Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Brasilien

Daß sich die Deutschen vor allem nach dem Süden gewandt haben, liegt
an den klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen; daß sie so geschlossen
leben, an den politischen und an dem früher starken Mißtrauen der Brasilianer
ihnen gegenüber, ja man kann sagen Mißachtung, denn eine Zeit lang ge¬
brauchte man die Bezeichnung Allcmao als Schimpfwort. Hierin scheint aller¬
dings in neuester Zeit eine Wandlung eingetreten zu sein; der fremdcnfeind-
liche Nativismus, der in den amtlichen Kreisen bemerkbar ist, kehrt sich gegen
Frankreich, Portugal und England, während für Nordamerika und Deutschland
Sympathien vorhanden sind. Die drei Provinzen Parana, Santa Katharina
und Rio Grande do Sui (die zusammen einen Flächenraum von 532000 Quadrat¬
kilometer, also ungefähr wie das deutsche Reich haben) darf man als deutsche
Teile bezeichnen, daneben noch Sav Paulo. In Sav Paulo (300000 Quadrat¬
kilometer) leben unter 1300000 Seelen 20000 Deutsche, ebenso viel in Parana
unter einer Gesamtbevölkerung vou 180000 Seelen; in Dona Franziska und
den Thälern von Blumenau schätzt man ihre Zahl auf 60000; in den Küsten-
stüdteu von Sav Franzisko bis Laguna, vor allein in Desterro, sowie in den
Kolonien von Brusque auf 15 bis 20000; in Espirito Santo, Minas, Staat
und Stadt Rio ebenfalls auf 15 bis 20000. Bei den Ackerbauern ist der
kleine Besitz vou 15 bis 25 Hektaren vorherrschend, seltener findet man Güter
im Umfange von 40 bis 50 Hektaren.

Diese Angaben über die Volksdichtigkeit lassen schon ans eine geringe
wirtschaftliche Entwicklung schließen; sie steht in der That nicht auf der Stufe,
die sie bei den mannichfaltigen klimatischen und Bodenverhältnissen und bei
der Rührigkeit der Bevölkerung unter einer guten Verwaltung hätte erreichen
müssen. Wo keine Rechtssicherheit besteht, keine Straßen und Eisenbahnen
gebaut Werden, kann auch die tüchtigste Kolonistenbevölkerung nicht vorwärts¬
kommen. Dennoch haben unsre Stammesgenossen in Brasilien trotz aller
Hindernisse, und obwohl sie das Vaterland hilflos ließ, Großartiges geleistet.
Ihren Einfluß auf die Kulturentwicklung des Landes in Zahlen nachzuweisen,
wäre eine dankbare Aufgabe, deren Losung aber fast unmöglich ist, weil erst
in neuerer Zeit auf die Gewinnung zuverlässiger statistischer Materialien einiges
Gewicht gelegt wird und uns fortlaufende Beobachtungsreihen von der Zeit
an fehlen, wo eine sreie Kolonistenbevölkerung deutschen Stammes auftritt.
Außerdem sind die Einwirkungen der Deutschen auf ihre Umgebung oft so
intimer Natur, daß ein feiner, mit den Verhältnissen genau vertrauter Be¬
obachter dazu gehört, sie festzustellen, der sich leider bis jetzt nicht gefunden
hat. Im allgemeinen tritt aber der deutsche Einfluß scharf hervor; er besteht
darin, daß sich mit der Einwanderung unsers Stammes ein freier Stand
kleiner Bauern und Grundbesitzer bildet, und damit in die brasilianische Land-
Wirtschaft die intensive Betriebsform der Ackerwirtschaft eingeführt wird; die
technischen Hilfsmittel dieses Betriebes und den Garten- und Gemüsebau in


