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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

ferne bei den Schattenpflanzen seiner Heimat. Ein Schatten ist er; alles, was
er thut, alles nur ein Schatten. Sehen Sie doch sein Lächeln; so lächelt kein
wirklicher Mensch, das reden Sie mir nicht ein. Er ist vom Abendstern ge¬
kommen, und da hätte er bleiben sollen." Aber wenn wir auch empfinden,
daß nur Erdenkinder einander lieben und freien sollen, so wird doch unser
Blick auf die ewigen Fernen, die Vielheit der Welten, auf die tausend Mög¬
lichkeiten unbekannten Lebens gelenkt, es überkommt uns eine Stimmung, in
der wir der Beschränkung unsers kleinen Sterns tief inne und zugleich herzlich
froh werden. Die Saite aber, die Wilbrandt hier zuerst angeschlagen hat,
schwingt weiter, bis sie in dem "Meister von Palmhra" ihren schönsten und
tiefsten Klang giebt.

Die beiden Romane dieser mittlern Schasfensperiode sind, wenn man will,
erweiterte Novellen. "Fridolins heimliche Ehe" kann neben dem Messalina-
drama als ein Hauptzeugnis betrachtet werden, wie die Beschäftigung der
Dichter mit heikeln Stoffen in dem Gründerjahrzehnt zwischen 1870 und 1830
gleichsam in der Luft lag. Es fehlt dieser Erzählung weder an lebendigen
noch an feinen Zügen, aber alle Kunst der Behandlung vermag gewisse pein¬
liche Voraussetzungen nicht zu überwinden. Die Wärme, die außerordentliche
Anmut der Einzelheiten söhnen uns nicht mit dem Motiv aus. Viel höher
steht der Roman "Meister Amor." Ihm oder wenigstens seinem Beginn
liegen offenbar Erinnerungen zu Grunde, die der Dichter erst aus zweiter
Hand empfangen hat, aber die so anschaulich, so individuell verkörpert er¬
scheinen, als ob er sie selbst mit erlebt hätte. "Meister Amor" -- die Liebe --
ist es, die einen jungen Dichter zum ersten Gelingen begeistert und einer jungen
Schauspielerin, die in der Schule des strengsten Meisters zur Darstellerin im
großen Stil geschult und beim ersten Auslauf doch gescheitert ist, deu Ver¬
lornen Mut wiedergiebt und ihr verleiht, was ihr mit aller Schule noch ge¬
fehlt hat: innere Wärme, Beseelung jedes Einzelznges ihrer Gebilde. Der
Roman spielt sich in engen Verhältnissen ab, aber er hat die allgemeinen Ver¬
hältnisse der Litteratur und Kunst zum Hintergrund, ohne darum der Zwitter-
gnttung des Litteraten- und Schanspielerromans anzugehören. Seltsam genug
nimmt es sich aus, wie die ersten Anfänge der naturalistischen Bewegung in
diese Dichtung hineinspielen, wie der verdorbne Mediziner Max Stein, der
unter die Dichter gehen will, das Pseudoevangelium zuerst verkündet, das wir
seitdem, bald laut bald leise, so viel tausendmal vernommen haben, ohne daß
es darum wahrer geworden wäre. "Es ist endlich das Zeitalter gekommen,
wo die Menschheit die Kinderschuhe hinter sich wirft, wo sie an keine Märchen
und keine Fabeln mehr glaubt, wo auch die Künstler, die Dichter uns Er¬
kenntnis, Wirklichkeit, Wahrheit, volle, reine, nackte, splitternackte Wahrheit
geben müssen, oder wir lachen sie aus. Meine Herren, nicht die Wissenschaft
muß umkehren, sondern die Kunst muß umkehren; sie muß sich ganz auf den


Adolf wilbrandt

ferne bei den Schattenpflanzen seiner Heimat. Ein Schatten ist er; alles, was
er thut, alles nur ein Schatten. Sehen Sie doch sein Lächeln; so lächelt kein
wirklicher Mensch, das reden Sie mir nicht ein. Er ist vom Abendstern ge¬
kommen, und da hätte er bleiben sollen." Aber wenn wir auch empfinden,
daß nur Erdenkinder einander lieben und freien sollen, so wird doch unser
Blick auf die ewigen Fernen, die Vielheit der Welten, auf die tausend Mög¬
lichkeiten unbekannten Lebens gelenkt, es überkommt uns eine Stimmung, in
der wir der Beschränkung unsers kleinen Sterns tief inne und zugleich herzlich
froh werden. Die Saite aber, die Wilbrandt hier zuerst angeschlagen hat,
schwingt weiter, bis sie in dem „Meister von Palmhra" ihren schönsten und
tiefsten Klang giebt.

Die beiden Romane dieser mittlern Schasfensperiode sind, wenn man will,
erweiterte Novellen. „Fridolins heimliche Ehe" kann neben dem Messalina-
drama als ein Hauptzeugnis betrachtet werden, wie die Beschäftigung der
Dichter mit heikeln Stoffen in dem Gründerjahrzehnt zwischen 1870 und 1830
gleichsam in der Luft lag. Es fehlt dieser Erzählung weder an lebendigen
noch an feinen Zügen, aber alle Kunst der Behandlung vermag gewisse pein¬
liche Voraussetzungen nicht zu überwinden. Die Wärme, die außerordentliche
Anmut der Einzelheiten söhnen uns nicht mit dem Motiv aus. Viel höher
steht der Roman „Meister Amor." Ihm oder wenigstens seinem Beginn
liegen offenbar Erinnerungen zu Grunde, die der Dichter erst aus zweiter
Hand empfangen hat, aber die so anschaulich, so individuell verkörpert er¬
scheinen, als ob er sie selbst mit erlebt hätte. „Meister Amor" — die Liebe —
ist es, die einen jungen Dichter zum ersten Gelingen begeistert und einer jungen
Schauspielerin, die in der Schule des strengsten Meisters zur Darstellerin im
großen Stil geschult und beim ersten Auslauf doch gescheitert ist, deu Ver¬
lornen Mut wiedergiebt und ihr verleiht, was ihr mit aller Schule noch ge¬
fehlt hat: innere Wärme, Beseelung jedes Einzelznges ihrer Gebilde. Der
Roman spielt sich in engen Verhältnissen ab, aber er hat die allgemeinen Ver¬
hältnisse der Litteratur und Kunst zum Hintergrund, ohne darum der Zwitter-
gnttung des Litteraten- und Schanspielerromans anzugehören. Seltsam genug
nimmt es sich aus, wie die ersten Anfänge der naturalistischen Bewegung in
diese Dichtung hineinspielen, wie der verdorbne Mediziner Max Stein, der
unter die Dichter gehen will, das Pseudoevangelium zuerst verkündet, das wir
seitdem, bald laut bald leise, so viel tausendmal vernommen haben, ohne daß
es darum wahrer geworden wäre. „Es ist endlich das Zeitalter gekommen,
wo die Menschheit die Kinderschuhe hinter sich wirft, wo sie an keine Märchen
und keine Fabeln mehr glaubt, wo auch die Künstler, die Dichter uns Er¬
kenntnis, Wirklichkeit, Wahrheit, volle, reine, nackte, splitternackte Wahrheit
geben müssen, oder wir lachen sie aus. Meine Herren, nicht die Wissenschaft
muß umkehren, sondern die Kunst muß umkehren; sie muß sich ganz auf den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/138>, abgerufen am 26.05.2024.