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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr.

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Adolf wilbrandt

Der dramatischen Dichtung folgte wieder eine Gruppe von Romanen:
"Hermann Jffinger" (1890), "Der Dornenweg" (1893), "Die Osterinsel" (1894)
und "Die Rothenburger" (1895). In "Hermann Jffinger" hat Wilbrandt
sichtlich einen Teil seiner Münchner Eindrücke und Erinnerungen gestaltet, das
Leben und Treiben der Künstler und das Schicksal der Menschen, die ein Drang
ihres Wesens in diese bunte Welt hineinführt, erscheint sinnvoll gespiegelt, eine
Gruppe origineller Gestalten fehlt nicht, Hermann Jffinger ist einer der mo¬
dernen Nachkömmlinge Wilhelm Meisters, und an dem Glück seiner zweiten
Ehe mit Christel würden wir noch lieber Anteil nehmen, wenn nicht das harte
Los der armen "Porzellciine," der ersten Frau Jfsiugers, wie ein dunkles
Fragezeichen in der ganzen Erfindung stünde. Der "Dornenweg" und die
"Rothenburger" siud zwei von den Episodenromanen, in denen der Dichter
ein Stück erlebten Daseins in seiner besondern Weise festhält. Seine Em¬
pfänglichkeit für alle Erscheinungen, seine nie ermattende Lust an der Menschen¬
schilderung läßt ihn nicht allzu ängstlich fragen, ob die Besonderheit, die ihn
gefesselt hat, auch andern als Besonderheit erscheinen und sie sympathisch be¬
rühren werde. Wirklich in die Region der Dichtung erhoben, wo eine zwingende
Gewalt der Erfindung und der Erscheinungen waltet, wo sich die Episode, der
Einzelvorgaug zum Weltbild erweitert und typische Bedeutung erhält, ist der
Roman "Die Osterinsel," das neueste Werk Wilbrandts, in dem sich wieder
bewahrheitet, daß die seitab von der litterarischen Heerstraße vor sich gehende
Entwicklung nachhaltig und mächtig genug ist, immer wieder auf das Leben
der Gegenwart einzuwirken. Einer der mächtigsten und bedrohlichsten Strö¬
mungen dieses Lebens hat der Dichter in der "Osterinsel" die stille Macht
seiner Lebenscmschciuuug entgegengesetzt und die tragischen Erscheinungen, denen
er gegenübertritt, doch auf ihren Ursprung, ihre elementare Notwendigkeit
zurückzuführen gewußt.

Der Titel des Romans weist weit aus unsern deutschen Verhältnissen in
die blaue Meeresferne der Südsee hinaus. Die Augen des Helden, des Doktor
Helmuth Adler, blicken gleichfalls über den Stillen Ozean hinüber, sehen das
östlicher als alle australischen Inseln gelegne Eiland, "ein paar deutsche Quadrat¬
meilen groß, vulkanisch und gebirgig, fruchtbar, ein mildes herrliches Klima,"
eine menschenleere Insel, geschaffen für die Idee eines welterneuernden Philo¬
sophen, dort eine Kolonie "neuer" Menschen zu gründen, Menschen, die sich
aus dem Affentum, dem Halbmenschentum mit ganzer Seele heraussehnen, die
"Göttermenschen" werden wollen. Dennoch bekommt keine der handelnden und
leidenden Personen die Osterinsel zu sehen, die Schicksale des Helden und seiner
nächsten Jünger verlaufen, abgesehen von einer kurzen erschütternden Episode
am Walchensee und einer Katastrophe in der Sozialdemokratenversammlung in
Gera, in einer norddeutschen Hafen-, Handels- und Universitätsstadt, worin
leicht des Dichters Vaterstadt Rostock zu erkennen ist. Die Heimaterinnerungeu


Adolf wilbrandt

Der dramatischen Dichtung folgte wieder eine Gruppe von Romanen:
„Hermann Jffinger" (1890), „Der Dornenweg" (1893), „Die Osterinsel" (1894)
und „Die Rothenburger" (1895). In „Hermann Jffinger" hat Wilbrandt
sichtlich einen Teil seiner Münchner Eindrücke und Erinnerungen gestaltet, das
Leben und Treiben der Künstler und das Schicksal der Menschen, die ein Drang
ihres Wesens in diese bunte Welt hineinführt, erscheint sinnvoll gespiegelt, eine
Gruppe origineller Gestalten fehlt nicht, Hermann Jffinger ist einer der mo¬
dernen Nachkömmlinge Wilhelm Meisters, und an dem Glück seiner zweiten
Ehe mit Christel würden wir noch lieber Anteil nehmen, wenn nicht das harte
Los der armen „Porzellciine," der ersten Frau Jfsiugers, wie ein dunkles
Fragezeichen in der ganzen Erfindung stünde. Der „Dornenweg" und die
„Rothenburger" siud zwei von den Episodenromanen, in denen der Dichter
ein Stück erlebten Daseins in seiner besondern Weise festhält. Seine Em¬
pfänglichkeit für alle Erscheinungen, seine nie ermattende Lust an der Menschen¬
schilderung läßt ihn nicht allzu ängstlich fragen, ob die Besonderheit, die ihn
gefesselt hat, auch andern als Besonderheit erscheinen und sie sympathisch be¬
rühren werde. Wirklich in die Region der Dichtung erhoben, wo eine zwingende
Gewalt der Erfindung und der Erscheinungen waltet, wo sich die Episode, der
Einzelvorgaug zum Weltbild erweitert und typische Bedeutung erhält, ist der
Roman „Die Osterinsel," das neueste Werk Wilbrandts, in dem sich wieder
bewahrheitet, daß die seitab von der litterarischen Heerstraße vor sich gehende
Entwicklung nachhaltig und mächtig genug ist, immer wieder auf das Leben
der Gegenwart einzuwirken. Einer der mächtigsten und bedrohlichsten Strö¬
mungen dieses Lebens hat der Dichter in der „Osterinsel" die stille Macht
seiner Lebenscmschciuuug entgegengesetzt und die tragischen Erscheinungen, denen
er gegenübertritt, doch auf ihren Ursprung, ihre elementare Notwendigkeit
zurückzuführen gewußt.

