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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Alte Leute

mehr. Keine Spur mehr von titanischen Trotz, der dem Schicksal heraus¬
fordernd die Stirn bietet. Man beugt sich vor jeder Notwendigkeit, vielleicht
noch mit saurer Miene und begehrlichen Schielen nach unerreichbar gewordnen
Früchten; aber man beugt sich doch und ist so klug, nicht mehr zu wollen,
was man nicht mehr kann.

Im übrigen aber: die gewohnten Geschäfte des Lebens leiden nicht. Als
stille Gehilfin tritt die Routine ein und erleichtert die Arbeit. Schon suchen
die Gedanken mit Vorliebe vertraute Bahnen; dennoch lernt man noch immer
weiter, dennoch vermag man noch immer, mit den geistigen Strömungen der
Zeit eine gewisse Fühlung zu behalten, und kann zuweilen, namentlich wenn
ein Glas alten Rheinweins die Herzthätigkeit erhöht hat, mit der Jugend
fühlen und empfinden.

Aber die Kutsche rollt unaufhaltsam weiter. Siebzig Jahr ein Greis --
heißt es in dem alten Spruche. Nun hilft kein Sträuben mehr: das Alter
ist da. Angepocht hat es oft genug, aber immer wieder hat es sich bescheiden
zurückgezogen, wenn es merkte, daß es noch nicht willkommen sei. Jetzt aber
bleibt es und richtet sich häuslich ein. Der Gast muß geduldet, ja der Ver¬
such muß gemacht werden, sich mit ihm zu befreunden.

Bei gutem Willen ist das nicht allzu schwer. Denn noch immer, wenn
auch die Wintersonne scheint, quillt das Leben aus geheimnisvollen Tiefen
zu, so unbegreiflich wie am ersten Tage. Langsamer freilich, wie aus teil¬
weise verstopften Röhren, aber es fließt doch noch und treibt das verwickelte
Werk. Die Augen sehen noch, die Ohren hören noch, und unzählige Fäden
verbinden noch das Innere mit der Welt. Allerdings gilt nun wohl meist
das Goethische Wort: "Wer lange lebt, hat viel erfahren, nichts Neues kann
für ihn auf dieser Welt geschehn." Aber doch nicht immer. Wären alte Leute
so eifrige Zeitungsleser, wenn sie damit nichts Neues erführen? Bau Allda
mit seinein "Es ist alles schon dagewesen" muß zu jener stumpfsinnigen
Sorte von Greisen gehört haben, die sür neue Eindrücke unempfindlich sind.
Es wäre doch eine traurige Weisheit, die in einem solchen Spruche enden
müßte. Wo bliebe da die Evolutionstheorie, dieser glänzende Erkenntnisblitz
der spekulirenden Wissenschaft, der den immerwährenden Fortschritt an ein
Naturgesetz gebunden zeigt? Nein, der Acker der Menschheit birgt noch
unzählige Keime, die nach einander treiben werden, je nachdem sie die
Wärme erreicht, und immer wird Neues geschehen, so lange Leben auf
der Erde ist.

Sollte aber der Greis des Treibens müde sein, sollte ihm schwindeln,
wenn er den Blick auf den Wirbel der Erscheinungen richtet, dann mag er
sich zu feinen Erinnerungen wenden. Wenn auch sein Leben, von außen be¬
trachtet, arm an bedeutenden Ereignissen gewesen ist, wenn auch einst der
Schreiber seines Nekrologs vielleicht mit einer guten Feder voll Tinte aus-


Gienzboten III 1895 36
Alte Leute

mehr. Keine Spur mehr von titanischen Trotz, der dem Schicksal heraus¬
fordernd die Stirn bietet. Man beugt sich vor jeder Notwendigkeit, vielleicht
noch mit saurer Miene und begehrlichen Schielen nach unerreichbar gewordnen
Früchten; aber man beugt sich doch und ist so klug, nicht mehr zu wollen,
was man nicht mehr kann.

Im übrigen aber: die gewohnten Geschäfte des Lebens leiden nicht. Als
stille Gehilfin tritt die Routine ein und erleichtert die Arbeit. Schon suchen
die Gedanken mit Vorliebe vertraute Bahnen; dennoch lernt man noch immer
weiter, dennoch vermag man noch immer, mit den geistigen Strömungen der
Zeit eine gewisse Fühlung zu behalten, und kann zuweilen, namentlich wenn
ein Glas alten Rheinweins die Herzthätigkeit erhöht hat, mit der Jugend
fühlen und empfinden.

Aber die Kutsche rollt unaufhaltsam weiter. Siebzig Jahr ein Greis —
heißt es in dem alten Spruche. Nun hilft kein Sträuben mehr: das Alter
ist da. Angepocht hat es oft genug, aber immer wieder hat es sich bescheiden
zurückgezogen, wenn es merkte, daß es noch nicht willkommen sei. Jetzt aber
bleibt es und richtet sich häuslich ein. Der Gast muß geduldet, ja der Ver¬
such muß gemacht werden, sich mit ihm zu befreunden.