Grenzbote" III 1895 Ü2
Brasilien

Daß sich die Deutschen vor allem nach dem Süden gewandt haben, liegt
an den klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen; daß sie so geschlossen
leben, an den politischen und an dem früher starken Mißtrauen der Brasilianer
ihnen gegenüber, ja man kann sagen Mißachtung, denn eine Zeit lang ge¬
brauchte man die Bezeichnung Allcmao als Schimpfwort. Hierin scheint aller¬
dings in neuester Zeit eine Wandlung eingetreten zu sein; der fremdcnfeind-
liche Nativismus, der in den amtlichen Kreisen bemerkbar ist, kehrt sich gegen
Frankreich, Portugal und England, während für Nordamerika und Deutschland
Sympathien vorhanden sind. Die drei Provinzen Parana, Santa Katharina
und Rio Grande do Sui (die zusammen einen Flächenraum von 532000 Quadrat¬
kilometer, also ungefähr wie das deutsche Reich haben) darf man als deutsche
Teile bezeichnen, daneben noch Sav Paulo. In Sav Paulo (300000 Quadrat¬
kilometer) leben unter 1300000 Seelen 20000 Deutsche, ebenso viel in Parana
unter einer Gesamtbevölkerung vou 180000 Seelen; in Dona Franziska und
den Thälern von Blumenau schätzt man ihre Zahl auf 60000; in den Küsten-
stüdteu von Sav Franzisko bis Laguna, vor allein in Desterro, sowie in den
Kolonien von Brusque auf 15 bis 20000; in Espirito Santo, Minas, Staat
und Stadt Rio ebenfalls auf 15 bis 20000. Bei den Ackerbauern ist der
kleine Besitz vou 15 bis 25 Hektaren vorherrschend, seltener findet man Güter
im Umfange von 40 bis 50 Hektaren.

Diese Angaben über die Volksdichtigkeit lassen schon ans eine geringe
wirtschaftliche Entwicklung schließen; sie steht in der That nicht auf der Stufe,
die sie bei den mannichfaltigen klimatischen und Bodenverhältnissen und bei
der Rührigkeit der Bevölkerung unter einer guten Verwaltung hätte erreichen
müssen. Wo keine Rechtssicherheit besteht, keine Straßen und Eisenbahnen
gebaut Werden, kann auch die tüchtigste Kolonistenbevölkerung nicht vorwärts¬
kommen. Dennoch haben unsre Stammesgenossen in Brasilien trotz aller
Hindernisse, und obwohl sie das Vaterland hilflos ließ, Großartiges geleistet.
Ihren Einfluß auf die Kulturentwicklung des Landes in Zahlen nachzuweisen,
wäre eine dankbare Aufgabe, deren Losung aber fast unmöglich ist, weil erst
in neuerer Zeit auf die Gewinnung zuverlässiger statistischer Materialien einiges
Gewicht gelegt wird und uns fortlaufende Beobachtungsreihen von der Zeit
an fehlen, wo eine sreie Kolonistenbevölkerung deutschen Stammes auftritt.
Außerdem sind die Einwirkungen der Deutschen auf ihre Umgebung oft so
intimer Natur, daß ein feiner, mit den Verhältnissen genau vertrauter Be¬
obachter dazu gehört, sie festzustellen, der sich leider bis jetzt nicht gefunden
hat. Im allgemeinen tritt aber der deutsche Einfluß scharf hervor; er besteht
darin, daß sich mit der Einwanderung unsers Stammes ein freier Stand
kleiner Bauern und Grundbesitzer bildet, und damit in die brasilianische Land-
Wirtschaft die intensive Betriebsform der Ackerwirtschaft eingeführt wird; die
technischen Hilfsmittel dieses Betriebes und den Garten- und Gemüsebau in


