Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Alte Leute

reicht: vor ihm selbst breitet sich eine unendliche Mannichfaltigkeit interessanter
Thatsachen aus. Welch eine Reihe von Veränderungen von dem Augenblicke
an, wo er sich seiner bewußt geworden ist! Vom Kinde bis zum Greise --
in welcher Anzahl von Formen ist er andern, ist er sich selbst erschienen!
Was ist nicht alles nach einander aus seinem Innern zu Tage getreten --
an Leidenschaften, an Empfindungen, an Gedanken! Mit jedem Jahre fast
ist er ein andrer geworden. Alles das findet sich in dem Buche seiner Er¬
fahrungen aufgezeichnet, und daneben der Verlauf seines Lebens in der Welt,
eine Menge von Bruchstücken aus dem Schicksal seiner Zeitgenossen, die Ge¬
schichte der Politik und der Kultur seit fünfzig Jahren. Dieses Buch der
Erfahrungen ist zu einem stattlichen Foliobande geworden. Wenn der Greis
darin blättert, glaubt er, einen Roman vor sich zu haben, und er findet es
oft unbegreiflich, daß er selbst der Held sein soll. Wie? ruft er kopfschüttelnd
aus, das hätte ich gethan? Wie in aller Welt bin ich nur dazu gekommen?
So hätte ich einmal gedacht? War ich denn ganz und gar von Gott ver¬
lassen? Und es weht ihn etwas an wie ein Grauen vor dem Schicksal, das
über ihm war und heute noch ist.

Erkenne dich selbst! wurde ihm in der Jugend gepredigt. Das schien
ihm damals nicht sonderlich schwierig. Nun aber, nachdem er über ein halbes
Jahrhundert lang äußerst intim mit sich selbst verkehrt hat, findet er, daß er
in der Selbsterkenntnis nur geringe Fortschritte gemacht hat. Das meiste
darin ist so dunkel und unergründlich wie am ersten Tag. Wie wenig wir
von uns selbst wissen -- wissen können --, wie viel von unserm Leben da
verläuft, wo das Gehirn keine Beobachtungsstation hat: der Greis sieht es
endlich ein. Und verzichtend wendet er sich zu der Sphäre, die von dem
Lichte des Verstandes beleuchtet ist.

Was mag mir noch bevorstehen? fragt er sich. Vielleicht erinnert er
sich einer Abhandlung des Cicero über das Greisenalter, die er einst gelesen --
gelesen? nein durchgeackert hat, als ihr Thema ihn so wenig interessirte wie
eine Jungfrau auf dem Monde. Er liest sie wieder; über zweitausend Jahre
hinweg lauscht der Greis dem Greise.

Enttäuscht legt er sie aus der Hand. Das Opus ist trocken und schwer¬
fällig, voll von Familienklatsch aus den leitenden Kreisen des damaligen Roms,
und tischt breit und wichtig die Gemeinplätze der stoischen Lebensweisheit
auf. Und wenn nur sein positiver Inhalt zutreffend wäre! Aber auch das
ist nicht der Fall. Cicero sagt, in der Negierung eines Staates konnten die
alten Leute nicht entbehrt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dann
aber vergleicht er sie den Steuerleuten, denen auf dem Schiffe das wichtigste
Amt übertragen sei. Das ist die selbstgefällige Täuschung eines alternden
Staatsmannes. Die Senate sind immer nur die Regulatoren des Kurses
gewesen, den die jüngern Volkshäuser bestimmt haben. Sie waren -- und


Alte Leute

reicht: vor ihm selbst breitet sich eine unendliche Mannichfaltigkeit interessanter
Thatsachen aus. Welch eine Reihe von Veränderungen von dem Augenblicke
an, wo er sich seiner bewußt geworden ist! Vom Kinde bis zum Greise —
in welcher Anzahl von Formen ist er andern, ist er sich selbst erschienen!
Was ist nicht alles nach einander aus seinem Innern zu Tage getreten —
an Leidenschaften, an Empfindungen, an Gedanken! Mit jedem Jahre fast
ist er ein andrer geworden. Alles das findet sich in dem Buche seiner Er¬
fahrungen aufgezeichnet, und daneben der Verlauf seines Lebens in der Welt,
eine Menge von Bruchstücken aus dem Schicksal seiner Zeitgenossen, die Ge¬
schichte der Politik und der Kultur seit fünfzig Jahren. Dieses Buch der
Erfahrungen ist zu einem stattlichen Foliobande geworden. Wenn der Greis
darin blättert, glaubt er, einen Roman vor sich zu haben, und er findet es
oft unbegreiflich, daß er selbst der Held sein soll. Wie? ruft er kopfschüttelnd
aus, das hätte ich gethan? Wie in aller Welt bin ich nur dazu gekommen?
So hätte ich einmal gedacht? War ich denn ganz und gar von Gott ver¬
lassen? Und es weht ihn etwas an wie ein Grauen vor dem Schicksal, das
über ihm war und heute noch ist.

