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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

Kopf stellen, um sich zu verjüngen. Meine Herren, die Poeten haben keine
Kenntnisse! Sie verstehen nichts von unserm Knochenbau, unsrer Muskulatur,
unserm Nervensystem, unsrer Gehirnanatomie, kurz von alledem, worauf unser
ganzes sogenanntes Seelenleben beruht! Und weil sie absolut nichts davon
verstehen, treiben sie den alten Phrasenschwindel weiter, singen von edeln
Herzen und unsterblichen Seelen und vornehmem Blut und Feuer in den
Adern und seelenvollem Blick und immer so fort von allem, was es nicht
giebt, und so ziehen sie der Menschheit immer wieder die Kinderschuhe an, und
wir von der Wissenschaft, die wir ihr die großen Wasserstiefel der Erkenntnis
machen, wir sollten das ruhig mit ansehen?" Max Stein geht bei seinem
Aposteltum nicht zu Grunde, sondern rettet sich, nach einem verunglückten
Versuch, die Bretter zu erklimmen, mit der schonen Frau, die er bei dieser
Gelegenheit erringt, ans das Eiland einer nahrhaften Buchdruckerei und will
künftig um den Ruhm mit wunderbaren, typographisch schönen Ausgaben
werben. Anders als Max und Toni, die von der Liebe ins bürgerliche Dasein,
ins behagliche Philistertum zurückgeführt werden, entwickeln sich Rudolf Berger
und Ada Hillmann, denen die Liebe die Tiefen der Poesie und Kunst erschließt.
Reiz und Anziehungskraft des Romans beruhen durchaus auf der Gestalt des
frühreifen Kindes, das zur großen Künstlerin gemacht werden soll, ehe ihre
Natur entwickelt ist. Es ist ein bitteres Ausnahmcschicksal, wie Ada um ihr
Kinderglück betrogen wird, wie sie den Irrtum ihres Vaters und Lehrers zu
büßen hat, es ist auch ein Ausimhmeglück, daß der Student, der sie liebt, sie
dem Tode entreißt, den sie, an der Zukunft verzweifelnd, selbst sucht, daß er
an der Liebe für sie zum Manne reift und sie in der Liebe für ihn nicht nur
"aus der Abnormität zur Natur zurückkehrt," sondern auch das Bewußtsein
ihres Talents zurückgewinnt.

Es bedarf keines Nachweises, daß die Dichtung, indem sie Menschen
schildert, nicht nur mit Regeln, sondern auch mit Ausnahmen zu thun hat, und
Gestalt und Geschick der jungen Schauspielerin haben neben dem Fremdartigen
genug des Rührender und Fesselnden, um poetisch berechtigt zu sein, in den
Gestalten des viel umhergewvrfnen und in schlimmen Feuern gehärteten alten
Hillmann und der greisen Signora Paoletti steckt ein gutes Stück Leben.
Was "Meister Amor" fehlt, ist nach unserm Empfinden eine kräftigere Er¬
hebung des Helden Rudolf Berger über den Typus des schwärmerischen und
leicht entzündlichen Studenten. Die psychologische Feinheit und die farben¬
reiche Mannichfaltigkeit sichern der Erzählung dauernden Wert, obschon die
tiefsten Wirkungen, deren Wilbrandt fähig ist, wo er sich und sein innerstes
Wesen ganz einsetzt, durch "Meister Amor" nicht erreicht werden.

Überhaupt weist die mittlere Periode des Dichters, die Zeit seiner Lei¬
tung des Wiener Burgtheaters, mehr als eine Schöpfung auf, bei der es
schwer wird, den Antrieb zu erkennen, der ihn zur Verkörperung dieses und


Adolf wilbrandt

Kopf stellen, um sich zu verjüngen. Meine Herren, die Poeten haben keine
Kenntnisse! Sie verstehen nichts von unserm Knochenbau, unsrer Muskulatur,
unserm Nervensystem, unsrer Gehirnanatomie, kurz von alledem, worauf unser
ganzes sogenanntes Seelenleben beruht! Und weil sie absolut nichts davon
verstehen, treiben sie den alten Phrasenschwindel weiter, singen von edeln
Herzen und unsterblichen Seelen und vornehmem Blut und Feuer in den
Adern und seelenvollem Blick und immer so fort von allem, was es nicht
giebt, und so ziehen sie der Menschheit immer wieder die Kinderschuhe an, und
wir von der Wissenschaft, die wir ihr die großen Wasserstiefel der Erkenntnis
machen, wir sollten das ruhig mit ansehen?" Max Stein geht bei seinem
Aposteltum nicht zu Grunde, sondern rettet sich, nach einem verunglückten
Versuch, die Bretter zu erklimmen, mit der schonen Frau, die er bei dieser
Gelegenheit erringt, ans das Eiland einer nahrhaften Buchdruckerei und will
künftig um den Ruhm mit wunderbaren, typographisch schönen Ausgaben
werben. Anders als Max und Toni, die von der Liebe ins bürgerliche Dasein,
ins behagliche Philistertum zurückgeführt werden, entwickeln sich Rudolf Berger
und Ada Hillmann, denen die Liebe die Tiefen der Poesie und Kunst erschließt.
Reiz und Anziehungskraft des Romans beruhen durchaus auf der Gestalt des
frühreifen Kindes, das zur großen Künstlerin gemacht werden soll, ehe ihre
Natur entwickelt ist. Es ist ein bitteres Ausnahmcschicksal, wie Ada um ihr
Kinderglück betrogen wird, wie sie den Irrtum ihres Vaters und Lehrers zu
büßen hat, es ist auch ein Ausimhmeglück, daß der Student, der sie liebt, sie
dem Tode entreißt, den sie, an der Zukunft verzweifelnd, selbst sucht, daß er
an der Liebe für sie zum Manne reift und sie in der Liebe für ihn nicht nur
„aus der Abnormität zur Natur zurückkehrt," sondern auch das Bewußtsein
ihres Talents zurückgewinnt.

