werden, daß sie sich wie die rohesten Dirnen benehmen, und wie
solche Zustände dann wieder spurlos verschwinden. Nicht selten bleibt den
Genesenden eine ziemlich gute Erinnerung ihrer Aufregungszustände, deren
Krankhaftigkeit sie jetzt erkennen; wenn sie dann der Vorwürfe gedenken, die
ihnen damals gemacht worden sind, so können sie noch nachträglich darüber
schwer bekümmert und in ihrer Genesung aufgehalten werden. Es giebt aber
auch Kranke, die umgekehrt den Arzt tief beschämen, dadurch, daß sie ihm sein
unrichtiges Benehmen vorhalten, mochte es auch nur in einem unangebrachter
Lächeln oder in einem ärgerlichen Worte bestanden haben. Andrerseits thun
Geisteskranke vieles ganz ohne bewußte Überlegung, ihre Handlungen gehen
tricbartig vor sich. Zu diesen Handlungen gehören oft auch die Reden der
Kranken. Es ist daher ganz verfehlt, hinter ihren Worten immer denselben
Sinn anzunehmen, den sie im Munde eines Gesunden haben würden. Ein
Beispiel zur Verdeutlichung: es sind Krankheitszustände beobachtet worden,
wo die Kranken mit allen Zeichen einer großen Angst behaftet waren; sie
klagten jammernd über Angst, liefen unruhig umher, zitterten und bebten. Dabei
hatten sie aber in Wirklichkeit gar keine Angst: es fehlt ihnen trotz aller äußern
Zeichen das entsprechende innere Gefühl. Man sieht hieraus, wie vorsichtig
mau in der Beurteilung aller seelischen Äußerungen Geisteskranker sein muß.

Das Wohlbefinden der Geisteskranken wird überhaupt weniger durch ein¬
zelne unmittelbar auf Heilung lossteuernde Eingriffe befördert, als vielmehr
durch den Geist, der die ganze Pflege erfüllt. Diesen Geist rechter Kranken¬
pflege kann nur der Arzt verbreiten. Ich denke nicht gering von der aus
wahrer Frömmigkeit fließenden barmherzigen Liebe, aber ich meine, daß sie am
Kranken nur wirksam werden kann, wenn ihr Sachkunde die richtigen Wege
weist. Mit einer Frömmigkeit, die sich in religiösen Betrachtungen ergeht,
kann man sich leicht um Kranken versündigen, statt ihm zu nützen. Viele
Kranke werden durch Gebete und religiöse Gespräche erregt, besonders gewisse
Melancholische, die gerade Wahnideen religiösen Inhalts hegen, sich selbst der
Sünde zeihen und die Auflegung von Bußen fordern. Es wäre völlig ver¬
fehlt, auf ihre Gedanken einzugehen und irgend etwas an ihnen als Selbst¬
einkehr anzuerkennen; nnr dadurch, daß man sie rundweg für Erzeugnisse ihrer
Krankheit erklärt, gewährt man den Kranken einige Erleichterung und Be¬
ruhigung. Nur die Erkenntnis der in ihrem Wesen so verschiedenartigen
Geistesstörungen verleiht dem Arzte die überlegne Sicherheit des Auftretens,
die dem Kranken Vertrauen einflößt und ihm wohlthut. Der Arzt kann zu¬
weilen durch sein bloßes Benehmen ohne viele Worte die Aufregung eines


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[0266] Unser Irrenwesen deshalb noch keinen gewaltthätigen Charakter zu haben, rohe und gemeine Worte, die ein Kranker ausstößt, berechtigen nicht, auf eine gemeine Gesinnung zu schließen. Jeder Jrrenarzt hat Gelegenheit, zu beobachten, wie feingebildete Frauen von sanfter Gemütsart dnrch eine geistige Erkrankung zeitweilig so verwandelt werden, daß sie sich wie die rohesten Dirnen benehmen, und wie solche Zustände dann wieder spurlos verschwinden. Nicht selten bleibt den Genesenden eine ziemlich gute Erinnerung ihrer Aufregungszustände, deren Krankhaftigkeit sie jetzt erkennen; wenn sie dann der Vorwürfe gedenken, die ihnen damals gemacht worden sind, so können sie noch nachträglich darüber schwer bekümmert und in ihrer Genesung aufgehalten werden. Es giebt aber auch Kranke, die umgekehrt den Arzt tief beschämen, dadurch, daß sie ihm sein unrichtiges Benehmen vorhalten, mochte es auch nur in einem unangebrachter Lächeln oder in einem ärgerlichen Worte bestanden haben. Andrerseits thun Geisteskranke vieles ganz ohne bewußte Überlegung, ihre Handlungen gehen tricbartig vor sich. Zu diesen Handlungen gehören oft auch die Reden der Kranken. Es ist daher ganz verfehlt, hinter ihren Worten immer denselben Sinn anzunehmen, den sie im Munde eines Gesunden haben würden. Ein Beispiel zur Verdeutlichung: es sind Krankheitszustände beobachtet worden, wo die Kranken mit allen Zeichen einer großen Angst behaftet waren; sie klagten jammernd über Angst, liefen unruhig umher, zitterten und bebten. Dabei hatten sie aber in Wirklichkeit gar keine Angst: es fehlt ihnen trotz aller äußern Zeichen das entsprechende innere Gefühl. Man sieht hieraus, wie vorsichtig mau in der Beurteilung aller seelischen Äußerungen Geisteskranker sein muß. Das Wohlbefinden der Geisteskranken wird überhaupt weniger durch ein¬ zelne unmittelbar auf Heilung lossteuernde Eingriffe befördert, als vielmehr durch den Geist, der die ganze Pflege erfüllt. Diesen Geist rechter Kranken¬ pflege kann nur der Arzt verbreiten. Ich denke nicht gering von der aus wahrer Frömmigkeit fließenden barmherzigen Liebe, aber ich meine, daß sie am Kranken nur wirksam werden kann, wenn ihr Sachkunde die richtigen Wege weist. Mit einer Frömmigkeit, die sich in religiösen Betrachtungen ergeht, kann man sich leicht um Kranken versündigen, statt ihm zu nützen. Viele Kranke werden durch Gebete und religiöse Gespräche erregt, besonders gewisse Melancholische, die gerade Wahnideen religiösen Inhalts hegen, sich selbst der Sünde zeihen und die Auflegung von Bußen fordern. Es wäre völlig ver¬ fehlt, auf ihre Gedanken einzugehen und irgend etwas an ihnen als Selbst¬ einkehr anzuerkennen; nnr dadurch, daß man sie rundweg für Erzeugnisse ihrer Krankheit erklärt, gewährt man den Kranken einige Erleichterung und Be¬ ruhigung. Nur die Erkenntnis der in ihrem Wesen so verschiedenartigen Geistesstörungen verleiht dem Arzte die überlegne Sicherheit des Auftretens, die dem Kranken Vertrauen einflößt und ihm wohlthut. Der Arzt kann zu¬ weilen durch sein bloßes Benehmen ohne viele Worte die Aufregung eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/266>, abgerufen am 16.06.2024.