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Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr.

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Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

nicht schaden, wenn sie noch etwas mehr Fleisch hätte, nicht um drin zu
schwimmen, wozu ohnehin doch höchstens die Brühe taugen würde, sondern
um es in den Mund zu stecken. Zur Beruhigung sagte ich mir selbst und
sagte ich den Leuten von der Kanzel manchmal: Der Papst mißt auf seinem
erhabnen Standpunkte die Erscheinungen der Zeit am Ewigen und Göttlichen,
und da muß er denn freilich zu einem alles verwerfenden Urteil kommen.
Aber messen wir die heutigen Dinge und Menschen an der Vergangenheit und
an unsern schwachen Kräften, so können wir nicht finden, daß es schlimmer
um uns stünde, als um die Menschen irgend einer frühern Zeit. Wie wenig
ahnte ich, daß gerade in dieser Auffassung meine Ketzernatur zum Vorschein
kam! Bildet doch die unversöhnliche Feindschaft gegen die Welt und ihre
Pracht, d. i. ihre Kultur, das Wesen des orthodoxen Christentums. Und es
unterliegt keinem Zweifel, daß es sich dafür nicht allein auf die Kirchenväter,
sondern auch auf Johannes und Paulus berufen kann (vgl. besonders Ev. Joh.
14. 30; 15, 18 und 19; 16, 8; 17, 9 und 1. Joh. 2, 15 und 1K), während,
wenn wir die Synoptiker allein Hütten, die Versöhnung des Christentums mit
der Welt und ihrer Kultur nicht unmöglich sein würde. Zwar finden wir auch
bei ihnen Stellen wie das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, aber
es war mir von Anfang an ausgemacht, daß man nicht etwa unter dem
Weizen die Katholiken, unter dem Unkraut die übrigen Menschen verstehen
dürfe, auch nicht einmal die Guten und die Bösen innerhalb der verschiednen
Konfessionen und Religionen, sondern daß in jedem einzelnen Menschen, die
Türken, Heiden und den Papst nicht ausgenommen, Gutes und Böses gemischt
sei. Wie es bei der im Gleichnis in Aussicht gestellten Scheidung am Ende
der Welt zugehen würde, das ließ ich, als ein unenthüllbares Geheimnis,
dahingestellt sein.

Mit der Ankündigung des Konzils erreichte die mir widerwärtige ultra¬
montane Bewegung ihren Höhepunkt. Aus Breslau hörten wir eine hübsche
Anekdote. Gerade als der verhängnisvolle Brief aus Rom bei Förster ange¬
kommen war, trat der wegen seiner Hvflingsnatur von biedern Pfarrern viel
verspottete Kanonikus G. bei ihm ein, um ihn zum Spaziergang abzuholen.
Förster: Da ist eben die Einladung zum allgemeinen Konzil gekommen! --
Polonius: Das ist ja höchst erfreulich, daß der heilige Vater in seiner Weis¬
heit ... -- Förster (der in seiner Erregung gar nicht auf ihn gehört hat):
's ist ein Skandal! -- Polonius (mit tiefer Verbeugung): Ja, fürstliche
Gnaden, 's ist ein Skandal! -- Es machte einen äußerst peinlichen Eindruck
auf mich, daß Förster, den ich aufrichtig verehrte, in seinen Privatäußerungen
ein andrer war als in seinen amtlichen Kundgebungen, aber ich habe ihn nie¬
mals, auch in meinem Herzen nicht, der Heuchelei beschuldigt; ich begann eben
einzusehen, daß eine hohe amtliche Stellung in schreckliche Widersprüche ver¬
wickelt, aus denen es kein Entrinnen giebt für den, der nicht der Stellung


Wandlungen des Ich im Zeitenstroine

nicht schaden, wenn sie noch etwas mehr Fleisch hätte, nicht um drin zu
schwimmen, wozu ohnehin doch höchstens die Brühe taugen würde, sondern
um es in den Mund zu stecken. Zur Beruhigung sagte ich mir selbst und
sagte ich den Leuten von der Kanzel manchmal: Der Papst mißt auf seinem
erhabnen Standpunkte die Erscheinungen der Zeit am Ewigen und Göttlichen,
und da muß er denn freilich zu einem alles verwerfenden Urteil kommen.
Aber messen wir die heutigen Dinge und Menschen an der Vergangenheit und
an unsern schwachen Kräften, so können wir nicht finden, daß es schlimmer
um uns stünde, als um die Menschen irgend einer frühern Zeit. Wie wenig
ahnte ich, daß gerade in dieser Auffassung meine Ketzernatur zum Vorschein
kam! Bildet doch die unversöhnliche Feindschaft gegen die Welt und ihre
Pracht, d. i. ihre Kultur, das Wesen des orthodoxen Christentums. Und es
unterliegt keinem Zweifel, daß es sich dafür nicht allein auf die Kirchenväter,
sondern auch auf Johannes und Paulus berufen kann (vgl. besonders Ev. Joh.
14. 30; 15, 18 und 19; 16, 8; 17, 9 und 1. Joh. 2, 15 und 1K), während,
wenn wir die Synoptiker allein Hütten, die Versöhnung des Christentums mit
der Welt und ihrer Kultur nicht unmöglich sein würde. Zwar finden wir auch
bei ihnen Stellen wie das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen, aber
es war mir von Anfang an ausgemacht, daß man nicht etwa unter dem
Weizen die Katholiken, unter dem Unkraut die übrigen Menschen verstehen
dürfe, auch nicht einmal die Guten und die Bösen innerhalb der verschiednen
Konfessionen und Religionen, sondern daß in jedem einzelnen Menschen, die
Türken, Heiden und den Papst nicht ausgenommen, Gutes und Böses gemischt
sei. Wie es bei der im Gleichnis in Aussicht gestellten Scheidung am Ende
der Welt zugehen würde, das ließ ich, als ein unenthüllbares Geheimnis,
dahingestellt sein.

Mit der Ankündigung des Konzils erreichte die mir widerwärtige ultra¬
montane Bewegung ihren Höhepunkt. Aus Breslau hörten wir eine hübsche
Anekdote. Gerade als der verhängnisvolle Brief aus Rom bei Förster ange¬
kommen war, trat der wegen seiner Hvflingsnatur von biedern Pfarrern viel
verspottete Kanonikus G. bei ihm ein, um ihn zum Spaziergang abzuholen.
Förster: Da ist eben die Einladung zum allgemeinen Konzil gekommen! —
Polonius: Das ist ja höchst erfreulich, daß der heilige Vater in seiner Weis¬
heit ... — Förster (der in seiner Erregung gar nicht auf ihn gehört hat):
's ist ein Skandal! — Polonius (mit tiefer Verbeugung): Ja, fürstliche
Gnaden, 's ist ein Skandal! — Es machte einen äußerst peinlichen Eindruck
auf mich, daß Förster, den ich aufrichtig verehrte, in seinen Privatäußerungen
ein andrer war als in seinen amtlichen Kundgebungen, aber ich habe ihn nie¬
mals, auch in meinem Herzen nicht, der Heuchelei beschuldigt; ich begann eben
einzusehen, daß eine hohe amtliche Stellung in schreckliche Widersprüche ver¬
wickelt, aus denen es kein Entrinnen giebt für den, der nicht der Stellung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 54, 1895, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341861_220325/430>, abgerufen am 16.06.2024.