Erkenne dich selbst! wurde ihm in der Jugend gepredigt. Das schien
ihm damals nicht sonderlich schwierig. Nun aber, nachdem er über ein halbes
Jahrhundert lang äußerst intim mit sich selbst verkehrt hat, findet er, daß er
in der Selbsterkenntnis nur geringe Fortschritte gemacht hat. Das meiste
darin ist so dunkel und unergründlich wie am ersten Tag. Wie wenig wir
von uns selbst wissen — wissen können —, wie viel von unserm Leben da
verläuft, wo das Gehirn keine Beobachtungsstation hat: der Greis sieht es
endlich ein. Und verzichtend wendet er sich zu der Sphäre, die von dem
Lichte des Verstandes beleuchtet ist.

Was mag mir noch bevorstehen? fragt er sich. Vielleicht erinnert er
sich einer Abhandlung des Cicero über das Greisenalter, die er einst gelesen —
gelesen? nein durchgeackert hat, als ihr Thema ihn so wenig interessirte wie
eine Jungfrau auf dem Monde. Er liest sie wieder; über zweitausend Jahre
hinweg lauscht der Greis dem Greise.

Enttäuscht legt er sie aus der Hand. Das Opus ist trocken und schwer¬
fällig, voll von Familienklatsch aus den leitenden Kreisen des damaligen Roms,
und tischt breit und wichtig die Gemeinplätze der stoischen Lebensweisheit
auf. Und wenn nur sein positiver Inhalt zutreffend wäre! Aber auch das
ist nicht der Fall. Cicero sagt, in der Negierung eines Staates konnten die
alten Leute nicht entbehrt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dann
aber vergleicht er sie den Steuerleuten, denen auf dem Schiffe das wichtigste
Amt übertragen sei. Das ist die selbstgefällige Täuschung eines alternden
Staatsmannes. Die Senate sind immer nur die Regulatoren des Kurses
gewesen, den die jüngern Volkshäuser bestimmt haben. Sie waren — und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0290" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220616"/>
          <fw type="header" place="top"> Alte Leute</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1191" prev="#ID_1190"> reicht: vor ihm selbst breitet sich eine unendliche Mannichfaltigkeit interessanter<lb/>
Thatsachen aus. Welch eine Reihe von Veränderungen von dem Augenblicke<lb/>
an, wo er sich seiner bewußt geworden ist! Vom Kinde bis zum Greise &#x2014;<lb/>
in welcher Anzahl von Formen ist er andern, ist er sich selbst erschienen!<lb/>
Was ist nicht alles nach einander aus seinem Innern zu Tage getreten &#x2014;<lb/>
an Leidenschaften, an Empfindungen, an Gedanken! Mit jedem Jahre fast<lb/>
ist er ein andrer geworden. Alles das findet sich in dem Buche seiner Er¬<lb/>
fahrungen aufgezeichnet, und daneben der Verlauf seines Lebens in der Welt,<lb/>
eine Menge von Bruchstücken aus dem Schicksal seiner Zeitgenossen, die Ge¬<lb/>
schichte der Politik und der Kultur seit fünfzig Jahren. Dieses Buch der<lb/>
Erfahrungen ist zu einem stattlichen Foliobande geworden. Wenn der Greis<lb/>
darin blättert, glaubt er, einen Roman vor sich zu haben, und er findet es<lb/>
oft unbegreiflich, daß er selbst der Held sein soll. Wie? ruft er kopfschüttelnd<lb/>
aus, das hätte ich gethan? Wie in aller Welt bin ich nur dazu gekommen?<lb/>
So hätte ich einmal gedacht? War ich denn ganz und gar von Gott ver¬<lb/>
lassen? Und es weht ihn etwas an wie ein Grauen vor dem Schicksal, das<lb/>
über ihm war und heute noch ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1192"> Erkenne dich selbst! wurde ihm in der Jugend gepredigt. Das schien<lb/>
ihm damals nicht sonderlich schwierig. Nun aber, nachdem er über ein halbes<lb/>
Jahrhundert lang äußerst intim mit sich selbst verkehrt hat, findet er, daß er<lb/>
in der Selbsterkenntnis nur geringe Fortschritte gemacht hat. Das meiste<lb/>
darin ist so dunkel und unergründlich wie am ersten Tag. Wie wenig wir<lb/>
von uns selbst wissen &#x2014; wissen können &#x2014;, wie viel von unserm Leben da<lb/>
verläuft, wo das Gehirn keine Beobachtungsstation hat: der Greis sieht es<lb/>
endlich ein. Und verzichtend wendet er sich zu der Sphäre, die von dem<lb/>
Lichte des Verstandes beleuchtet ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1193"> Was mag mir noch bevorstehen? fragt er sich. Vielleicht erinnert er<lb/>
sich einer Abhandlung des Cicero über das Greisenalter, die er einst gelesen &#x2014;<lb/>