Grenzbote» III 1895 Ü2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0417" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/220743"/>
          <fw type="header" place="top"> Brasilien</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1704"> Daß sich die Deutschen vor allem nach dem Süden gewandt haben, liegt<lb/>
an den klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen; daß sie so geschlossen<lb/>
leben, an den politischen und an dem früher starken Mißtrauen der Brasilianer<lb/>
ihnen gegenüber, ja man kann sagen Mißachtung, denn eine Zeit lang ge¬<lb/>
brauchte man die Bezeichnung Allcmao als Schimpfwort. Hierin scheint aller¬<lb/>
dings in neuester Zeit eine Wandlung eingetreten zu sein; der fremdcnfeind-<lb/>
liche Nativismus, der in den amtlichen Kreisen bemerkbar ist, kehrt sich gegen<lb/>
Frankreich, Portugal und England, während für Nordamerika und Deutschland<lb/>
Sympathien vorhanden sind. Die drei Provinzen Parana, Santa Katharina<lb/>
und Rio Grande do Sui (die zusammen einen Flächenraum von 532000 Quadrat¬<lb/>
kilometer, also ungefähr wie das deutsche Reich haben) darf man als deutsche<lb/>
Teile bezeichnen, daneben noch Sav Paulo. In Sav Paulo (300000 Quadrat¬<lb/>
kilometer) leben unter 1300000 Seelen 20000 Deutsche, ebenso viel in Parana<lb/>
unter einer Gesamtbevölkerung vou 180000 Seelen; in Dona Franziska und<lb/>
den Thälern von Blumenau schätzt man ihre Zahl auf 60000; in den Küsten-<lb/>
stüdteu von Sav Franzisko bis Laguna, vor allein in Desterro, sowie in den<lb/>
Kolonien von Brusque auf 15 bis 20000; in Espirito Santo, Minas, Staat<lb/>
und Stadt Rio ebenfalls auf 15 bis 20000. Bei den Ackerbauern ist der<lb/>
kleine Besitz vou 15 bis 25 Hektaren vorherrschend, seltener findet man Güter<lb/>
im Umfange von 40 bis 50 Hektaren.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1705" next="#ID_1706"> Diese Angaben über die Volksdichtigkeit lassen schon ans eine geringe<lb/>
wirtschaftliche Entwicklung schließen; sie steht in der That nicht auf der Stufe,<lb/>
die sie bei den mannichfaltigen klimatischen und Bodenverhältnissen und bei<lb/>
der Rührigkeit der Bevölkerung unter einer guten Verwaltung hätte erreichen<lb/>
müssen. Wo keine Rechtssicherheit besteht, keine Straßen und Eisenbahnen<lb/>
gebaut Werden, kann auch die tüchtigste Kolonistenbevölkerung nicht vorwärts¬<lb/>
kommen. Dennoch haben unsre Stammesgenossen in Brasilien trotz aller<lb/>
Hindernisse, und obwohl sie das Vaterland hilflos ließ, Großartiges geleistet.<lb/>
Ihren Einfluß auf die Kulturentwicklung des Landes in Zahlen nachzuweisen,<lb/>
wäre eine dankbare Aufgabe, deren Losung aber fast unmöglich ist, weil erst<lb/>
in neuerer Zeit auf die Gewinnung zuverlässiger statistischer Materialien einiges<lb/>
Gewicht gelegt wird und uns fortlaufende Beobachtungsreihen von der Zeit<lb/>
an fehlen, wo eine sreie Kolonistenbevölkerung deutschen Stammes auftritt.<lb/>
Außerdem sind die Einwirkungen der Deutschen auf ihre Umgebung oft so<lb/>
intimer Natur, daß ein feiner, mit den Verhältnissen genau vertrauter Be¬<lb/>
obachter dazu gehört, sie festzustellen, der sich leider bis jetzt nicht gefunden<lb/>
hat. Im allgemeinen tritt aber der deutsche Einfluß scharf hervor; er besteht<lb/>
darin, daß sich mit der Einwanderung unsers Stammes ein freier Stand<lb/>
kleiner Bauern und Grundbesitzer bildet, und damit in die brasilianische Land-<lb/>
Wirtschaft die intensive Betriebsform der Ackerwirtschaft eingeführt wird; die<lb/>