Bei gutem Willen ist das nicht allzu schwer. Denn noch immer, wenn
auch die Wintersonne scheint, quillt das Leben aus geheimnisvollen Tiefen
zu, so unbegreiflich wie am ersten Tage. Langsamer freilich, wie aus teil¬
weise verstopften Röhren, aber es fließt doch noch und treibt das verwickelte
Werk. Die Augen sehen noch, die Ohren hören noch, und unzählige Fäden
verbinden noch das Innere mit der Welt. Allerdings gilt nun wohl meist
das Goethische Wort: „Wer lange lebt, hat viel erfahren, nichts Neues kann
für ihn auf dieser Welt geschehn." Aber doch nicht immer. Wären alte Leute
so eifrige Zeitungsleser, wenn sie damit nichts Neues erführen? Bau Allda
mit seinein „Es ist alles schon dagewesen" muß zu jener stumpfsinnigen
Sorte von Greisen gehört haben, die sür neue Eindrücke unempfindlich sind.
Es wäre doch eine traurige Weisheit, die in einem solchen Spruche enden
müßte. Wo bliebe da die Evolutionstheorie, dieser glänzende Erkenntnisblitz
der spekulirenden Wissenschaft, der den immerwährenden Fortschritt an ein
Naturgesetz gebunden zeigt? Nein, der Acker der Menschheit birgt noch
unzählige Keime, die nach einander treiben werden, je nachdem sie die
Wärme erreicht, und immer wird Neues geschehen, so lange Leben auf
der Erde ist.

Sollte aber der Greis des Treibens müde sein, sollte ihm schwindeln,
wenn er den Blick auf den Wirbel der Erscheinungen richtet, dann mag er
sich zu feinen Erinnerungen wenden. Wenn auch sein Leben, von außen be¬
trachtet, arm an bedeutenden Ereignissen gewesen ist, wenn auch einst der
Schreiber seines Nekrologs vielleicht mit einer guten Feder voll Tinte aus-


Gienzboten III 1895 36
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[0289] Alte Leute mehr. Keine Spur mehr von titanischen Trotz, der dem Schicksal heraus¬ fordernd die Stirn bietet. Man beugt sich vor jeder Notwendigkeit, vielleicht noch mit saurer Miene und begehrlichen Schielen nach unerreichbar gewordnen Früchten; aber man beugt sich doch und ist so klug, nicht mehr zu wollen, was man nicht mehr kann. Im übrigen aber: die gewohnten Geschäfte des Lebens leiden nicht. Als stille Gehilfin tritt die Routine ein und erleichtert die Arbeit. Schon suchen die Gedanken mit Vorliebe vertraute Bahnen; dennoch lernt man noch immer weiter, dennoch vermag man noch immer, mit den geistigen Strömungen der Zeit eine gewisse Fühlung zu behalten, und kann zuweilen, namentlich wenn ein Glas alten Rheinweins die Herzthätigkeit erhöht hat, mit der Jugend fühlen und empfinden. Aber die Kutsche rollt unaufhaltsam weiter. Siebzig Jahr ein Greis — heißt es in dem alten Spruche. Nun hilft kein Sträuben mehr: das Alter ist da. Angepocht hat es oft genug, aber immer wieder hat es sich bescheiden zurückgezogen, wenn es merkte, daß es noch nicht willkommen sei. Jetzt aber bleibt es und richtet sich häuslich ein. Der Gast muß geduldet, ja der Ver¬ such muß gemacht werden, sich mit ihm zu befreunden. Bei gutem Willen ist das nicht allzu schwer. Denn noch immer, wenn auch die Wintersonne scheint, quillt das Leben aus geheimnisvollen Tiefen zu, so unbegreiflich wie am ersten Tage. Langsamer freilich, wie aus teil¬ weise verstopften Röhren, aber es fließt doch noch und treibt das verwickelte Werk. Die Augen sehen noch, die Ohren hören noch, und unzählige Fäden verbinden noch das Innere mit der Welt. Allerdings gilt nun wohl meist das Goethische Wort: „Wer lange lebt, hat viel erfahren, nichts Neues kann für ihn auf dieser Welt geschehn." Aber doch nicht immer. Wären alte Leute so eifrige Zeitungsleser, wenn sie damit nichts Neues erführen? Bau Allda mit seinein „Es ist alles schon dagewesen" muß zu jener stumpfsinnigen Sorte von Greisen gehört haben, die sür neue Eindrücke unempfindlich sind. Es wäre doch eine traurige Weisheit, die in einem solchen Spruche enden müßte. Wo bliebe da die Evolutionstheorie, dieser glänzende Erkenntnisblitz der spekulirenden Wissenschaft, der den immerwährenden Fortschritt an ein Naturgesetz gebunden zeigt? Nein, der Acker der Menschheit birgt noch unzählige Keime, die nach einander treiben werden, je nachdem sie die Wärme erreicht, und immer wird Neues geschehen, so lange Leben auf der Erde ist. Sollte aber der Greis des Treibens müde sein, sollte ihm schwindeln, wenn er den Blick auf den Wirbel der Erscheinungen richtet, dann mag er sich zu feinen Erinnerungen wenden. Wenn auch sein Leben, von außen be¬ trachtet, arm an bedeutenden Ereignissen gewesen ist, wenn auch einst der Schreiber seines Nekrologs vielleicht mit einer guten Feder voll Tinte aus- Gienzboten III 1895 36

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/289>, abgerufen am 16.06.2024.