Der Titel des Romans weist weit aus unsern deutschen Verhältnissen in
die blaue Meeresferne der Südsee hinaus. Die Augen des Helden, des Doktor
Helmuth Adler, blicken gleichfalls über den Stillen Ozean hinüber, sehen das
östlicher als alle australischen Inseln gelegne Eiland, „ein paar deutsche Quadrat¬
meilen groß, vulkanisch und gebirgig, fruchtbar, ein mildes herrliches Klima,"
eine menschenleere Insel, geschaffen für die Idee eines welterneuernden Philo¬
sophen, dort eine Kolonie „neuer" Menschen zu gründen, Menschen, die sich
aus dem Affentum, dem Halbmenschentum mit ganzer Seele heraussehnen, die
„Göttermenschen" werden wollen. Dennoch bekommt keine der handelnden und
leidenden Personen die Osterinsel zu sehen, die Schicksale des Helden und seiner
nächsten Jünger verlaufen, abgesehen von einer kurzen erschütternden Episode
am Walchensee und einer Katastrophe in der Sozialdemokratenversammlung in
Gera, in einer norddeutschen Hafen-, Handels- und Universitätsstadt, worin
leicht des Dichters Vaterstadt Rostock zu erkennen ist. Die Heimaterinnerungeu


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[0146] Adolf wilbrandt Der dramatischen Dichtung folgte wieder eine Gruppe von Romanen: „Hermann Jffinger" (1890), „Der Dornenweg" (1893), „Die Osterinsel" (1894) und „Die Rothenburger" (1895). In „Hermann Jffinger" hat Wilbrandt sichtlich einen Teil seiner Münchner Eindrücke und Erinnerungen gestaltet, das Leben und Treiben der Künstler und das Schicksal der Menschen, die ein Drang ihres Wesens in diese bunte Welt hineinführt, erscheint sinnvoll gespiegelt, eine Gruppe origineller Gestalten fehlt nicht, Hermann Jffinger ist einer der mo¬ dernen Nachkömmlinge Wilhelm Meisters, und an dem Glück seiner zweiten Ehe mit Christel würden wir noch lieber Anteil nehmen, wenn nicht das harte Los der armen „Porzellciine," der ersten Frau Jfsiugers, wie ein dunkles Fragezeichen in der ganzen Erfindung stünde. Der „Dornenweg" und die „Rothenburger" siud zwei von den Episodenromanen, in denen der Dichter ein Stück erlebten Daseins in seiner besondern Weise festhält. Seine Em¬ pfänglichkeit für alle Erscheinungen, seine nie ermattende Lust an der Menschen¬ schilderung läßt ihn nicht allzu ängstlich fragen, ob die Besonderheit, die ihn gefesselt hat, auch andern als Besonderheit erscheinen und sie sympathisch be¬ rühren werde. Wirklich in die Region der Dichtung erhoben, wo eine zwingende Gewalt der Erfindung und der Erscheinungen waltet, wo sich die Episode, der Einzelvorgaug zum Weltbild erweitert und typische Bedeutung erhält, ist der Roman „Die Osterinsel," das neueste Werk Wilbrandts, in dem sich wieder bewahrheitet, daß die seitab von der litterarischen Heerstraße vor sich gehende Entwicklung nachhaltig und mächtig genug ist, immer wieder auf das Leben der Gegenwart einzuwirken. Einer der mächtigsten und bedrohlichsten Strö¬ mungen dieses Lebens hat der Dichter in der „Osterinsel" die stille Macht seiner Lebenscmschciuuug entgegengesetzt und die tragischen Erscheinungen, denen er gegenübertritt, doch auf ihren Ursprung, ihre elementare Notwendigkeit zurückzuführen gewußt. Der Titel des Romans weist weit aus unsern deutschen Verhältnissen in die blaue Meeresferne der Südsee hinaus. Die Augen des Helden, des Doktor Helmuth Adler, blicken gleichfalls über den Stillen Ozean hinüber, sehen das östlicher als alle australischen Inseln gelegne Eiland, „ein paar deutsche Quadrat¬ meilen groß, vulkanisch und gebirgig, fruchtbar, ein mildes herrliches Klima," eine menschenleere Insel, geschaffen für die Idee eines welterneuernden Philo¬ sophen, dort eine Kolonie „neuer" Menschen zu gründen, Menschen, die sich aus dem Affentum, dem Halbmenschentum mit ganzer Seele heraussehnen, die „Göttermenschen" werden wollen. Dennoch bekommt keine der handelnden und leidenden Personen die Osterinsel zu sehen, die Schicksale des Helden und seiner nächsten Jünger verlaufen, abgesehen von einer kurzen erschütternden Episode am Walchensee und einer Katastrophe in der Sozialdemokratenversammlung in Gera, in einer norddeutschen Hafen-, Handels- und Universitätsstadt, worin leicht des Dichters Vaterstadt Rostock zu erkennen ist. Die Heimaterinnerungeu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222303/146>, abgerufen am 23.05.2024.