Es bedarf keines Nachweises, daß die Dichtung, indem sie Menschen
schildert, nicht nur mit Regeln, sondern auch mit Ausnahmen zu thun hat, und
Gestalt und Geschick der jungen Schauspielerin haben neben dem Fremdartigen
genug des Rührender und Fesselnden, um poetisch berechtigt zu sein, in den
Gestalten des viel umhergewvrfnen und in schlimmen Feuern gehärteten alten
Hillmann und der greisen Signora Paoletti steckt ein gutes Stück Leben.
Was „Meister Amor" fehlt, ist nach unserm Empfinden eine kräftigere Er¬
hebung des Helden Rudolf Berger über den Typus des schwärmerischen und
leicht entzündlichen Studenten. Die psychologische Feinheit und die farben¬
reiche Mannichfaltigkeit sichern der Erzählung dauernden Wert, obschon die
tiefsten Wirkungen, deren Wilbrandt fähig ist, wo er sich und sein innerstes
Wesen ganz einsetzt, durch „Meister Amor" nicht erreicht werden.

Überhaupt weist die mittlere Periode des Dichters, die Zeit seiner Lei¬
tung des Wiener Burgtheaters, mehr als eine Schöpfung auf, bei der es
schwer wird, den Antrieb zu erkennen, der ihn zur Verkörperung dieses und


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[0139] Adolf wilbrandt Kopf stellen, um sich zu verjüngen. Meine Herren, die Poeten haben keine Kenntnisse! Sie verstehen nichts von unserm Knochenbau, unsrer Muskulatur, unserm Nervensystem, unsrer Gehirnanatomie, kurz von alledem, worauf unser ganzes sogenanntes Seelenleben beruht! Und weil sie absolut nichts davon verstehen, treiben sie den alten Phrasenschwindel weiter, singen von edeln Herzen und unsterblichen Seelen und vornehmem Blut und Feuer in den Adern und seelenvollem Blick und immer so fort von allem, was es nicht giebt, und so ziehen sie der Menschheit immer wieder die Kinderschuhe an, und wir von der Wissenschaft, die wir ihr die großen Wasserstiefel der Erkenntnis machen, wir sollten das ruhig mit ansehen?" Max Stein geht bei seinem Aposteltum nicht zu Grunde, sondern rettet sich, nach einem verunglückten Versuch, die Bretter zu erklimmen, mit der schonen Frau, die er bei dieser Gelegenheit erringt, ans das Eiland einer nahrhaften Buchdruckerei und will künftig um den Ruhm mit wunderbaren, typographisch schönen Ausgaben werben. Anders als Max und Toni, die von der Liebe ins bürgerliche Dasein, ins behagliche Philistertum zurückgeführt werden, entwickeln sich Rudolf Berger und Ada Hillmann, denen die Liebe die Tiefen der Poesie und Kunst erschließt. Reiz und Anziehungskraft des Romans beruhen durchaus auf der Gestalt des frühreifen Kindes, das zur großen Künstlerin gemacht werden soll, ehe ihre Natur entwickelt ist. Es ist ein bitteres Ausnahmcschicksal, wie Ada um ihr Kinderglück betrogen wird, wie sie den Irrtum ihres Vaters und Lehrers zu büßen hat, es ist auch ein Ausimhmeglück, daß der Student, der sie liebt, sie dem Tode entreißt, den sie, an der Zukunft verzweifelnd, selbst sucht, daß er an der Liebe für sie zum Manne reift und sie in der Liebe für ihn nicht nur „aus der Abnormität zur Natur zurückkehrt," sondern auch das Bewußtsein ihres Talents zurückgewinnt. Es bedarf keines Nachweises, daß die Dichtung, indem sie Menschen schildert, nicht nur mit Regeln, sondern auch mit Ausnahmen zu thun hat, und Gestalt und Geschick der jungen Schauspielerin haben neben dem Fremdartigen genug des Rührender und Fesselnden, um poetisch berechtigt zu sein, in den Gestalten des viel umhergewvrfnen und in schlimmen Feuern gehärteten alten Hillmann und der greisen Signora Paoletti steckt ein gutes Stück Leben. Was „Meister Amor" fehlt, ist nach unserm Empfinden eine kräftigere Er¬ hebung des Helden Rudolf Berger über den Typus des schwärmerischen und leicht entzündlichen Studenten. Die psychologische Feinheit und die farben¬ reiche Mannichfaltigkeit sichern der Erzählung dauernden Wert, obschon die tiefsten Wirkungen, deren Wilbrandt fähig ist, wo er sich und sein innerstes Wesen ganz einsetzt, durch „Meister Amor" nicht erreicht werden. Überhaupt weist die mittlere Periode des Dichters, die Zeit seiner Lei¬ tung des Wiener Burgtheaters, mehr als eine Schöpfung auf, bei der es schwer wird, den Antrieb zu erkennen, der ihn zur Verkörperung dieses und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/139>, abgerufen am 06.06.2024.