gelesen? nein durchgeackert hat, als ihr Thema ihn so wenig interessirte wie<lb/>
eine Jungfrau auf dem Monde. Er liest sie wieder; über zweitausend Jahre<lb/>
hinweg lauscht der Greis dem Greise.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1194" next="#ID_1195"> Enttäuscht legt er sie aus der Hand. Das Opus ist trocken und schwer¬<lb/>
fällig, voll von Familienklatsch aus den leitenden Kreisen des damaligen Roms,<lb/>
und tischt breit und wichtig die Gemeinplätze der stoischen Lebensweisheit<lb/>
auf. Und wenn nur sein positiver Inhalt zutreffend wäre! Aber auch das<lb/>
ist nicht der Fall. Cicero sagt, in der Negierung eines Staates konnten die<lb/>
alten Leute nicht entbehrt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dann<lb/>
aber vergleicht er sie den Steuerleuten, denen auf dem Schiffe das wichtigste<lb/>
Amt übertragen sei. Das ist die selbstgefällige Täuschung eines alternden<lb/>
Staatsmannes. Die Senate sind immer nur die Regulatoren des Kurses<lb/>
gewesen, den die jüngern Volkshäuser bestimmt haben.  Sie waren &#x2014; und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0290] Alte Leute reicht: vor ihm selbst breitet sich eine unendliche Mannichfaltigkeit interessanter Thatsachen aus. Welch eine Reihe von Veränderungen von dem Augenblicke an, wo er sich seiner bewußt geworden ist! Vom Kinde bis zum Greise — in welcher Anzahl von Formen ist er andern, ist er sich selbst erschienen! Was ist nicht alles nach einander aus seinem Innern zu Tage getreten — an Leidenschaften, an Empfindungen, an Gedanken! Mit jedem Jahre fast ist er ein andrer geworden. Alles das findet sich in dem Buche seiner Er¬ fahrungen aufgezeichnet, und daneben der Verlauf seines Lebens in der Welt, eine Menge von Bruchstücken aus dem Schicksal seiner Zeitgenossen, die Ge¬ schichte der Politik und der Kultur seit fünfzig Jahren. Dieses Buch der Erfahrungen ist zu einem stattlichen Foliobande geworden. Wenn der Greis darin blättert, glaubt er, einen Roman vor sich zu haben, und er findet es oft unbegreiflich, daß er selbst der Held sein soll. Wie? ruft er kopfschüttelnd aus, das hätte ich gethan? Wie in aller Welt bin ich nur dazu gekommen? So hätte ich einmal gedacht? War ich denn ganz und gar von Gott ver¬ lassen? Und es weht ihn etwas an wie ein Grauen vor dem Schicksal, das über ihm war und heute noch ist. Erkenne dich selbst! wurde ihm in der Jugend gepredigt. Das schien ihm damals nicht sonderlich schwierig. Nun aber, nachdem er über ein halbes Jahrhundert lang äußerst intim mit sich selbst verkehrt hat, findet er, daß er in der Selbsterkenntnis nur geringe Fortschritte gemacht hat. Das meiste darin ist so dunkel und unergründlich wie am ersten Tag. Wie wenig wir von uns selbst wissen — wissen können —, wie viel von unserm Leben da verläuft, wo das Gehirn keine Beobachtungsstation hat: der Greis sieht es endlich ein. Und verzichtend wendet er sich zu der Sphäre, die von dem Lichte des Verstandes beleuchtet ist. Was mag mir noch bevorstehen? fragt er sich. Vielleicht erinnert er sich einer Abhandlung des Cicero über das Greisenalter, die er einst gelesen — gelesen? nein durchgeackert hat, als ihr Thema ihn so wenig interessirte wie eine Jungfrau auf dem Monde. Er liest sie wieder; über zweitausend Jahre hinweg lauscht der Greis dem Greise. Enttäuscht legt er sie aus der Hand. Das Opus ist trocken und schwer¬ fällig, voll von Familienklatsch aus den leitenden Kreisen des damaligen Roms, und tischt breit und wichtig die Gemeinplätze der stoischen Lebensweisheit auf. Und wenn nur sein positiver Inhalt zutreffend wäre! Aber auch das ist nicht der Fall. Cicero sagt, in der Negierung eines Staates konnten die alten Leute nicht entbehrt werden. Dagegen ist nichts einzuwenden. Dann aber vergleicht er sie den Steuerleuten, denen auf dem Schiffe das wichtigste Amt übertragen sei. Das ist die selbstgefällige Täuschung eines alternden Staatsmannes. Die Senate sind immer nur die Regulatoren des Kurses gewesen, den die jüngern Volkshäuser bestimmt haben. Sie waren — und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/290
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/290>, abgerufen am 16.06.2024.