technischen Hilfsmittel dieses Betriebes und den Garten- und Gemüsebau in</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzbote» III 1895 Ü2</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0417] Brasilien Daß sich die Deutschen vor allem nach dem Süden gewandt haben, liegt an den klimatischen und wirtschaftlichen Verhältnissen; daß sie so geschlossen leben, an den politischen und an dem früher starken Mißtrauen der Brasilianer ihnen gegenüber, ja man kann sagen Mißachtung, denn eine Zeit lang ge¬ brauchte man die Bezeichnung Allcmao als Schimpfwort. Hierin scheint aller¬ dings in neuester Zeit eine Wandlung eingetreten zu sein; der fremdcnfeind- liche Nativismus, der in den amtlichen Kreisen bemerkbar ist, kehrt sich gegen Frankreich, Portugal und England, während für Nordamerika und Deutschland Sympathien vorhanden sind. Die drei Provinzen Parana, Santa Katharina und Rio Grande do Sui (die zusammen einen Flächenraum von 532000 Quadrat¬ kilometer, also ungefähr wie das deutsche Reich haben) darf man als deutsche Teile bezeichnen, daneben noch Sav Paulo. In Sav Paulo (300000 Quadrat¬ kilometer) leben unter 1300000 Seelen 20000 Deutsche, ebenso viel in Parana unter einer Gesamtbevölkerung vou 180000 Seelen; in Dona Franziska und den Thälern von Blumenau schätzt man ihre Zahl auf 60000; in den Küsten- stüdteu von Sav Franzisko bis Laguna, vor allein in Desterro, sowie in den Kolonien von Brusque auf 15 bis 20000; in Espirito Santo, Minas, Staat und Stadt Rio ebenfalls auf 15 bis 20000. Bei den Ackerbauern ist der kleine Besitz vou 15 bis 25 Hektaren vorherrschend, seltener findet man Güter im Umfange von 40 bis 50 Hektaren. Diese Angaben über die Volksdichtigkeit lassen schon ans eine geringe wirtschaftliche Entwicklung schließen; sie steht in der That nicht auf der Stufe, die sie bei den mannichfaltigen klimatischen und Bodenverhältnissen und bei der Rührigkeit der Bevölkerung unter einer guten Verwaltung hätte erreichen müssen. Wo keine Rechtssicherheit besteht, keine Straßen und Eisenbahnen gebaut Werden, kann auch die tüchtigste Kolonistenbevölkerung nicht vorwärts¬ kommen. Dennoch haben unsre Stammesgenossen in Brasilien trotz aller Hindernisse, und obwohl sie das Vaterland hilflos ließ, Großartiges geleistet. Ihren Einfluß auf die Kulturentwicklung des Landes in Zahlen nachzuweisen, wäre eine dankbare Aufgabe, deren Losung aber fast unmöglich ist, weil erst in neuerer Zeit auf die Gewinnung zuverlässiger statistischer Materialien einiges Gewicht gelegt wird und uns fortlaufende Beobachtungsreihen von der Zeit an fehlen, wo eine sreie Kolonistenbevölkerung deutschen Stammes auftritt. Außerdem sind die Einwirkungen der Deutschen auf ihre Umgebung oft so intimer Natur, daß ein feiner, mit den Verhältnissen genau vertrauter Be¬ obachter dazu gehört, sie festzustellen, der sich leider bis jetzt nicht gefunden hat. Im allgemeinen tritt aber der deutsche Einfluß scharf hervor; er besteht darin, daß sich mit der Einwanderung unsers Stammes ein freier Stand kleiner Bauern und Grundbesitzer bildet, und damit in die brasilianische Land- Wirtschaft die intensive Betriebsform der Ackerwirtschaft eingeführt wird; die technischen Hilfsmittel dieses Betriebes und den Garten- und Gemüsebau in Grenzbote» III 1895 Ü2

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/417
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/417>, abgerufen am 16.06.2024.